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Rosa Luxemburg 19010606 Nach dem Kongress

Rosa Luxemburg: Nach dem Kongress

[Erschienen in der „Neuen Zeit", Jahrg. 1900/01, Band 2. Nach Gesammelte Werke Band 3, 1925, S. 357-365]

Der französische Einigungskongress in Lyon hat, wie wir vorausgesehen haben, mit einer Spaltung geendet. Dass der grundsätzliche Gegensatz in der Auffassung des sozialistischen Kampfes das Gelingen des Einigungsversuchs äußerst zweifelhaft erscheinen ließ, war für niemand ein Geheimnis, der die Vorgänge in der französischen Bewegung in der letzten Zeit aufmerksam verfolgt hat. Als einen vorteilhaften Umstand muss man es aber begrüßen, dass die Spaltung diesmal, im Unterschied zu der auf dem vorjährigen Kongress im Saale Wagram, auf einem Boden erfolgte, der auch äußerlich die innere Quelle des Zwiespaltes und seinen grundsätzlichen Charakter deutlich zum Ausdruck gebracht hat.

Als die Sozialistisch-revolutionäre Partei (sogenannte Blanquisten) sich anschickte, nach Lyon zu gehen, gab sie die formelle Erklärung ab, keinesfalls auf dem Kongress einen Antrag auf Ausschluss Millerands aus der Partei oder eine Aufforderung an ihn zur Niederlegung des Portefeuilles einbringen zu wollen. Noch mehr. Vaillant selbst schrieb im „Petit Sou" am 17. Mai: „Der Kongress ist bloß zur Behandlung der Organisation und Konstituierung der Partei zusammenberufen, und er muss sich auf diese Tagesordnung beschränken".

Es ist somit klar, dass die Blanquisten ihrerseits nicht im geringsten einen „Spaltungsvorwand" suchten, wie ihnen nachträglich Jaurès vorwarf, dass sie nach Lyon gingen ohne jede Absicht, die Millerand-Frage im engeren Sinne auszuspielen, vielmehr lediglich mit dem aufrichtigen Wunsche, wenn auch geringer Hoffnung, eine Verständigung auf dem Boden allgemeiner Fragen der Organisation und der Taktik zu versuchen. Dasselbe bestätigt die offizielle Erklärung Gautiers im Namen der Sozialistisch-revolutionären Partei am ersten Verhandlungstag in Lyon. Und es ist sehr wichtig, hervorzuheben, dass es eine Reihe von Delegierten aus dem eigenen Lager Jaurès waren, die gleich zu Beginn des Kongresses eine Resolution betreffend den Fall Millerand eingebracht und somit die Linke wie die Rechte des Kongresses gleichermaßen vor einen Rubikon gestellt hatten. War die Ministerfrage einmal ohne ihr Zutun aufgerollt, dann mussten Vaillant und Genossen selbstverständlich Stellung dazu nehmen und aus dem Votum der Majorität des Kongresses die Konsequenzen ziehen.

Man muss der von de la Porte, Lagardelle, Briand und Genossen im Namen mehrerer Föderationen eingebrachten Resolution zugestehen, dass sie außerordentlich geschickt gefasst war. Sie lautete:

In Erwägung, dass die wesentliche Aufgabe des Kongresses darin besteht, die gegenwärtig der Vereinheitlichung der revolutionären Kräfte Frankreichs entgegenstehenden Hindernisse zu beseitigen; dass die Ministerschaft eines Abgeordneten, der einst der sozialistischen Kammerfraktion angehörte, eine die innerparteilichen Streitigkeiten begünstigende Zweideutigkeit schafft; dass die Frage der Beteiligung an der Regierung zwar für die Vergangenheit und die Zukunft, nicht aber für die Gegenwart gelöst wurde – erklärt der Kongress ein- für allemal, dass Millerand, der sich außerhalb der Partei gestellt hat, indem er auf seine persönliche Verantwortlichkeit und Initiative ins Ministerium eintrat, niemals den Sozialismus engagieren konnte, den er nicht vertritt. Der Kongress erklärt ferner, dass die Haltung der Partei gegenüber dem gegenwärtigen Ministerium dieselbe sein muss wie jedem Bourgeoisministerium gegenüber."

Hier ist einerseits weder eine Aufforderung an Millerand zur Amtsniederlegung, noch sein formeller Ausschluss aus der Partei ausgesprochen. Es ist eine einfache Formulierung der Tatsache, dass Millerand sich selbst durch den Eintritt ins Ministerium außerhalb der Partei gestellt hat. Ohne sich also persönlich scharf gegen Millerand zu wenden, ihn zu verdammen oder zu maßregeln, was aussichtslose Auseinandersetzungen und Komplikationen heraufbeschworen hätte, lehnt die Resolution jede Verantwortlichkeit der Partei für die Handlungsweise Millerands ab.

Andererseits beschränkt sie sich ausschließlich auf den Fall Millerand, ohne prinzipiell die Beteiligung von Sozialisten an der Regierung durch ein allgemeines Verbot zu regeln, wodurch den Anhängern Jaurès' die Verschanzung hinter die Resolution Kautsky und das Vorschützen allgemeiner prinzipieller Bedenken unmöglich gemacht würde. Zugleich wird aber die Ministerfrage für den gegebenen Fall in präzisester Weise gelöst, indem ein Sozialist, der in die Regierung eingetreten ist, als eo ipso aus der Partei ausgeschieden hingestellt wird. Mit einem Worte: die Resolution spricht in der Ministerfrage das knappe Minimum aus, das jedoch den Knoten der Frage glatt mitten durchhaut.

Die Resolution de la Porte bot somit in unerwarteter Weise eine vollkommen befriedigende Erledigung der ersten Schwierigkeit der Einigung. Wäre sie vom Kongress akzeptiert worden, so verschwanden dadurch freilich noch nicht all die tiefliegenden Gegensätze in der Auffassung von der sozialistischen Taktik leicht in den weiteren Auseinandersetzungen zum Ausbruch langen konnten. Die Millerand-Frage jedoch wäre vollkommen beiseite geschoben gewesen. Der sozialistische Minister" hätte jedenfalls für die Partei zu existieren aufgehört Aber gerade darin lag das Gefährliche der Resolution de Ia Porte vom Standpunkt der Anhänger Millerands um jeden Preis, und Jaurès zeichnete sich seit jeher durch ein wunderbares Talent aus, ihm gefährliche Absichten aufzudecken, wie augenblicklich zu durchkreuzen. Eine Kommissionsberatung „zur reiflichen Überlegung" und Vermeidung von „Überraschungen" in einer Frage, die seit drei Jahren tagtäglich diskutiert wird, bot die Gelegenheit, alle Unterzeichner der Resolution mit Ausnahme de la Portes selbst zum Umfall und zur Preisgebung ihres Antrags zu bringen und der Resolution im Handumdrehen den Giftzahn auszuziehen. Briand änderte nur zwei Worte in dem ursprünglichen Texte: statt „außerhalb der Partei" habe sich Millerand „außerhalb der Kontrolle der Partei" gestellt, aber durch diese kleine Änderung wurde die Resolution de la Porte in ihr Gegenteil verkehrt.

Vor allem wenn Jaurès und seine kritiklosen Nachbeter darauf hinweisen, dass die Resolution Briands Millerand „außerhalb der Parteikontrolle" stellt und die Partei für sein Tun gar nicht verantwortlich erklärt, so ist das nur darauf berechnet, der Resolution aus Rücksicht auf die in Lyon stark vertretenen „antiministeriellen" Elemente den Anschein einer Konzession an sie zu geben. Tatsächlich wurde hier nur wiederholt, was Jaurès selbst unzählige Male schrieb, ja was noch das „Comité d'entente" (Verständigungsausschuss) vom Jahre 1899 offiziell erklärt hatte. Eine neue Erklärung gegen Millerand war also damit nicht im Geringsten gegeben.

Was die Resolution de la Porte Neues enthielt, war gerade, dass sie aus jener Tatsache die Konsequenz zog und zum ersten Male erklärte, Millerand sei, weil er außerhalb der Kontrolle der Partei stehe, auch „außerhalb der Partei". Infolge der Änderung dieser Worte erklärte die Resolution Briand nunmehr: Millerand ist und bleibt Mitglied der sozialistischen Partei, trotzdem er außerhalb ihrer Kontrolle steht.

Es lag und liegt selbstverständlich im Interesse der Jaurèsschen Richtung, aller Welt einzureden, die Resolution Briand sei gleichfalls eine Kundgebung gegen den sozialistischen Minister, die sich nur durch das Fehlen einer persönlichen Spitze von derjenigen de la Portes unterscheide. Aber diese Auslegung versagt sogar im eigenen Lager Jaurès' ihre Wirkung, indem einer seiner wärmsten Anhänger, de Pressense, das Elaborat Briands als eine „vage, schlappe, farblose, rückgratlose Resolution" bezeichnet, die „absichtlich so abgefasst zu sein scheint, um durch ihre Maschen den Handelsminister durchschlüpfen zu lassen".

Die auf diese Weise „revidierte" Resolution war offenbar die stärkste Herausforderung der Gegner Millerands. Man mutete ihnen zu, zu erklären, dass ein Sozialist auf eigene Faust einen beliebigen Regierungsposten übernehmen und somit seiner Partei in rücksichtslosester Weise den Rücken kehren darf, ohne dadurch jedoch im geringsten die Zugehörigkeit zur Partei einzubüßen. Ja, um Millerand der sozialistischen Bewegung zu erhalten, mutete man dem Kongress zu, einen schreienden Unsinn auszusprechen. „Wie kann jemand zur Partei gehören, der außerhalb der Kontrolle der Partei steht?" frug immer wieder de la Porte. Und Jaurès-Briand wussten darauf nur verlegen zu stammeln, dass „abnorme Verhältnisse abnorme Resolutionen bedingen". Die Antwort bezeichnet jedoch treffend den Kern der Sache: durch die widersinnige Resolution sollte die politische Abnormität der sozialistischen Ministerschaft sanktioniert werden. In der Tat bedeutete die Resolution Jaurès-Briand eine bedeutende Verschlimmerung der Lage vom Standpunkt der Gegner Millerands aus. Bisher galt es immerhin nur als Privatmeinung, wenn auch stark vertreten in den sozialistischen Reihen, dass man sehr wohl Sozialist, Parteimitglied und nach eigenem Gutdünken Mitglied der bürgerlichen Zentralregierung zu gleicher Zeit sein könne. Nun sollte diese Auffassung durch einen Kongressbeschluss zur offiziellen Parteiansicht erhoben und somit sollten auf einem Umweg der Beschuss des französischen Kongresses von 1899 und die Resolution Kautsky annulliert werden. Bisher war die exzeptionelle Stellung Millerands durch ihn selbst, ohne Zutun der Partei geschaffen, nun sollte sie durch die Partei besiegelt werden, dadurch, dass man für Millerand extra eine neue Kategorie von Genossen schuf, die zwar „innerhalb der Partei", aber „außerhalb der Kontrolle der Partei" stehen, gewissermaßen „Sozialisten auf Urlaub" im Dienste der bürgerlichen Regierung, wie Vaillant sich geistreich ausdrückte.

Fassen wir kurz zusammen. Aus einer Konzession an die Gegner Millerands wurde die Resolution zu einer Konzession an die Anhänger Millerands, und die Blanquisten, die nach Lyon mit dem Entschluss kamen, ihrerseits die Millerandfrage gar nicht aufzurollen, wurden plötzlich vor das Ultimatum gestellt, sich in dieser Frage auch noch einen ministerfreundlichen Beschluss des Kongresses gefallen zu lassen. Es war klar, dass eine solche Zumutung die Spaltung nach sich ziehen musste.

Zwar wusste niemand für die Notwendigkeit der sozialistischen Einheit und aller Opfer um dieser Einigkeit willen überzeugender zu plädieren, als Jaurès während der letzten drei Jahre. Aber er meinte offenbar nur die Opfer seitens seiner Widersacher; Millerand durfte darunter jedenfalls nicht zählen. Um den „sozialistischen Minister" der Partei zu erhalten, wurde lieber die zum Opfer gebracht, und so hat die „sozialistische Ministerschaft ihre zersetzende Wirkung, die sie seit drei Jahren auf den Sozialismus in Frankreich ausübt, auch noch durch die Spaltung in Lyon gekrönt.

*

Der Lyoner Kongress hat eine wichtige Neugruppierung der sozialistischen Kräfte in Frankreich herbeigeführt. Sein erstes Ergebnis, das wir von allen Standpunkten freudig begrüßen müssen, ist die Vereinigung aller um Jaurès gruppierten Elemente zu einer Partei.

Wenn freilich Jaurès nach dem Auszug der Blanquisten mit seinen Freunden auf dem Kongress erklärte, „das sozialistische Frankreich sei nicht vermindert worden durch den Fortgang einer Sekte", ebenso wie das unter seiner Mitwirkung verfasste Manifest der jungen geeinigten Partei im Namen des ganzen sozialistischen Frankreichs spricht, so ist das lediglich damit zu erklären, dass Jaurès – allerdings zum ersten Male – das Maß und Gleichgewicht verloren hat, was bei einem Politiker seines Stils stets ein schlimmes Zeichen ist. „Die Sekte", die den Lyoner Kongress verlassen hat, bildet zusammen mit der dem Kongress ferngebliebenen Arbeiterpartei die Kerntruppe des französischen Sozialismus, die vorzüglichsten, geschulten, organisierten und im jahrzehntelangen Kampfe erprobten Kräfte. Was dagegen in Lyon geblieben ist, stellt vor allem ein sehr buntes Sammelsurium dar: neben ehrlichen und überzeugten, aber jungen und unerfahrenen Akademikern finden wir da „sozialistische" Organisationen in der Art jener in Lyon vertretenen Marseiller Gruppe, die zu ihren Mitgliedern – den Opportunisten und ehemaligen Minister des Dupuyschen Kabinetts, Peytral, zählt; neben halbanarchistischen Gewerkschaftlern, die gegen alle „Politiker" wettern, sozialistelnde Radikale, denen die Politik und namentlich der Parlamentarismus alles ist, neben ausgesprochenen Gegnern der sozialistischen Ministerschaft, wie die Allemanisten, glühende Anhänger des Regierungssozialismus, die von ihm alles Heil erwarten.

Aber gerade die Buntscheckigkeit der in Lyon gebliebenen Elemente, deren Vereinigung mit den alten sozialistischen Parteien für heute eine Unmöglichkeit war, lässt ihre vorläufige Verbindung untereinander zu einer Partei als einen großen Fortschritt erscheinen, der für die weitere Entwicklung zur vollkommenen sozialistischen Einigkeit in Frankreich mannigfach eine Vorstufe bildet. In welcher Weise diese Entwicklung von der in Lyon organisierten Partei fortab durchgemacht wird, das hängt wesentlich von dem Verhalten der übrigen sozialistischen Gruppen ab.

Nachdem die Parteien von Guesde-Lafargue wie von Vaillant und seinen Freunden sich von der Jaurèsschen Richtung endgültig getrennt haben, steht die Vereinigung ihrerseits zu einer Partei auf der Tagesordnung. Hindernisse für diese Vereinigung bestehen nun keine mehr. War die Verschmelzung mit Elementen, die auf einem ganz anderen Boden standen, unmöglich, so ist sie unter Organisationen, die ihre Übereinstimmung in allen Grundfragen des Prinzips und der Taktik bereits durch eine zweijährige gemeinsame Aktion bewiesen haben, etwas Selbstverständliches. Ja, diese Einigung ist bereits so weit vorbereitet, dass es nur eines letzten Aktes bedarf, um sie zu vollenden. Seit Monaten ist nämlich von den genannten Gruppen ein gemeinsames Einigungsprojekt in allen Details ausgearbeitet worden, das, unter vorläufiger Aufrechterhaltung der bestehenden Parteiorganisationen, zugleich ihre Verschmelzung zu einer Partei auf den Grundlagen departementaler Föderation, eines gemeinsamen Generalkomitees und jährlicher Parteikongresse vorsieht. Dieses Projekt ist von der Französischen Arbeiterpartei einem Referendum ihrer Gruppen in ganz Frankreich unterzogen und bereits von zahlreichen Sektionen mit großer Begeisterung akzeptiert worden. Einstimmig wurde es angenommen durch die Fédération Centrale der Französischen Arbeiterpartei noch am 24. Februar, durch die Fédération de la Drôme am 17. Februar. Dieselbe Aufnahme hat der Einigungsplan bei den Anhängern und Alliierten der Sozialistisch-revolutionären Partei gefunden.

Zum Überfluss erklärte der Nationalrat der Französischen Arbeiterpartei am 24. März d. J. in Ivry in einem Manifest, worin die Gründe der Nichtbeschickung des Kongresses in Lyon seitens der genannten Partei dargelegt wurden:

Mit allen denen, woher sie auch kämen, die sich über diese dreifache organische Notwendigkeit (Grundzüge des oben erwähnten Einigungsprojektes) klar sind, ist die Einigung nicht nur möglich, sondern sie ist, was uns betrifft, schon gemacht, in dem Sinne, dass sie vermittelst einer außerordentlichen Konferenz, das heißt einer Verständigung der Delegierten von den betreffenden Organisationen jederzeit von heute ab endgültig sanktioniert oder registriert werden kann…"

Es ist klar nach alledem, dass es nunmehr bloß der Einwilligung jener „außerordentlichen Konferenz" der Guesdistischen und Blanquistischen Partei, wie der Gruppen, die mit ihnen dem Kongress in Lyon den Rücken gekehrt haben, bedarf, um die Einigung zu verwirklichen.

Der Nationalrat der Französischen Arbeiterpartei erklärt zwar in seiner letzten Sitzung (vom 31. Mai) einstimmig, dass er „in Erwartung und zur Vorbereitung der sozialistischen Einigkeit, die das Ziel der Bestrebungen der Französischen Arbeiterpartei nach wie vor ist, bereit sei, sich in einem Verständigungskomitee (Comité d'entente) vertreten zu lassen, das nach den zu bestimmenden Regeln alle Gruppen umfassen würde, die auf dem Boden des Klassenkampfes ohne alle Kompromisse mit der Bourgeoisie stehen".

Wir glauben jedoch nicht, in dieser Bereitwilligkeit zur Teilnahme an einem erst zu schaffenden losen „Verständigungskomitee“ alle Schritte der Französischen Arbeiterpartei zur Einigung erblicken zu müssen. Es wäre dies sonst nicht nur eine Außerkraftsetzung des bereits ausgearbeiteten Einigungsprojektes, wie der mehrfach abgegebenen Erklärungen der Französischen Arbeiterpartei, sondern auch eine Zurückführung der Einigungsfrage auf ein Stadium, das bereits vor zwei Jahren als überholt anerkannt wurde. Was sich für die alten Parteien als der einzig verständliche Weg zur Einigung nach allem, was geschehen und gesagt worden ist, heute ergibt, ist die erwähnte „außerordentliche Konferenz" und die unverzügliche Verwirklichung des eigenen Einigungsentwurfs.1

Letzterer ist aber auch eine dringende Notwendigkeit. Solange nämlich die sozialistischen Kräfte „alter Schule" zersplittert bleiben, hat die in Lyon zur Partei organisierte Richtung ihnen gegenüber, trotz all der inneren Zerfahrenheit, ein gewisses Übergewicht dadurch schon, dass sie geeinigt ist. Und umgekehrt gewinnen die „antiministeriellen" Elemente sofort das ganze Übergewicht, sobald sie sich zu einer Partei verbunden haben. Vor allem zerstören sie damit endgültig das von ihren Gegnern hartnäckig kolportierte Märchen, als seien bloß die persönlichen Rivalitäten der Chefs oder engherziger „Sektenfanatismus" die eigentlichen Hindernisse der sozialistischen Einigkeit in Frankreich. Sodann kommt erst in diesem Falle, nämlich wenn eine geeinigte Partei gegen die andere steht, die Überlegenheit der disziplinierten und erfahrenen Kräfte gegenüber dem Gemisch von halben und frisch gebackenen Sozialisten, der konsequenten Oppositionstaktik gegenüber der Augenblickspolitik zur vollen Geltung. Sind die revolutionären sozialistischen Kräfte geeinigt, so wird ihre Partei sofort zu einem Magnet, nach dem sich die Bewegungen der anderen soeben organisierten ganz unwillkürlich richten.

Es wäre nämlich ein Irrtum, anzunehmen, in Lyon seien lediglich alle Anhänger der sozialistischen Ministerschaft geblieben. Wenn die Föderationen der Seine und Oise, die der beiden Sevres und der Vendée, zusammen mit der Föderation du Doubs mit der Sozialistisch-revolutionären Partei den Kongress verlassen haben, so ist eine ganze Reihe weiterer überzeugter Gegner des Regierungssozialismus, wie die Allemanisten, wie die Gruppe des „Mouvement Socialiste", wie zahlreiche autonome Föderationen, nur deshalb in Lyon geblieben, um die Einigkeit zu verwirklichen. Es ist die Hypnose, in der sie Jaurès seit Jahren mit dem Schlagwort von der sozialistischen Einigkeit hält, die sie für den Augenblick die trennenden Momente vergessen ließ. Sobald aber die Einigkeit verwirklicht ist, werden diese trennenden Momente wieder in den Vordergrund treten. Heute sucht Jaurès noch auf die linksstehenden Elemente in seiner Partei Rücksicht zu nehmen. „Wir sind entschlossen", schreibt er (A l'oeuvre! „Petite République", 1. Juni), „in der Periode des Kampfes in der Organisation, in die wir eintreten, so zu handeln, wie wenn jede Beteiligung des Sozialismus an der Regierung endgültig beseitigt wäre", und zwar – weil die Partei noch nicht reif genug sei, um diesen vorläufig „zu revolutionären" (!) Grundsatz des Regierungssozialismus zu erfassen. Aber dass dieses Versprechen Jaurès' ebenso wenig die Praxis seiner Richtung beeinflussen wird, wie jene im November vorigen Jahres in der Kammer abgegebene analoge Erklärung Vivianis es getan hat, dafür bürgen schon jetzt wichtige Symptome.

Es ist für die junge Partei sehr bezeichnend, dass, während sie nach links hin von den sozialdemokratischen Organisationen sehr scharf abgegrenzt ist, sie nach rechts hin, zwischen sich und den sozialistischen und bürgerlichen Radikalen keinen Grenzrain zu ziehen vermag. Gerade jetzt sind Pelletan und seine Anhänger an die Partei Jaurès mit dem offenen und formellen Antrag herangetreten, sich zu einem radikalen Bündnis zusammenzutun, dieweil es wichtige Differenzpunkte zwischen beiden Lagern eigentlich gar nicht mehr gäbe und die Sozialisten der Millerandschen Richtung in der Praxis glücklich auf den alten Boden der radikalen Partei zurückgekehrt seien. Die Auffassung, für die die Sozialisten „nicht revolutionär" genug sind, erweist sich somit mit einem Male als gerade gut genug für – kleinbürgerliche Radikale. Dass Jaurès diesen kompromittierlichen Gruß „Unter den Linden", etwas errötend, abzuwinken sucht, ist selbstverständlich, andererseits aber empfindet er deutlich die natürliche Gravitation (Anziehung) seiner Richtung zum Verschmelzen mit der Partei des radikalen Kleinbürgertums. Und er findet sofort den Ausweg aus der schwierigen Lage: die Verschmelzung mit den Radikalen muss akzeptiert werden, nur soll sie nicht als eine Rückentwicklung der Sozialisten zum Radikalismus, sondern als ein Fortschritt der Radikalen zum Sozialismus aufgefasst werden.

Braucht man sich denn aufzuregen, wenn tatsächlich der Radikalismus, gezwungen, sich nach der sozialistischen Richtung zu entwickeln, sich entschließt, das Programm von St. Mandé (die Millerandsche, von der Richtung Jaurès akzeptierte Formel des Sozialismus) anzunehmen? Ich denke, dass wir keinen Anspruch erheben, unsere Partei zu immobilisieren, ihr den Zufluss neuer Kräfte abzusperren und das Programm zu monopolisieren," – „Und wenn wir, kraft unserer Aktion und Propaganda wie der wachsenden Macht der proletarischen Organisation, nicht mehr einige isolierte Individuen, sondern eine ganze Fraktion der bürgerlichen Demokratie dazu zwingen würden, anzuerkennen, dass das Kollektiveigentum die nächste Etappe in der Entwicklung ist, und dass man ihren Anbruch beschleunigen muss, dann wäre das einer der größten Erfolge, den eine Klassenpartei erringen kann. So und nicht anders bereiten sich vor und vollziehen sich die großen Revolutionen durch Penetration und Diffusion (Durchdringung und Ausbreitung). Um den ersten glühenden Kern bildet sich eine Art Hof, dessen Zirkel, etwas unbestimmt und erblassend, zum Schlusse die ganze Gesellschaft umfassen." („Petite République" vom 4. Juni.)

Was in dieser kosmogenisch-poetischen Theorie der geschichtlichen Revolutionen allein den „glühenden Kern" bildet, ist offenbar die Anerkennung, dass die Partei Jaurès nicht abgeneigt ist, sich mit der kleinbürgerlichen Demokratie eventuell zu vereinigen. Und wenn sie sich dabei auch einbilden sollte, dies sei nicht ihr eigener Abrutsch in den bürgerlichen Sumpf, sondern der Aufstieg der Bourgeoisie auf die sozialistische Höhe, so dürfte diese Halluzination die linksstehenden sozialistischen Elemente in der jungen Partei nicht lange gefangen halten. Wer unter ihnen noch nicht jeden politischen Selbsterhaltungstrieb verloren hat, wird vor der wilden Ehe mit dem Radikalismus zurückschaudern. Und es bedarf nur der natürlichen Attraktionskraft des geeinigten Sozialismus „alter Schule", um sie aus den mit halbem Herzen akzeptierten Banden wieder zu befreien und auf den Boden des proletarischen Klassenkampfes zusammenzufassen.

1 Abgedruckt in der „Neuen Zeit", Jahrgang 1900/01, Band 2, Nr. 48.

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