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Rosa Luxemburg 19010220 Intermezzo

Rosa Luxemburg: Intermezzo

[Die Neue Zeit (Stuttgart), 19. Jg. 1900/01, Erster Band, S. 666/667. Nach Gesammelte Werke Band 1/2, 1970, S. 74-76]

Als wir vor einigen Wochen an dieser Stelle die interessanten Mitteilungen Vollmars, betreffend den Eintritt Millerands ins Ministerium und die Ansichten der internationalen Sozialdemokratie darüber, mit dokumentarischen Gegenbeweisen konfrontierten1, – da sagte uns bereits ein dunkles Vorgefühl: Sicher wird sich wieder irgendein fatales „Missverständnis" herausstellen.

Und richtig – das Missverständnis ist da! Es bezieht sich vorerst auf die Behauptung, die Vollmar in seinem Artikel in den „Sozialistischen Monatsheften" (Dezemberheft 1900) aufgestellt hat und wonach auch der italienische Parteiführer Ferri seit dem Pariser Internationalen Kongress2 seine Meinung in Bezug auf die Frage der sozialistischen Ministerschaft geändert haben sollte. Ferri hat diese Behauptung in einem Briefe, den wir hier (Neue Zeit, Nr. 16) zum Abdruck gebracht haben, sowie in einem Briefe an das Pariser „Mouvement Socialiste" in aller Form dementiert. Nun erfahren wir aus einer Zuschrift Vollmars an das „Mouvement Socialiste", wie er eigentlich dazu gekommen wäre, Ferri den plötzlichen Frontwechsel zuzuschreiben.

Das ganze Missverständnis hat, wie es sich herausstellt, der römische Korrespondent des „Vorwärts" verschuldet. Im „Vorwärts" vom 17. Oktober stand nämlich, wie uns Vollmar jetzt erzählt, ausdrücklich geschrieben, Ferri habe in einer Versammlung in Mantua gesagt: Wenn man eine wirkliche Politik der Reformen wolle, dann sollte das Experiment gänzlich und aufrichtig von allen unternommen werden: Man rufe dann ans Ruder Parteien, deren Programm eine Politik der Reformen will, man gehe bis zu den Radikalen der äußersten LinkenA

Diese Stelle hat es Vollmar angetan. Sobald er sie gelesen hatte, konnte er nicht umhin, in den „Sozialistischen Monatsheften" (Dezemberheft, S. 769) zu schreiben, Ferri habe die italienische Regierung aufgefordert, dass sie, wenn sie ehrliche Reformen wolle, „die Volksparteien bis zur Sozialdemokratie [Hervorhebung – R. L.] ans Ruder rufen möge"3. Ferri, der auf dem Internationalen Kongress zu Paris für die prinzipielle Verurteilung der sozialistischen Ministerschaft, für die Resolution Guesde, eintrat, erschien auf diese Weise wenige Wochen später als Anhänger der sozialistischen Ministerschaft, der der italienischen Regierung die Dienste seiner Partei anbot.

Ein so erstaunlich rascher Frontwechsel vom äußersten Radikalismus zur staatsmännischen Mäßigung ist freilich schon erlebt worden, so zum Beispiel auch in unserer Partei um die Wende des Sozialistengesetzes. Aber erstens ist es nicht jedermanns Sache, so schnell zu mausern, und zweitens musste Vollmar als vorsichtiger Mann doppelt umsichtig sein, um einen verdienten Genossen durch eine solche Zumutung nicht zu kränken.

Dieses war aber im gegebenen Falle äußerst leicht zu vermeiden! Vollmar brauchte nur aus dem Bericht des „Vorwärts", aus dem er schöpfte, die Worte „Radikale der äußersten Linken" nicht durch das Wort „Sozialdemokratie" zu ersetzen, das heißt den Sinn der Ferrischen Äußerung nur nicht in sein Gegenteil zu verkehren, und das fatale „Missverständnis" wäre nie zustande gekommen!

Wie konnte dem vorsichtigen Manne so etwas passieren? Hier die Erklärung: „Wir in Deutschland", erzählt Vollmar dem französischen Publikum, „sind gewöhnt, unter der äußersten Linken nur die Sozialdemokratie zu verstehen."B

Nun, wir sehen uns gezwungen, diese den französischen Lesern anvertraute Erklärung erst recht für ein „Missverständnis" zu erklären. Wir in Deutschland haben durchaus noch nicht die schlechte Gewohnheit, die „Radikalen der äußersten Linken" – denn um diese handelte es sich –, das heißt bürgerliche Demokraten und Reformler, mit der Sozialdemokratie zu verwechseln. Vielleicht pflegt man dies in Bayern zu tun, wo bekanntlich nach Vollmar „ganz besondere Verhältnisse" herrschen. Aber diese sind ja für Deutschland bis jetzt nicht maßgebend gewesen. Und wenn Vollmar wieder zum Opfer eines „Missverständnisses" geworden ist, so hat er es diesmal jedenfalls selbst durch ein journalistisches Verfahren verschuldet, das in Deutschland und wohl auch in Bayern mit gleichem Namen bezeichnet wird.

Hoffentlich wird sich Vollmar, nachdem er die angeführte Antwort über den Fall Ferri gegeben, auch zu dem viel wichtigeren Fall Vaillant noch äußern, das heißt zu der Frage, ob Millerand mit oder ohne Ermächtigung der französischen Sozialisten in die Regierung eingetreten ist. In der gleichen Nummer des „Mouvement Socialiste" leitet Ed. Vaillant, dessen dementierenden Brief wir an dieser Stelle veröffentlicht haben4, den Abdruck derselben Erklärungen mit folgenden Äußerungen über den Vollmarschen Artikel ein: „Mit Staunen lese ich dort, was er (Vollmar) von mir und der Haltung der sozialistischen Kammerfraktion sagt. Ich hielt es nicht für möglich, dass solche Erfindungen, die nicht bloß der Wahrheit, sondern dem gesunden Menschenverstand und sicheren, bekannten Tatsachen widersprechen, könnten ersonnen werden. Die Worte, die mir zugeschrieben werden, sind ebenso viel Fälschungen (faux). Aber ich diskutiere nicht über solche Behauptungen, ich begnüge mich damit, ihnen ein formelles Dementi entgegenzustellen." Und er schließt: „Dieses zusammen mit mir zu erklären ermächtigen mich die Genossen: Allard, Breton, Benezech, Chauvière, Coutant, Dejeante, Dufour, Groussier, Letang, Sembat, Walter, Zevaes." Alles sozialistische Abgeordnete.

Vollmar wird wahrscheinlich bald über die wichtigste Angelegenheit, der er in seinem Artikel so viel Raum gewidmet hat, auch seinerseits weitere Eröffnungen machen. Wir erwarten sie mit Spannung. Aber wohlgemerkt, Genosse Vollmar, „Missverständnisse" werden nicht mehr in Zahlung genommen!

  1. 2 Der Internationale Sozialistenkongress fand vom 23. bis 27. September 1900 in Paris statt.

A Mouvement Socialiste, Nr. 52, S. 209.

3 Georg von Vollmar: Zum Fall Millerand. In: Sozialistische Monatshefte (Berlin), 4. Jg. 1900, S. 769.

B l. c.

4 Siehe S. 7/8.

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