Rosa Luxemburg 19010403 Die badische Budgetabstimmung

Rosa Luxemburg: Die badische Budgetabstimmung

[Erschienen in der „Neuen Zeit“, XIX. Jahrgang 1900/1901, 2. Band, Heft 27, S. 14-20. Nach Gesammelte Werke, Band 3, 1925, S. 428-435]

Auf einem unserer Parteitage ist einmal gesagt worden, wir sollten froh sein, wenn in unseren Reihen „neue Gesichtspunkte" auftauchten, damit in das „alte regelmäßige Agitationsgeklopfe" einige Abwechslung komme. Nun, es scheint nach wie vor redlich dafür gesorgt zu werden, dass das eintönige „Agitationsgeklopfe" der Partei von Zeit zu Zeit eine interessante Unterbrechung erfährt. Diese erfrischende Wirkung haben nämlich inmitten des gleichmäßigen intensiven Abwehrkampfes gegen die vordringende Reaktion die periodisch in unseren Reihen gemachten Seitensprünge, wie nun wieder die Budgetbewilligung unserer Landtagsabgeordneten in Baden einer ist.

Zur Begründung oder genauer Rechtfertigung dieses Aktes, der unsere bisherige allgemein anerkannte Kampfweise über den Haufen wirft, werden freilich lauter Gründe angeführt, die nicht nur fadenscheinig, sondern längst in der Diskussion abgetan sind.

Was Fendrich und Genossen in der Tat auf der letzten Parteikonferenz in Offenburg vorzubringen wussten, war bloß das alte Lied, dass die Budgetabstimmung eine Frage der Taktik und nicht des Prinzips sei und dass die Budgets der deutschen Einzelstaaten im Unterschied von dem des Reiches zum größten Teile nicht Militär-, sondern Kulturausgaben enthalten. Es stehe demnach den sozialdemokratischen Abgeordneten völlig frei, ihr Verhalten wie in allen Fragen der Taktik nach der politischen Lage des Augenblicks einzurichten, das heißt, je nach den Umständen für oder wider das Budget zu stimmen, und zugleich liege für die Partei in den Einzelstaaten kein zwingender Grund vor, um, wie im Reiche angesichts seiner enormen Militärausgaben, das Budget stets zu verweigern.

Diese Beweisführung jedoch, so nichtig sie ist, scheint immer noch in gewissen Kreisen der Partei ernst genommen zu werden. Und da es sich dabei im Grunde um nichts anderes handelt, als um die Einführung derselben Ansichten in die Praxis, die in ihrer allgemeinen Fassung von der großen Mehrheit der Partei eben erst auf dem Parteitag in Hannover abgewiesen wurden, da die Genossen in Baden obendrein weder die ersten, noch die einzigen sind, die den Weg der Budgetbewilligungen betreten haben, so ist es notwendig, dass sich die Partei mit der Frage in gründlicher Weise befasst und endlich einmal den weiteren Experimenten unserer Landtagsabgeordneten mit bürgerlicher Politik den Riegel vorschiebt

I.

Die Tendenz, immer mehr das Verhalten der Sozialdemokratie zur Frage der Taktik, das heißt der Entscheidungen von Fall zu Fall, nach reinen Zweckmäßigkeitsgründen zu machen, ist überhaupt charakteristisch für diejenige Richtung in unserer Partei, der die sozialdemokratischen Grundsätze nicht als ein unentbehrlicher Wegweiser im Kampfe, sondern eher als eine Kettenkugel, als ein Hindernis zur Führung der sogenannten „praktischen Politik" erscheinen. Man scheint dabei von der naiven Vorstellung auszugehen, dass es genügt, irgendeine Frage als taktische zu bezeichnen, um damit einen Freibrief für alle Verstöße gegen das Programm und die Grundsätze der Partei zu bekommen. Die „Taktik" wird nach dieser Auffassung sozusagen als ein stiller Winkel ohne polizeiliche Warnungstafel gedacht, wo man nach Herzenslust jeden Schutt und Unrat ablagern darf. Es genügte demnach, stückweise unseren ganzen Klassenkampf aus dem Bereich der Grundsätze in den der Taktik hinüber zu schmuggeln, um auf diese geistreiche und bequeme Weise zwar nicht die kapitalistische Wirtschaftsordnung, aber das sozialdemokratische Programm „auszuhöhlen" und den Sozialismus selbst zu einer „Frage der Taktik", das heißt die Partei zu einer rein bürgerlichen zu machen.

Man übersieht dabei, dass die sozialdemokratische Taktik durchaus nicht die Mannigfaltigkeit in der Verletzung der Grundsätze der Sozialdemokratie, sondern die Mannigfaltigkeit in ihrer Anwendung darstellt. Der Taktik unserer Partei sind im Voraus durch unsere Grundsätze bestimmte Grenzen gezogen, in denen und nicht außerhalb derer sie sich entfalten kann. Nur im Rahmen der Parteiprinzipien darf die Taktik variieren, und die Bezeichnung einer Frage als taktische enthebt uns durchaus noch nicht der Möglichkeit und der Pflicht, die gegebene Lösung dieser Frage auf ihren prinzipiellen Charakter zu prüfen. Es gibt eben auch eine prinzipienwidrige Taktik, und sobald man dies eingesehen hat, verfehlt das in der letzten Zeit beliebte Pochen auf die Taktik seinen Zweck. Es stellt sich bei näherem Prüfen regelmäßig nur als eine Fasson heraus, ein mit den sozialdemokratischen Grundsätzen unvereinbares Handeln zu verschleiern, und dies trifft auch auf den vorliegenden Fall zu.

Seit der bürgerliche Parlamentarismus existiert, gilt die Bewilligung des Finanzgesetzes als ein Vertrauensvotum, die Ablehnung dagegen als Äußerung des Misstrauens gegenüber dem Staate. Einer Regierung, mit der wir unzufrieden sind, bewilligen wir keine Existenzmittel – dies war seit jeher der Grundsatz jeder ernsten oppositionellen Partei der Bourgeoisie – von den englischen Liberalen bis zu den preußischen Fortschrittlern.

Die Sozialdemokratie zeichnet sich aber von den bürgerlichen Parteien gerade dadurch aus, dass sich ihre Opposition nicht bloß gegen diese oder jene, sondern gegen jede bürgerliche Regierung, weil gegen den Klassenstaat schlechthin richtet. Die Verweigerung der materiellen Mittel an diesen Staat kann für uns ebenso wenig eine Frage der Zweckmäßigkeit sein, wie unser Kampf gegen die Klassenherrschaft der Bourgeoisie, wie unser Bestreben, das Lohnsystem zu beseitigen und den Sieg des Proletariats herbeizuführen. Es ist unser Wesen selbst als einer Partei des Klassenkampfes, das hier in Frage kommt, und von diesem Standpunkt aus besteht zwischen dem Budget des Reiches und dem der Einzelstaaten nicht der geringste Unterschied.

Ob das Budget mehr oder weniger Militärausgaben oder Kulturausgaben enthält, diese quantitativen Erwägungen wären für uns nur in dem Falle maßgebend, wenn wir im allgemeinen auf dem Boden des heutigen Staates ständen und bloß seine Auswüchse, so, zum Beispiel den Militärstaat, bekämpften. Indem Fendrich und Genossen unsere Ablehnung des Reichsbudgets ausschließlich auf die darin enthaltenen Ausgaben für den Militarismus zurückführen, imputieren sie uns schon dadurch eine Politik, die wohl für bürgerliche Parteien gelten kann, die aber von der Sozialdemokratie bis jetzt niemals akzeptiert worden ist. Tatsächlich verweigern wir dem Deutschen Reiche die Mittel des steuerzahlenden Volkes nicht bloß deshalb, weil es ein Militärstaat, sondern vor allem, weil es ein bürgerlicher Klassenstaat ist. Letzteres bezieht sich aber in demselben Maße auf die deutschen Bundesstaaten.

Für Fendrich und Genossen enthält das Budget Badens „zu neun Zehnteln Kulturausgaben" und es hätte „keinen Sinn, soziale Forderungen an die Regierungen zu stellen und das Budget, das in der Hauptsache kulturelle Forderungen enthalte, abzulehnen" (Karlsruher „Volksfreund" vom 27. Februar 1901, Bericht über die Parteikonferenz in Offenburg). Es wird damit der Versuch gemacht, die innere Politik der deutschen Bundesstaaten als „in der Hauptsache" über jeden Klassencharakter erhabene Kulturarbeit hinzustellen, die den „sozialen Forderungen" der Sozialdemokratie entspricht. Nun ist uns bis jetzt keine „soziale Forderung" unseres Programms bekannt, die von der badischen Regierung erfüllt worden wäre. Was kann also von unserer Landtagsfraktion als solche „kulturelle" Posten des badischen Budgets im Sinne der Sozialdemokratie betrachtet werden? Offenbar die Gehälter der Bürokratie Badens, auf deren Anstellung die Volksmasse nicht den geringsten Einfluss übt, die Kosten der Polizei, der Gendarmerie, der Gerichte und der Gefängnisse die zum Schutze des Privateigentums, zur Aufrechterhaltung „der Ordnung" und zur Ahndung sozialdemokratischer Verbrechen dienen, die Verwaltungskosten der badischen Staatseisenbahnen, die aus der Ausbeutung der Arbeiter und Angestellten ihre Renten abwerfen, die Verwendungen für die Landwirtschaft, die unter dem Vorwand von agrarischen „Kulturzwecken" zu neun Zehnteln zur Begünstigung des Großgrundbesitzes dienen, endlich die Verwendungen für das Unterrichtswesen, das seinem ganzen Geiste nach vor allem für die besitzenden und begüterten Klassen berechnet ist. Und das alles bestritten aus Mitteln, die zum überwiegenden Teile aus den Taschen der unvermögenden Volksmasse entnommen werden. Mit einem Worte, als Kulturarbeit, deren Unterstützung durch die „sozialen Forderungen" unserer Partei selbst bedingt wird, erscheint nach Fendrich die ganze Klassenpolitik der badischen Regierung, die sich, wie jede andere, in ihrer gesamten Tätigkeit als „der verwaltende Ausschuss der herrschenden Bourgeoisie" bewährt.

Wir sind nicht in der Lage, hier die Tätigkeit unserer badischen Fraktion im Landtag im Einzelnen nachzuprüfen. Nach den auf der Konferenz in Offenburg geäußerten Ansichten zu urteilen, wo Fendrich zum Beispiel erklärt hat, „ein sozialistisches Endziel gäbe es überhaupt nicht", dürfte das Verhalten der Fendrich und Genossen in der Volksvertretung Badens überhaupt sehr geringe Spuren von Sozialismus an sich haben. Hätten sie aber auch eine noch so entschiedene und streng sozialdemokratische Kritik an der gesamten Regierungspolitik geübt – durch die schließliche Bewilligung der Existenzmittel an dieselbe Regierung wäre ihre sonstige Opposition zur leeren Phrase gemacht. Das Entscheidende für die Beurteilung der politischen Stellung einer Partei, dasjenige, was die Sozialdemokratie im Parlament von allen bürgerlichen Parteien unterscheidet, ist die prinzipielle Bekämpfung der bürgerlichen Regierung überhaupt, die sich am deutlichsten in der Ablehnung des Finanzgesetzes äußert. Durch die Annahme des Budgets haben sich Fendrich und Genossen, die in den Landtag zur Bekämpfung der Klassenpolitik der badischen Regierung von ihren Wählern geschickt wurden, zu Mitschuldigen und Mitverantwortlichen dieser Klassenpolitik gemacht, das heißt, sie haben ihren Charakter als sozialdemokratische Volksvertreter verleugnet.

II.

Der innere Zusammenhang, welcher zwischen den Grundsätzen und der Taktik der Sozialdemokratie besteht, bewirkt es, dass eine Politik, die vom prinzipiellen Standpunkt verwerflich ist, nimmermehr vom taktischen als angebracht erscheinen kann.

Treten wir auf den Standpunkt Fendrichs und Genossen über, und nehmen wir für einen Augenblick an, das Verhalten der sozialdemokratischen Abgeordneten bei der Budgetabstimmung in den Einzelstaaten sei lediglich eine Frage der Taktik. Nehmen wir desgleichen mit ihnen an, unsere Partei lehne im Reichstag das Finanzgesetz deshalb ab, weil es zum größten Teile auf den Militarismus zugeschnitten ist. Auch in diesem Falle, das heißt vom eigenen taktischen Standpunkt der badischen Abgeordneten aus, erscheint ihre Budgetbewilligung als ein grober politischer Fehler.

Es ist in der Tat angesichts der organischen Einheit, welche politisch zwischen dem Deutschen Reiche und seinen Bestandteilen existiert, nichts als Inkonsequenz, dem Reiche die Mittel zu verweigern, den Einzelstaaten aber zu bewilligen. Der Militarismus, um deswillen man die Ablehnung des Reichsbudgets gelten lassen will, wird vom Deutschen Reiche nicht etwa irgendwo außerhalb der Bundesstaaten oder in ihren Intermundien gepflegt, sondern er wird aktiv und passiv von Baden wie von allen anderen Staaten mitgemacht. Es ist ja gerade die reaktionäre Haltung der deutschen Bundesstaaten in den Fragen des Militarismus und der auswärtigen Politik, wie sie sich bei der letzten Flottenvorlage gezeigt hat, die für den heutigen Kurs in Preußen-Deutschland in erster Linie verantwortlich zu machen ist. Dasselbe trifft auf die Zollpolitik, auf die innere Politik zu. Ebenso wie den Land- und Wassermilitarismus, machen die Südstaaten den Brotwucher des Reiches, die Zuchthausvorlage, die gesamte innere und auswärtige Reaktion mit.

Die grundsätzliche Unterscheidung des Reichs- und der Staatsbudgets, der Reichs- und der Einzelstaatspolitik ist ein Ausfluss der auch in manchen Parteikreisen im Süden spukenden Ansichten, wonach die herrschende Reaktion nur auf das Reich, und namentlich auf Preußen zurückgeführt wird, die Südstaaten aber als politische Gebilde für sich betrachtet werden, die, von Hause aus demokratisch, nur durch ihre Ohnmacht gegenüber Preußen an dessen Scheußlichkeiten teilzunehmen gezwungen werden. Es ist dies aber nichts als ein kritikloses Nachbeten der süddeutschen Partikularisten à la Sigl, die als echte Kleinbürger den geschichtlichen, dialektischen Zusammenhang zwischen der „Demokratie" des Südens und der Reaktion des Nordens nicht zu erfassen vermögen und die die schönen Blüten der modernen zentralistischen Großstaatsexistenz – den wirtschaftlichen Aufschwung, die politische Machtstellung – gern pflücken möchten, die andere Seite derselben Entwicklung aber: den zentralisierten reichsdeutschen Militarismus mit der reichsdeutschen Reaktion unter Preußens Hegemonie bloß als lästige und überflüssige Beigaben betrachten.

In Wirklichkeit ist es gerade der Umstand, dass der Militarismus vom Reiche im Namen und für die Rechnung der Südstaaten kultiviert wird, der es eben den Südstaaten ermöglicht, bei sich zu Hause als die unterdrückte demokratische Unschuld zu erscheinen und sich „in der Hauptsache" den Fendrichsschen „Kulturaufgaben" zu widmen. Neben der ökonomischen, das heißt der großkapitalistischen Entwicklung ist es, als ihre politische Ergänzung, eben der Militarismus, der in dem Deutschen Reiche in seiner heutigen Gestalt das stärkste Bindeglied, das Element der Einheit, der Zusammengehörigkeit für die Staaten bildet. Nicht die reichsdeutsche Reaktion ist deshalb eine Folge der politischen Machtlosigkeit der Südstaaten im Reiche, sondern umgekehrt, diese Machtlosigkeit ist ein logisches Ergebnis der allgemeinen militaristischen Entwicklung der deutschen Einzelstaaten, die sie an das Reich und an Preußen mit eisernen Ketten bindet.

Und ebenso wie alle Bundesstaaten Deutschlands militaristisch und politisch nur ein Territorium bilden, ebenso sind die Budgets der Einzelstaaten lediglich Ergänzungen zum Reichsbudget, mit dem sie politisch ein organisches Ganzes darstellen und von dem sie nur kraft äußerer historischer Eigentümlichkeiten gesondert aufgestellt und votiert werden.

Um dies einzusehen, bedarf es durchaus nicht der sozialdemokratischen Grundsätze. Auch eine jede bürgerliche Partei, die es mit der Bekämpfung des Militarismus in Deutschland wirklich ernst machen würde, müsste, sofern sie einigermaßen auf Weitblick und groß angelegte Politik hielte, in den Einzelstaaten dieselbe Oppositionsstellung einnehmen wie dem Reiche gegenüber. Vom Standpunkt der Sozialdemokratie aber, die in ihrer Tätigkeit in allen Stücken auf die politische Entwicklung in ihrer Gesamtheit, in ihren großen Zusammenhängen ausgeht, ist die künstliche Trennung der Politik der Einzelstaaten von der des Reiches ein direkter Rückfall in die kleinbürgerlich-partikularistische Beschränktheit, und die Bewilligung der Finanzmittel an die Einzelstaaten erscheint als die Unterstützung in partibus (gebietsweise) desselben Militarismus und derselben Reaktion des Deutschen Reiches, die man durch die Ablehnung des Reichsbudgets bekämpft.

III.

Jedes Mal, wo man der Partei die Aufopferung ihrer prinzipiellen Stellung zumutet, geschieht es im Namen der „praktischen Politik". Auch Fendrich erklärte in seinem Bericht auf der badischen Landeskonferenz, „dass man beim Eintritt in eine solche gesetzgebende Körperschaft (Landtag) die Erfahrung mache, dass man aus der Welt der idealen Begriffe in die der realen Verhältnisse trete, wo die Sachen sich hart im Raume stoßen. Wir müssen unser Augenmerk mehr auf das Erreichbare als auf das Wünschenswerte richten" („Der Volksfreund" vom 27. Februar).

Vom Standpunkt des „Erreichbaren" haben auch Fendrich und Genossen ebenso wie jetzt dem Ministerium Schenckel bereits früher wiederholt das badische Budget bewilligt. Was haben sie nun damit erreicht?

Stellen wir uns wiederum für einen Augenblick auf den eigenen Standpunkt unserer „praktischen Politiker" und nehmen wir an, es handelte sich vor allem um die Sicherung der berühmten „kulturellen Forderungen". Wäre das Schicksal des Budgets von der Abstimmung der sozialdemokratischen Fraktion abhängig, dann hätte die Budgetbewilligung, so verkehrt sie vom prinzipiellen wie vom taktischen Standpunkt war, wenigstens einen praktischen Sinn. Aber unsere Fraktion mit ihren sieben Mann bildet im badischen Landtag eine winzige Minorität. Ob Fendrich und Genossen für oder wider stimmten, das Budget und damit die ihrem Herzen teuren „Kulturausgaben" wären sowieso bewilligt worden. Irgendwelcher zwingende Grund lag für die Budgetbewilligung der Sozialdemokraten überhaupt nicht vor, somit erscheint die ganze „praktische" Bedeutung der Fendrichschen Taktik gleich Null.

Und das ist gerade das Bezeichnendste. Solange die Sozialdemokratie eine Minderheit im bürgerlichen Parlament bildet, hat ihr Votum in den meisten Fällen, speziell wo es sich um die Gesamtpolitik und den Bestand des Staates handelt, eine rein agitatorische Bedeutung. Dadurch, dass sie die unversöhnliche Haltung gegenüber der bürgerlichen Klassenherrschaft in entschiedener Weise zum Ausdruck bringt, ist die Budgetverweigerung für die Sozialdemokratie ein mächtiges Mittel, die Volkskreise über ihre parlamentarische Stellung aufzuklären. In der moralischen Wirkung auf das Volk liegt also die ausschlaggebende Bedeutung der sozialdemokratischen Budgetablehnung, diese behält sie aber nur, insofern sie eine ständige, eine grundsätzliche ist.

Will die sozialdemokratische Minderheit ihre Budgetverweigerung nach bürgerlichen Mustern in ein nur in besonderen Fällen angewendetes praktisches Mittel der parlamentarischen Kämpfe verwandeln, so verscherzt sie nicht bloß die agitatorische Wirkung ihrer Opposition, sondern sie gewinnt auch keinen Einfluss auf die Regierungspolitik.

Es genügt, um die praktischen Erfolge einzusehen, die Fendrich und Genossen durch ihre wiederholte Budgetbewilligung in Baden eingesackt haben, bloß diejenigen Beschwerden zusammenzufassen, die auf der Landeskonferenz in Offenburg gegen die Regierung vorgebracht wurden. Zunächst erfahren wir vom Berichterstatter Opificius, dass die badische Polizei – dieselbe Polizei, der die sozialdemokratische Fraktion die Gehälter bewilligt hat – unseren badischen Genossen ein in 100.000 Exemplaren hergestelltes Agitationsflugblatt konfisziert hat, dass sie auch bei der letzten Maifeier „ganz besonders schneidig" vorgegangen ist und in mehreren Städten wegen Straßenumzugs über die Arbeiter Strafen verhängt hat. Der Berichterstatter Fendrich erzählt uns, dass die Regierung – dieselbe Regierung, der man ein Vertrauen gegeben hat – eine Petition der Eisenbahnarbeiter betreffend Erhöhung ihrer Gehälter, desgleichen eine Petition der Bauarbeiter, betreffend eine staatliche Baukontrolle nicht der geringsten Berücksichtigung gewürdigt hat. Von Fendrich und von Dreesbach hören wir endlich, dass alle Bemühungen der Sozialdemokratie, ein allgemeines direktes Wahlrecht zum Landtag und Gemeinderat zu erringen, bis jetzt umsonst gewesen sind. Dieser Umstand allein genügt, um die „praktische Seite" der badischen Landtagstaktik ins rechte Licht zu rücken, Die Existenzmittel einem Staate bewilligen, der dem sozialdemokratischen Kampfe in jeder Form Knüppel zwischen die Beine wirft, der seine eigenen Lohnsklaven unverschämt ausbeutet und für ihre bescheidensten Forderungen taube Ohren hat, einem Staate, der der Arbeiterklasse sogar das elementarste politische Recht, das allgemeine direkte Wahlrecht verweigert – das ist gewiss das denkbar originellste Mittel, sich Macht und Einfluss auf die Politik des Staates zu verschaffen. Es ist eine ständig zu beobachtende Tatsache, dass die Sozialdemokratie, sobald sie den festen Boden der prinzipiellen Politik verlässt, viel tiefer sinkt, als die bürgerlichen Parteien. Wir möchten nämlich diejenige bürgerliche Partei sehen, die, wenn ihr eine derartige Behandlung zuteil würde, wie der Sozialdemokratie in Baden, der Regierung ein Vertrauensvotum zu Füßen legen möchte. Wenn die Bourgeoisie an ihren eigenen Grundsätzen Verrat übt, so weiß sie wenigstens stets, weshalb sie's tut, so sieht sie dabei jedes Mal auf das mehr oder minder fette Linsengericht hin, das ihr gewährt wird. Aber sich in ganz uneigennütziger Liebe hinwerfen, um damit Ohrfeigen und Fußtritte zu quittieren – das blieb ausschließlich dem genialen staatsmännischen Sinne unserer „praktischen Politiker" vorbehalten. Es ist hier wie sonst nur Selbsttäuschung und Selbstüberschätzung, wenn sie sich einbilden, Prinzipienlosigkeit aus praktischer Berechnung zu üben. Was sie tatsächlich betreiben, ist bloß Prinzipienlosigkeit ohne jeden praktischen Zweck, genauer Prinzipienlosigkeit aus Prinzip.

Der Fall in Baden bietet einen erwünschten Anlass, um in die Taktik mancher unserer Landtagsfraktionen hineinzuleuchten. Und wenn Fendrich und Genossen beteuern, dass sie ihre Taktik „unter strengster Wahrung der Parteigrundsätze" befolgen, so wird es Sache der Partei sein, ihnen bei der nächsten Gelegenheit klarzumachen, dass die Bewilligung der Mittel an einen bürgerlichen Klassenstaat unter strengster Wahrung der sozialdemokratischen Grundsätze ebenso viel heißt, wie zum Beispiel Krieg unter strengster Wahrung der Nächstenliebe, Diebstahl unter strengster Wahrung des Eigentumsrechtes, Prostitution unter strengster Wahrung der Tugend.

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