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Rosa Luxemburg 19020507 Die Wahlergebnisse in Frankreich

Rosa Luxemburg: Die Wahlergebnisse in Frankreich

[Erschienen in der „Leipziger Volkszeitung" vom 7. Mai 1902. Nach Gesammelte Werke Band 3, 1925, S. 385-388]

Wenn irgend ein Land heute in krassen Formen den inneren Verfall und die politische Verkehrtheit des bürgerlichen Parlamentarismus zu zeigen vermag, so ist es das gegenwärtige Frankreich, und wenn ein Moment alle Symptome dieses Verfalls und dieser Verkehrtheit grell beleuchtet hat, so sind es die jüngsten französischen Parlamentswahlen.

Das Hauptinteresse, das die Wahlen zu den gesetzgebenden Körperschaften eines Landes für ernste Politiker und soziale Forscher, also vor allem für das klassenbewusste Proletariat haben, besteht offenbar darin, dass man an der Hand der Wahlergebnisse, der Zusammensetzung der gesetzgebenden Körperschaft einen Einblick in das innere politische Kräfteverhältnis des Landes zu gewinnen glaubt. Die Voraussetzung dabei ist, dass die parlamentarische Gruppierung der Volksvertreter der politischen Gruppierung der Volksschichten und diese der ökonomischen und sozialen Interessengliederung entspricht.

Aus dieser formalen Idee des Parlamentarismus entwickelt sich aber ein realer Inhalt, der sich seiner Idee gegenüber direkt auf den Kopf stellt und aus einem treuen Bilde zum verworrenen Zerrbild der sozialen und politischen Verhältnisse des Landes wird.

Liest man die Berichte über die Ergebnisse der letzten Wahlen in Frankreich, so klingen sie alle übereinstimmend in das doppelte Fazit aus: die Ministeriellen haben ihre Mehrheit aufrecht erhalten, die Nationalisten sind mit ihrem Ansturm abgeschlagen worden. Bürgerliche Berichterstatter und offiziöse Telegraphenbüros und das Ausland – alles jubelt über die Niederlage des französischen Nationalismus und über den Sieg der Regierungspartei.

Was steckt aber hinter diesen Hieroglyphen in Wirklichkeit?

Die Unterscheidung der Parlamentsgruppen nach „Ministeriellen" und „Anti-Ministeriellen" ist eine reine Blüte des parlamentarischen Regimes, die schon von vornherein die Frage von der Erhaltung eines jeweiligen Ministerkabinetts zur Zentralachse des politischen Lebens des Landes stempelt. Die an sich rationelle Idee, dass die Regierung stets das Werkzeug der Mehrheit der Volksvertretung sein muss, wird von dem bürgerlichen Parlamentarismus in der Praxis in ihr direktes Gegenteil, in die sklavische Abhängigkeit der Volksvertretung von dem Bestand der jeweiligen Regierung verkehrt. Die dreijährige Geschichte des Kabinetts Waldeck-Rousseau ist eine eklatante Probe dafür, und nie hat sich der Parlamentarismus selbst so ad absurdum geführt, als in jenem Stoßseufzer des ministeriellen Blattes „Lanterne", das im letzten Dezember aus Anlass der Abstimmungen über die Chinakredite verzweifelt ausrief, das einzige Mittel, den französischen Parlamentariern ihre politische Handlungsfreiheit und ein unabhängiges Urteil wiederzugeben, sei – die Abschaffung des fatalen Vertrauensvotums, d. h. des Ecksteins des parlamentarischen Regimes!

Die Losung: hie Ministerielle – hie Anti-Ministerielle wird heute mit einer anderen, mehr allgemein-politischen Losung identifiziert: hie Republikaner – hie Nationalisten! Ganz Frankreich scheint gegenwärtig in zwei große Lager gespalten zu sein, zwischen denen ein Krieg auf Tod und Leben wütet, deren jedes dem anderen die gemeingefährlichsten Absichten in Bezug auf die Schicksale Frankreichs unterschiebt. Hört man den alten Rochefort, oder den Jules Lemaitre oder Meline, so treiben die Regierungsparteien Frankreichs geradewegs dem nationalen Verfall und einer furchtbaren militärischen Niederlage in die Arme. Hört man den Waldeck-Rousseau, oder Bourgeois oder Jaurès, so lauern die „Nationalisten" nur auf den Augenblick, um die Republik zu erdrosseln und die reaktionäre Monarchie wiederherzustellen.

Was für Interessen stellen aber tatsächlich die beiden Kampflager dar? Woher rührt ihre Spaltung? Etwa von Fragen der Republik und Monarchie? Aber unter denen, die man zu Nationalisten zusammenwirft, befinden sich neben monarchistischen Gruppen auch ausgesprochen republikanische, wie die Gruppe Melines. Fragen der Armee? Aber hier herrscht zwischen Regierung und den Nationalisten, den Lasies, den Humbert, den Montebello, die größte Harmonie; sie fanden sich zusammen sowohl in der Beglückwünschung der Chinatruppen, wie in der Verschleppung des Gesetzes über die zweijährige Dienstzeit, wie in verschiedenen Ehrenbezeugungen an die kompromittierten Generalstäbler. Fragen des Klerikalismus? Aber hier bekam die republikanische Regierung im entscheidenden Moment, bei dem Votum der Entschädigungskredite für katholische Missionen in China, das Vertrauensvotum der enragiertesten Nationalisten. Auswärtige Politik? Aber hier erwarben sich die regierenden Radikalen durch den Empfang des Zaren, durch die türkische Expedition, durch die China-Expedition die Zustimmung „Patrioten". Zollpolitik? Aber die „republikanische“ Regierung Waldeck-Rousseau setzt nur die Politik des Hochschutzzöllners Meline ohne die geringste Änderung fort. Sozialpolitik? Aber die Niedermetzelung Streikender, die Nasführung der Kohlengräber, die Behandlung der Arbeiter in den Staaatsbetrieben (Zündholzfabriken), erinnern vollkommen an die Zeiten Dupuys oder Melines, und die neuesten Arbeiterschutzgesetze und Vorlagen stehen in ihrer Stümperhaftigkeit den Reformen der opportunistischen Ministerien würdig zur Seite!

Nicht als ob die beiden Lager, die „Republikaner" und die „Nationalisten" politisch identisch wären! Umgekehrt, sie sind beide, jedes für sich, ein Konglomerat (Gemenge) verschiedenartigster sozialer und politischer Gruppen; von der reaktionärsten Großbourgeoisie bis zu kleinbürgerlich-proletarischen Elementen herab. Was aber den beiden Lagern gemeinsam, was gerade das ausschlaggebende Moment für beide ist, das ist ihre Vereinigung nicht auf dem Boden irgendwelcher realen ökonomischen oder politischen Interessen, nicht auf Grund sozialer Klassen- und Gruppengliederung, sondern auf dem Boden vager, verschwommener Schlagworte, quer durch die soziale Klassengliederung hindurch.

Eine solche Durcheinanderwürfelung der Interessengruppen ist in Frankreich das eigenartige Produkt der Überwucherung einzelner bürgerlicher Gruppeninteressen auf dem fruchtbaren Boden der dritten Republik, zugleich Ursache und Wirkung der seit zirka 20 Jahren periodisch wiederkehrenden Krisen, wie die Panama-Affäre, die Südbahn-Affäre, der Boulangismus. Die letzte dieser Krisen, die Dreyfus-Affäre, hat das Schlagwort vom Nationalismus und der republikanischen Verteidigung auf den Schild erhoben. Insofern ist die Spaltung ganz Frankreichs nach so verschwommenen Augenblicksschlagworten eine wohlverständliche Erscheinung.

Aber zum ersten Mal, und dies ist das besondere Signum der jetzigen Wahlen in Frankreich, hat ein großer Teil der Sozialisten in ihrem politischen Berufe vollkommen versagt. Es ist klar, dass es für die bürgerlichen Klasseninteressen am vorteilhaftesten ist, wenn es der Bourgeoisie gelingt, ihre internen Gruppenstreitigkeiten auch dem Proletariat als Kampfparolen, ihre inneren Spaltungen auch der Arbeiterschaft als Gliederungsachsen zu oktroyieren. Ebenso klar ist es, dass es die vornehmste Aufgabe des Sozialismus ist, stets umgekehrt, den bürgerlichen Gruppenspaltungen gegenüber den grundsätzlichen Klassengegensatz, den äußeren politischen Augenblicksparolen gegenüber die ständigen sozialen Klassenforderungen hervorzukehren.

Darauf war die fünfundzwanzigjährige Arbeit der französischen Sozialdemokratie, der Guesde, Vaillant u. a. gerichtet und ihr verdankte man die überraschenden Erfolge bei den Wahlen 1898, wo Frankreich zirka 800.000 sozialistische Stimmen an Stelle der zirka 400.000 im Jahre 1893 aufzuweisen hatte.

Diesmal, seit Jaurès und seine ganze Gruppe in der Dreyfus-Affäre im bürgerlichen Lager der „Republikaner" aufgegangen sind, seit besonders die Ministerschaft Millerands zur republikanischen Sammlung der ministeriellen Sozialisten mit bürgerlichen Parteien aller Schattierungen geführt hat, ist das Werk des Sozialismus zum großen Teil rückgängig gemacht. Nicht nur wurde von den ministeriellen Sozialisten an den bürgerlichen Republikanern gar keine Kritik geübt, sie machten im Gegenteil den ganzen bürgerlichen Schwindel während der Wahlen eifrigst mit. Nicht von ökonomischen oder sozialen Fragen, nicht von Zoll-, Steuer-, Sozialpolitik, nicht von Klassengegensätzen war hier die Rede: „Republikaner" und „Nationalisten" – das war die einzige Unterscheidung, auf die die „Sozialisten" die Arbeiterklasse hinzuweisen wussten. Gemeinsame Kandidaten, gegenseitige Empfehlungen, die brüderlichste Verschmelzung zwischen bürgerlichen Parteien und Sozialisten, – das war das Bild der Jaurèsistischen Wahlkampagne!

Demgegenüber führte als Klassenvertretung des Proletariats die Sozialistisch-revolutionäre Einigkeit (Guesde-Vaillant) den Wahlkampf gegen die ganze bürgerliche Welt mitsamt dem ministeriellen Sozialismus ganz allein. Und die zirka 350.000 Stimmen, die sie auf ihre Kandidaten gesammelt hat, sind das einzige unzweifelhafte Ergebnis des sozialistischen Bewusstseins in Frankreich. Was sich in den zirka 500.000 Stimmen der ministeriellen Sozialisten als „sozialistisch" bezeichnet, ist sowohl der Zusammensetzung wie der Qualität nach ebenso bunt wie das ganze „republikanische" Lager, über dessen Siege der Telegraph nach allen Weltgegenden die Freudenbotschaft schickte.

Für die internationale Sozialdemokratie bieten die französischen Wahlen einen Beweis mehr für den tiefen politischen Verfall des regierungsfähigen, opportunistischen Sozialismus, und zugleich die ermunternde Sicherheit, dass trotz all der erschreckend korrumpierenden Wirkung der ministerialistischen Experimente in Frankreich doch noch die stattliche Zahl von über 350.000 klassenbewussten Proletariern das Banner des Sozialismus in Frankreich hochhält.

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