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Rosa Luxemburg 19010515 Zum französischen Einigungskongress

Rosa Luxemburg: Zum französischen Einigungskongress

[Erschienen in der „Neuen Zeit", Jahrg. 1900/01, Band 2. Nach Gesammelte Werke Band 3, 1925, S. 346-356]

Am 26. Mai (1901) wird in Lyon der dritte Einigungskongress der französischen Sozialisten eröffnet. Wahrscheinlich werden auch aus diesem Anlass wieder die herkömmlichen Friedensfanfaren ertönen und eindringliche Ermahnungen sowie gute Ratschläge an unsere französischen Brüder ergehen, ähnlich jenen, mit denen man sie beispielsweise auf dem internationalen Kongress zu Paris so reichlich bedacht hat. Allein diese Ermahnungen werden auch diesmal verlorene Mühe sein. Der bevorstehende dritte Einigungskongress beginnt zum Unterschied von den beiden ersten unter allgemeiner Gewissheit über sein bevorstehendes Fiasko. Die größte sozialistische Organisation Frankreichs, die Französische Arbeiterpartei (Guesdisten), beteiligt sich an dem Kongress nicht, desgleichen die Fédération der Saône und Loire, die das nämliche Kohlenbecken umfasst. Die andere alte Organisation, die Sozialistisch-Revolutionäre Partei (Blanquisten), wird sich zwar, treu ihrem Amte des Vermittlers und Friedensstifters, an den Beratungen in Lyon beteiligen, allein auch sie geht ohne jede Illusion in Bezug auf die zu erreichenden Resultate zum Kongress. Und sogar der alte Führer der Possibilisten und jetzige Anhänger Millerands, Brousse, erklärt den bevorstehenden Einigungsversuch unter den gegebenen Verhältnissen für verfehlt und aussichtslos. Unsere Aufgabe ist es demnach, nicht grundlose Illusionen zu nähren, zu mahnen oder zu bedauern, sondern über die inneren Verhältnisse des französischen Sozialismus klar zu werden und aus ihnen heraus die jetzige Aussichtslosigkeit des Einigungskongresses zu erfassen zu suchen.

Am einfachsten freilich ist es, den Bösewicht ausfindig zu machen, auf den man die ganze Schuld abwälzen kann, als solchen natürlich die Französische Arbeiterpartei hinzustellen, die in ihrer Verstocktheit partout dem Lyoner Kongress den Rücken kehrt, und so das ganze Misslingen der Einigung als ein Werk des alten „Sektengeistes" und der „persönlichen Eifersüchteleien" unter den ehrgeizigen Parteiführern zu erklären.

Diese bequeme Auffassung der Sachlage findet scheinbar darin ihre Bestätigung, dass die beiden Einigungsprojekte, die einerseits vom sozialistischen Generalkomitee, andererseits von den Guesdisten und Blanquisten zusammen mit der Kommunistischen Allianz ausgearbeitet worden sind, formell nur in untergeordneten Fragen von einander abweichen. Es sind dies: die Aufnahme oder Nichtaufnahme der Gewerkschaften in die politische Partei, der Verteilungsmodus der Mitgliedskarten an die einzelnen Sozialisten direkt von der Zentrale oder durch die Vermittlung der alten Parteiorganisationen, endlich die Zusammensetzung des Zentralkomitees der geeinigten Partei. So wichtig an sich alle diese Fragen, namentlich die erste, sind, so ist es doch klar, dass sie als Grund für eine Spaltung der sozialistischen Reihen unmöglich ausreichen können. Und lägen der heutigen Uneinigkeit unter den französischen Sozialisten nichts anderes als Differenzen über die Organisationsformen zugrunde, so würde das voraussichtliche Scheitern des Lyoner Kongresses eine unerklärliche Erscheinung bleiben. Tatsächlich handelt es sich um ganz anderes als um Organisationsformalitäten.

I.

So wenig versprechend der Ausgang des letzten allgemeinen französischen Kongresses in Paris im Oktober 1900 war, so gestalteten sich doch bald darauf die Verhältnisse für das Einigungswerk ziemlich günstig. Einerseits vereinigte sich die Gruppe Vaillants, die mit den übrigen Sozialisten den Kongress bis zu Ende mitgemacht und die Vorbereitung der endgültigen Einigung beschlossen hatte, bald darauf wieder mit der aus dem Kongress ausgeschiedenen Französischen Arbeiterpartei, gleichfalls zur Ausarbeitung eines gemeinsamen Einigungsplanes. Dadurch war das Bindeglied zwischen der ältesten sozialdemokratischen Partei Frankreichs und den übrigen sozialistischen Gruppen wiederhergestellt. Andererseits schickten sich die unabhängigen Sozialisten an, ihre politische Taktik gleich den alten Parteien auf den Boden einer sozialistischen Opposition zu stellen. Bei der Eröffnung der Kammersession im November 1900 gaben Vaillant, im Namen des linken, Viviani aber im Namen des rechten Flügels der Fraktion fast identische Erklärungen ab, wonach sie sich in ihrem Verhalten der Regierung gegenüber ganz unabhängig von allen Nebenrücksichten, in jedem Falle ausschließlich nach den Interessen des Sozialismus richten wollten.

Für die Anhänger Millerands sollte die bevorstehende parlamentarische Session eine entscheidende Bedeutung haben. Es sollte sich darin herausstellen, ob die selbständige sozialistische Taktik im Parlament sich mit der Zustimmung zur sozialistischen Ministerschaft, ob die oppositionelle Haltung der Sozialisten sich mit ihrer Allianz mit der republikanischen Bourgeoisie vereinigen lasse.

Die Logik der Tatsachen erwies sich aber stärker als die feierlichen Versprechungen und der gute Wille der Gruppe Jaurès. Bereits die erste Probe, die Verhandlungen über das Amnestiegesetz, strafte die Erklärungen Vivianis Lügen: die Unabhängigen Sozialisten stimmten hier gleich, entgegen ihrer eigenen Überzeugung von der Notwendigkeit der Liquidation der Dreyfus-Affäre, für die Erstickung dieser Affäre. Bereits hier zeigte sich's, dass die Rücksichten auf das Kabinett den Anhängern Millerands eine oppositionelle Politik unmöglich machten. Der mit dem Amnestiegesetz inaugurierte politische Bankrott des radikalen Ministeriums setzte sich aber während der ganzen Session mit eherner Logik fort, bis er in dem Assoziationsgesetz seinen Abschluss fand. Und parallel damit entwickelten sich in der kurzen Zeitspanne vom Dezember 1900 bis März 1901 mit überstürzender Hast alle inneren Konsequenzen der Ministerschaft Millerands für die parlamentarische Taktik seiner Anhänger.

Die Verhandlungen über das Gesetz gegen die Kongregationen sind eine fortgesetzte Reihe von Niederlagen und Kapitulationen der „Regierung der republikanischen Verteidigung". Von vornherein eine Missgeburt, gerichtet gleichzeitig gegen den Klerus und gegen die sozialistische Arbeiterschaft, purzelte das Gesetz im Laufe der Kammerdebatten in tollen Sprüngen immer tiefer und tiefer, indem alle Spuren der radikalen Reform darin Schritt für Schritt ausgemerzt, dagegen seine reaktionären Keime entwickelt wurden. Erst gab die Regierung ihr Projekt preis, die Ordensgüter den Arbeiterpensionskassen zuzuführen, dann verzichtete sie überhaupt auf das Recht, die Vermögen der aufgelösten Orden für die Staatskasse zu reklamieren, dann gestand sie den „Berechtigten" eine dreißigjährige Frist zur Rückforderung der freigewordenen Ordensgüter zu. Gleichzeitig wurde die Bestimmung zum Gesetz erhoben, wonach jede politische oder gewerkschaftliche Arbeiterorganisation von internationalem Charakter jederzeit durch Dekret aufgelöst werden kann. Endlich schrumpfte die ganze Aktion gegen die Geistlichkeit zu einem Verbot des Unterrichts für nicht autorisierte Orden zusammen.

Das Assoziationsgesetz war die Schluss- und Feuerprobe sowohl für die Regierung „der republikanischen Verteidigung", wie für die Jaurès'sche Theorie der sozialistisch-radikalen Regierungsfähigkeit, und sie fiel für beide gleich vernichtend aus. Die „republikanische Majorität" erwies sich als ein Bollwerk nicht der republikanischen Verteidigung gegen die Reaktion, sondern der kapitalistischen Verteidigung gegen die Arbeiterklasse, die radikal-sozialistische Regierung erwies sich als gehorsame Dienerin dieser kapitalistischen Mehrheit, und die ministeriellen Sozialisten als die Dupes (Betrogenen) der „republikanischen Allianz"

Jede Illusion war nunmehr unmöglich. Bei dem Amnestiegesetz hat es geheißen, die Kapitulation sei „zur Beruhigung Gemüter", zur Beschwichtigung der noch gärenden republikanischen Krise notwendig, – das Assoziationsgesetz wurde bereits In der ödesten Ruhe des republikanischen Werkeltags verhandelt. Die Erstickung der Dreyfus-Affäre galt nur als die Einleitung, als vorbereitendes Akzessorium (Beiwerk), – die Aktion gegen den Klerus dagegen als das eigentliche Werk, mit dem die „republikanische Verteidigung" abgeschlossen wurde und von dem ab die Ära des normalen parlamentarischen Fortwursteins begann. Keine Vertröstungen und Hinweise mehr auf weiter bevorstehende große Aufgaben konnten diesmal über das Verhalten der Kammermehrheit und des Ministeriums hinweghelfen. Mit dem Assoziationsgesetz sind die Akten der „republikanischen Verteidigung" geschlossen, und sie zeigen in letzter Rechnung: den Verrat der radikalen Regierung an ihren republikanischen Aufgaben, den Verrat der republikanischen Bourgeoisie an ihren sozialistischen Alliierten und – den Verrat der ministeriellen Sozialisten am Sozialismus.

In den Verhandlungen über das Amnestiegesetz hatten es die Verhältnisse mit sich gebracht, dass beide sozialistische Fraktionen, obwohl sie von entgegensetzten Gesichtspunkten ausgingen, in ihrer Stellung zusammentrafen. Der rechte Flügel akzeptierte die Amnestie entgegen seiner Haltung in der Dreyfus-Krise, der linke akzeptierte sie gemäß seiner Haltung in der Dreyfus-Krise. Die Gruppe Jaurès ließ damals nur erst ihre eigenen Anschauungen im Stich.

In den Verhandlungen über das Assoziationsgesetz gestalteten sich die Verhältnisse anders. Durch keine äußeren Umstände in ihrer Taktik gebunden, schlugen hier Vaillant, Zevaes und ihre Freunde sofort den einzigen sozialistisch zulässigen Weg ein: es war dies der Kampf um die Erhaltung und Potenzierung aller antiklerikalen und um Abschwächung und Beseitigung aller antisozialistischen Bestimmungen des zwieschlächtigen Gesetzes. Den gerade entgegengesetzten Weg schlugen aber Viviani und Genossen ein. Indem sie zur Unterstützung der Regierung mit der republikanischen Majorität durch dick und dünn gingen, fielen sie auf Schritt und Tritt ihren eigenen Fraktionsgenossen in den Rücken.

Vaillant und Groussier mit Genossen bekämpften mit aller Macht den berüchtigten § 12 des Gesetzes, der gegen internationale Arbeiterverbindungen gerichtet war, – gleichzeitig stimmten 21 sozialistische Abgeordnete vom rechten Flügel zusammen mit allen Reaktionären wie Motte, Baudry d'Asson, Meline, Graf de Mini, für diesen Paragraphen. Vaillant und Zevaes stellten im Sinn der Rede Vivianis den Antrag, wonach alle geistlichen Orden aufgelöst und verboten werden sollten, – Viviani und noch 22 seiner Freunde und lehnten mit Klerikalen und Monarchisten diesen Antrag ab. Groussier beantragte ein von allen sozialistischen Abgeordneten gezeichnetes Amendement zur Erweiterung des Koalitionsrechts der Arbeiter, – 10 sozialistische Abgeordnete vom rechten Flügel gaben ihr Votum gegen ihr eigenes Amendement ab.

Und dasselbe wiederholte sich in allen Zwischenfällen, die in die Periode der Verhandlungen über das Assoziationsgesetz fielen.

Während der Interpellation über die Provokationen der Regierung in dem Kohlenarbeiterstreik in Montceau stellt Dejeante mit Genossen den Antrag, worin die Regierung aufgefordert wird, das Militär aus dem Streikgebiet zu entfernen und die brachliegenden Kohlengruben in eigene Regie zu übernehmen, – 20 sozialistische Abgeordnete verweigern diesem Antrag ihre Unterstützung. Ja, noch mehr; in derselben Sitzung geben 21 Sozialisten zusammen mit den Vertretern der kapitalistischen Reaktion der Regierung ein volles Vertrauensvotum in Sachen des Streiks. Endlich, während die Gruppe Vaillant-Zevaes geschlossen gegen das Budget votiert, enthalten sich 8 Abgeordnete der anderen Gruppe der Abstimmung und 4 votieren für das Budget mit seinen Ausgaben für Kultus, Kolonien, Militär und Marine.

So gestaltete sich der Kampf von Vaillant und Genossen gegen die Reaktion zu einem Kampfe zwischen den beiden Flügeln der sozialistischen Kammergruppe und jede Beratung erweiterte die Kluft zwischen ihnen. Aus der parlamentarischen Session, in die sie vereint und im Bunde eintraten, gehen sie als zwei feindliche Lager heraus.

Die Aktion im Parlament hat die Gegensätze zwischen den beiden Richtungen des französischen Sozialismus entfacht, potenziert und an den Tag gelegt, aber sie hat sie nicht geschaffen. Der Gegensatz in der parlamentarischen Taktik ist nur eine Teilerscheinung des tiefliegenden Gegensatzes in der gesamten Auffassung vom sozialistischen Kampfe.

Hinter der widerspruchsvollen Haltung bei der Budgetabstimmung steckt die grundverschiedene Ansicht über die bürgerliche Regierung: für die französischen Sozialisten alter Schule ist sie nur der geschäftsführende Ausschuss der Bourgeoisie, dem man jegliche Existenzmittel verweigert; für die Anhänger der „neuen Methode" ist sie die Interessenverwalterin aller Klassen, die sich im Ministerium vertreten lassen und die es unterstützen.

Dein verschiedenen Verhalten zur „republikanischen Majorität" der Kammer liegen entgegengesetzte Begriffe von den bürgerlichen Parteien zugrunde: den Guesde, Vaillant und Genossen sind sie trotz verschiedener Nuancen ein feindliches Lager, dem nur durch rücksichtslosen Kampf Zugeständnisse abgepresst werden können, für die Gruppe Jaurès-Viviani erscheinen einzelne Fraktionen der Bourgeoisie als natürliche Bundesgenossen des Proletariats in seinem Marsch zum Sozialismus und die Erhaltung dieser Bundesgenossenschaft als ein Ziel, das durch völlige Preisgabe der selbständigen proletarischen Politik nicht zu teuer erkauft ist.

Und der Sozialismus selbst ist für die einen das Resultat der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat und einer völligen sozialen Umwälzung, für die anderen das Ergebnis unmerklicher Verschiebungen im Schoße der kapitalistischen Unternehmung und des bürgerlichen Ministeriums.

Man versteht deshalb, wie wenig Jaurès mit den Tatsachen rechnet, wenn er erklärt, der eigentliche Streitpunkt zwischen den beiden sozialistischen Lagern sei die Ministerfrage, die durch seinen Vorschlag, die sozialistische Ministerschaft in Zukunft an die Zustimmung der Zweidrittelmajorität der Partei zu binden, in höchst einfacher Weise gelöst werde. Der Fall Millerand ist gewiss die Quelle der heutigen Differenzen. Und hätten ihn Jaurès und seine Freunde gleich im Anfang der Krise, solange das Verbleiben Millerands im Ministerium allein den Streitpunkt bildete, offen und entschlossen fallen gelassen, die Situation hätte noch gerettet und die Einigung ermöglicht werden können. Heute aber, nachdem Jaurès umgekehrt durch das Festhalten an der Ministerschaft Millerands zu einer gänzlichen Revision der sozialistischen Begriffe geführt worden ist und eine ganz „neue Methode" des Sozialismus geschaffen hat, die bereits in der parlamentarischen Aktion seiner Freunde zur Tat geworden, lässt sich der Streit nicht mehr durch die formalistische Lösung der Ministerfrage aus der Welt schaffen. Heute handelt es sich nicht mehr darum, ob Millerand im Kabinett bleiben soll oder nicht, sondern um die ganze Summe der politischen und ökonomischen, prinzipiellen und taktischen Fragen, die das Wesen des sozialistischen Kampfes ausmachen. Es sind heute zwei Weltanschauungen, die einander entgegenstehen und zwischen denen der parlamentarische Kampf das Tischtuch zerschnitten hat.

Und wenn Jaurès, der selbst mit jenem Mute des Gedankens und jener Kraft der Überzeugung, die ihm eigen sind, alle Konsequenzen aus dem ersten Fehltritt seiner Gruppe entwickelt hat, heute mit Erstaunen vor der Unmöglichkeit der Einigung steht, für deren Propagierung er mehr als sonst jemand in Frankreich getan hatte, so muss er sich sagen: Tu l'as voulu, Georges Dandin! (Du hast's gewollt, Georges Dandin!)

II.

Die Geschicke der sozialistischen Einigkeit, die eines der wichtigsten Probleme des Sozialismus darstellt, hängen naturgemäß mit der inneren Entwicklung der Arbeiterbewegung zusammen.

Sobald die Notwendigkeit des politischen Kampfes zu einem der Grundsätze des Sozialismus geworden war, wurde sie zugleich zur Voraussetzung der Einigkeit unter den Sozialisten und zur Scheidewand zwischen Sozialdemokraten und Anarchisten. Marx selbst, dessen ganze Kraft in der alten Internationale sieben Jahre lang auf das Zusammenhalten der buntscheckigen Elemente des Sozialismus gerichtet war, führte zum Schlusse eine Spaltung mit den Bakunisten herbei und zeigte damit, dass zur Grundlage der sozialistischen Einigkeit die Gemeinsamkeit des sozialistischen Endziels allein unzureichend, vielmehr auch noch die gleichartige Auffassung vom Kampfe um dieses Endziel erforderlich ist.

Dieselbe Richtschnur hält die internationale Sozialdemokratie auch bis heute inne, indem sie auf ihren neuesten Kongressen (Paris, Brüssel, Zürich, London) die Einigung mit anarchistischen Sozialisten rundweg ablehnt.

In dem Maße jedoch, wie der politische Kampf der Arbeiterklasse sich in jedem Lande entwickelte, an Umfang, Tiefe und Mannigfaltigkeit der Formen zunahm, erwuchsen aus ihm neue Probleme. Nicht mehr die Anerkennung des politischen Kampfes im Allgemeinen, sondern diese oder jene konkrete Auffassung von diesem Kampfe ist zur Grundfrage der Arbeiterbewegung und zugleich zur Achse geworden, um die sich die sozialistischen Kräfte gruppieren.

Wenn in Deutschland die Vereinigung der Eisenacher mit den Lassalleanern trotz der heftigsten Fraktionskämpfe bald nach ihrer Trennung angestrebt werden konnte, so vor allem deswegen, weil Bebel und Liebknecht bereits damals zu erklären in der Lage waren, dass sie prinzipiell vollkommen auf demselben Boden wie der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein ständen. Wären die Lassalleaner, wie heute die Anhänger Jaurès', zusammen mit Konservativen und Nationalliberalen gegen die Eisenacher vorgegangen, von der Einigung hätte keine Rede sein können.

Ja, es genügte der bloße Schein des „hoffähigen Regierungssozialismus", es genügte der bloße Verdacht von Beziehungen zur Regierung, um das Werk der Einigung in Deutschland jahrelang zu hintertreiben und aufzuschieben. In Frankreich aber ist der „hoffähige Regierungssozialismus" bereits in der ganzen heutigen Praxis Fleisch geworden.

Jaurès hat freilich vollkommen recht, wenn er sich darauf beruft, dass die deutsche Sozialdemokratie in ihrem Rahmen für sehr weit auseinandergehende Auffassungen Raum hat, wie dies bei den letzten Auseinandersetzungen über Endziel und Bewegung zum Ausdruck gekommen ist. Er vergisst aber, dass die trennenden Momente bis jetzt lediglich in der Presse, in literarischen Erzeugnissen und nirgends in der Praxis der Partei zum Ausdruck gekommen sind. Eine ernste und große Partei spaltet sich nicht wegen Zeitungsartikeln, auch nicht wegen vereinzelter politischer Seitensprünge. Wenn jedoch der Verrat an sozialistischen Grundsätzen in der Praxis eines Teiles der Partei zum System wird, dann wird jede ernste Partei sich sagen, wie Marx vor dreißig Jahren in der Internationale: Lieber ein offener Krieg, als ein fauler Friede!

In der Tat, was würde heute eine Einigung aller Sozialisten in Frankreich ergeben? Sehen wir ab von der grundsätzlichen Verschiedenheit der Auffassung, die in der Praxis ein Gebilde schaffen müsste, das nicht leben und nicht sterben könnte. Mit einer noch so abweichenden Richtung ist eine Verständigung mehr oder weniger möglich, wenn sie etwas Bestimmtes, Scharfumgrenztes, Formfestes darstellt. Aber die Vereinigung mit dem rechten sozialistischen Flügel in Frankreich, das wäre heute eine Vermählung mit dem Chaos.

So geschlossen und symmetrisch sich nämlich die „neue Methode" des Sozialismus in den schwungvollen und von poetischem Schimmer umglänzten Darlegungen Jaurès' ausnimmt, so rettungslos zerfahren stellt sie sich in der Praxis seiner Freunde dar. Es lässt sich in dem Verhalten des rechten sozialistischen Fraktionsflügels mit seinen Kreuz- und Querzügen keine einzige politische Regel außer dem Festhalten an dem Ministerium Millerands auffinden. Jede einzelne Stellungnahme wird nicht aus der sozialistischen Einschätzung der Frage selbst, sondern aus Rücksichten auf weitere politische Kombinationen abgeleitet. Erst verzichtet man auf die Niederwerfung der rebellischen hohen Militärs und schickt sich in die Amnestie in der Dreyfussache, um die spätere Niederwerfung des Klerus zu ermöglichen. Als sich das Assoziationsgesetz als ein Humbug herausstellt, gibt man die Bekämpfung der Geistlichkeit um der versprochenen Altersrenten willen preis. Als die Verwendung der Kongregationsvermögen für die Alterspensionskassen sich zusammen mit den antiklerikalen Maßnahmen in blauen Dunst löst, stimmt man immer noch für das Gesetz, um die republikanische Mehrheit nicht zu sprengen. Und wenn die republikanische Mehrheit alle Erwartungen täuscht, fügt man sich immer noch ihrem Joche, um das Ministerium aufrechtzuerhalten.

Ebenso ist es um die Motivierung jeder einzelnen Abstimmung in der Kammer bestellt. Gegen das sozialistische Amendement Groussiers betreffend die Sicherstellung des Koalitionsrechts stimmt man aus dem Grunde, weil es von den Reaktionsparteien aus machiavellistischen Gründen unterstützt wird. Und bei dem sozialistischen Antrag Zevaes betreffend die Auflösung aller geistlichen Orden stimmt man gleichfalls dagegen, obwohl er diesmal von der gesamten Reaktion bekämpft wird. Der Antrag Zevaes selbst wird bei seiner Ausarbeitung in der Fraktion erst von dem rechten Flügel adoptiert, dann in einer zweiten Fraktionssitzung nur der Gruppe Vaillant-Zevaes zur Vertretung überlassen, in einer dritten Fraktionssitzung adoptiert ihn der rechte Flügel zum zweiten Male, in einer vierten Sitzung überlässt er ihn abermals der Gruppe Vaillant-Zevaes und schließlich in der Kammersitzung stimmt er geschlossen mit Melinisten, Klerikalen und Monarchisten gegen den Antrag.

Es ist dies ein richtiges Bankrottierdasein, eine Politik von der Hand in den Mund, von heute auf morgen, gerichtet einzig nach den parlamentarischen Augenblickskombinationen, eine Jagd nach politischen Erfolgen, in der alles nach der Reihe um alles geopfert und schließlich nichts eingeholt wird als der Katzenjammer, ein rettungsloses Abrutschen auf der Bahn der Abdikationen (Verzichtleistungen), auf der es keinen Halt gibt, ein völlig prinziploses Hin- und Herpendeln, das nur einen festen Punkt im Räume kennt: die Rockschöße des „sozialistischen Ministers".

Bei der Verschmelzung mit diesem zerfahrenen Sozialismus würden unter den gegebenen Umständen die alten sozialdemokratischen Organisationen nicht die geringste Aussicht haben, in der vereinigten Partei die sozialistischen Prinzipien zur Geltung zu bringen. Vor allem bilden die Anhänger Jaurès' die Mehrheit. Die Prinzipien- und Disziplinlosigkeit vereinigt selbstverständlich viel leichter große Scharen als feste Organisation und stark ausgeprägtes Programm. Die Oberhand in der geeinigten Partei würde somit sehr leicht bei den Unabhängigen, bei Krethi und Plethi bleiben.

Aber auch vorausgesetzt, dass es den Vertretern der grundsätzlichen sozialistischen Taktik gelänge, eine Reihe bindender Beschlüsse in Bezug auf die Taktik durchzudrücken, – tiefliegende Gegensätze lassen sich nicht durch Resolutionen aus der Welt schaffen. Auch hierüber liegen genügende Erfahrungen vor. Die durch den ersten Einigungskongress 1899 votierte Resolution Delessalle, die die sozialistische Ministerschaft nur als eine außerordentliche Maßregel den Erwägungen der Partei überwies, hinderte die Anhänger Millerands nicht, nach wie vor an seiner Ministerschaft festzuhalten. Und der Beschluss des Internationalen Kongresses, der die sozialistische Ministerschaft ausdrücklich bloß als einen Ausnahmefall für zulässig erklärte, verhinderte Jaurès und seine Freunde nicht, seitdem den Anteil der Sozialisten an der Regierung ruhig als eine normale Methode des sozialistischen Kampfes zu propagieren.

Sich unter den gegebenen Verhältnissen mit den Anhängern des ministeriellen Sozialismus vereinigen, hieße nur die Verantwortlichkeit für ihre Politik übernehmen und zugleich ihr gegenüber machtlos bleiben. Es hieße mit anderen Worten: die Schicksale des Sozialismus und der Republik in Frankreich aufs Spiel setzen.

Die Schule Jaurès' hat an Stelle der sozialistischen Prinzipienpolitik die Politik der greifbaren Erfolge und an Stelle der selbständigen Klassenaktion des Proletariats die Aktion sozialistischer Minister im Namen des Proletariats gestellt. Es genügten fünf Jahre der ungehinderten Verbreitung dieser Lehren unter den Auspizien der offiziellen geeinigten sozialistischen Partei, und der Sozialismus ist in Frankreich ruiniert. Praktische Erfolge? Aber diese kann der Arbeiter von bürgerlichen Parteien in viel höherem Maße erwarten, als von „Arbeitervertretern", die sich von bürgerlichen Politikern in nichts unterscheiden, als dass sie nebenbei auch noch vom Sozialismus schwatzen! Ministerielle Sozialreformen? Aber ein jeder cäsaristische Prätendent, jeder Abenteurer kann ein viel reichlicheres Quantum Sozialreformen „von oben" versprechen, als ein armseliger republikanischer Minister! Fünf Jahre der Experimente auf diesem Gebiet, und die französische Arbeiterklasse ist politisch bis auf die Knochen korrumpiert, zum geeigneten Werkzeug für alle bürgerlichen Erfolgspolitiker, Sozialreformer, für alle cäsaristischen Spekulanten degradiert.

Jaurès, der unermüdliche Verteidiger der Republik, der den Boden für den Cäsarismus bereitet, – es klingt wie ein schlechter Scherz. Aber solche Scherze bilden den alltäglichen Ernst der Geschichte. Es ist das ständige Los des bürgerlichen Politikers, den Zipfel einer kathedersozialistisch-professoralen Nachtmütze zu erfassen, wenn er mit der Hand den Sirius zu greifen glaubt, und dem Teufel die Ernte zu bereiten, wenn er für den Herrgott sät. Nur der Sozialismus bietet die Handhabe, die Wirkungen bewusst aus den Ursachen abzuleiten und die Geschichte zu eigenen Zwecken zu führen, statt sich von ihr an der Nase herumführen zu lassen. Wer aber die sozialistischen Grundsätze verleugnet, und mag er dem Sozialismus selbst zu dienen sich einbilden, wird aus dem Meister zum Werkzeug seines Tuns und erweist sich als der Gefoppte just in dem Augenblick, wo er die Geschichte zu überlisten gedenkt.

III.

Während der französische Sozialismus heute mehr denn je von der Verwirklichung der Einigkeit entfernt scheint, keimt in Wirklichkeit aus der Zersplitterung selbst die feste Einigkeit zusehends empor. Es ist dies der Zusammenschluss der alten sozialistischen Organisationen und ihrer Alliierten: der Französischen Arbeiterpartei, der Sozialistisch-revolutionären Partei und der Kommunistischen Allianz.

Dank der Krise der letzten Jahre und angesichts des Aufkommens der „neuen Methode" haben die alten Parteien, die jahrzehntelang in stillem Guerillakrieg oder bestenfalls in gänzlicher Entfremdung gelebt hatten, die Gemeinsamkeit ihrer Prinzipien und ihrer Taktik wiedergefunden und wirken seitdem in allen wichtigeren Fragen völlig harmonisch, in der Aktion ein einziges Ganzes. Die historisch gewordene Zersplitterung – auch unter jetzt Gleichgesinnten – lässt sich freilich nicht von heute auf morgen spurlos entfernen und durch völlige Verschmelzung ersetzen. Aber den Weg zu diesem Ziele haben die alten Parteien schon beschritten, und sie marschieren auf ihm immer weiter. Die Notwendigkeit selbst, den Anhängern des Regierungssozialismus festen Widerstand zu bieten, führt die Parteien von Guesde-Lafargue und Vaillant mit ihrem Anhang dazu, eine gemeinsame Zentralexekutive zu schaffen und das gemeinsam ausgearbeitete Einigungsprojekt zu verwirklichen. Einmal auf dem Boden der gemeinsamen prinzipiellen Auffassung konzentriert, werden die alten sozialistischen Kräfte zum Anziehungspunkt für alle neuen echt sozialistischen Elemente und so zum Mittelpunkt der wirklichen sozialistischen Einigkeit werden.

Um diese in Frankreich einmal voll und ganz zu verwirklichen, wie Jaurès es heute schon voreilig will, dazu ist noch eins nötig: der restlose Zusammenbruch der Lehre vom ministeriellen Sozialismus. Die Regierung und die bürgerlichen Parteien tun ihrerseits hierfür, was in ihren Kräften steht. Das jämmerliche Ende der „republikanischen Verteidigung" in dem Assoziationsgesetz, das Fiasko der Millerandschen Sozialreform in dem obligatorischen Streikgesetz, das sogar von seinen eigenen Anhängern über Bord geworfen wurde, das militärische Massaker bei der Maifeier in Grenoble, wobei ein Sozialist getötet worden ist, das Bauchrutschen des sozialistisch-radikalen Kabinetts nach Petersburg zu dem kosakischen Alleinherrscher – alles dies sind Schläge, die dem verbohrtesten Staatssozialisten Revolution einpauken können. Hoffentlich wird das Kabinett Waldeck-Millerand nicht zu früh zu den übrigen Leichen auf den ministeriellen Kirchhof gelegt, bevor es die „neue Methode" wie ein Sieb durchlöchert und so die sozialistische Einigkeit in Frankreich endgültig und in vollem Umfang vorbereitet hat.

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