Rosa Luxemburg 19000825 Bürgerliche Arbeiterschutzkongresse und Sozialdemokratie

Rosa Luxemburg: Bürgerliche Arbeiterschutzkongresse und die Sozialdemokratie

[Erschienen in der „Neuen Zeit", VIII. Jahrgang Nr. 48, 25. August 1900. Nach Gesammelte Werke Band 3, 1925, S. 216-220]

In der neuesten Nummer des „Mouvement Socialiste" (vom 15. August) bespricht Georges Fauquet den soeben in Paris abgehaltenen internationalen Kongress für Arbeiterschutzgesetzgebung und macht dabei unserer Partei Vorwürfe, dass sie sich von dieser Zusammenkunft fernhielt: „Die Verhandlungen des Kongresses hätten sicher an Präzision, das Niveau der Debatten an Höhe gewonnen, wenn unsere deutschen Genossen sich nicht (bei ihrem Fernbleiben) durch untergeordnete Gesichtspunkte hätten leiten lassen, die wir nur ahnen, aber nicht begreifen können". Aus diesem und dem darauffolgenden Passus erhellt, dass Fauquet sich das passive Verhalten der deutschen Sozialdemokratie gegenüber dem Pariser Arbeiterschutzkongress hauptsächlich durch den Wunsch unserer Partei erklärt, den internen Streitigkeiten des französischen Sozialismus gegenüber neutral zu bleiben. Es ist dies aber eine völlig irrtümliche Annahme. Unsere Partei kann für ihr Verhalten ganz andere und gewichtigere Gründe anführen, die mehr mit den grundsätzlichen Standpunkten der Sozialdemokratie zusammenhängen. Da Fauquet obendrein mit einer warmen Aufforderung an die sozialistischen Parteien schließt, der von dem Pariser Kongress geschaffenen „Internationalen Assoziation für den gesetzlichen Arbeiterschutz" beizutreten, so dürfte es angebracht erscheinen, diese Gründe hier kurz darzulegen.

Der Arbeiterschutz gehört allerdings zu jenen Forderungen der Sozialdemokratie, die vollkommen auf dem Boden der gegenwärtigen Ordnung erfüllt werden können, die ferner an sich die kapitalistischen Verhältnisse nicht im mindesten aufheben, also – abstrakt genommen – auch von der Bourgeoisie, insofern sie ein wenig weitblickend ist, akzeptiert werden müssten. Ja noch mehr. Die Entwicklung der Produktion und ihrer Technik bringt die objektive Grundlage für die fortschreitende Entwicklung des Arbeiterschutzes mit sich. Dennoch sehen wir nicht nur die Bourgeoisie nicht freiwillig den Arbeiterschutz gewähren, wir sehen umgekehrt, dass alles, was bis jetzt an Arbeiterschutz erreicht worden, direkt oder – wie in England zum Teil – indirekt ein Ergebnis des Klassenkampfes der Arbeiter ist.

Nun werden wir vor die Frage gestellt, ob wir nicht durch ein Zusammengehen mit allen mit dem Arbeiterschutz sympathisierenden bürgerlichen Elementen mehr als bis jetzt durch selbständigen Kampf erreichen könnten. An sich, das heißt im Prinzip, kann ein Zusammengehen in bestimmten praktischen Fragen, z. B. wo es sich um demokratische Freiheiten handelt, mit bürgerlichen Gruppen überall da als möglich erscheinen, wo sie aus eigenem Interesse dieselben Ziele wie das Proletariat verfolgen, wo folglich die gegenseitige Unterstützung die Macht vergrößert, die gegen den gemeinsamen Feind – eine andere bürgerliche Gruppe – gerichtet wird. Im gegebenen Falle liegen jedoch die Dinge anders. Wir sehen keine bürgerliche Partei oder Gruppe, die etwa im eigenen Interesse den Arbeiterschutz anstreben und auf diese Weise eine Macht darstellen würde, mit der man sich eventuell alliieren könnte. Was uns diesmal entgegensteht, ist ein Sammelsurium heterogenster Elemente, die zusammen weder eine Klasse, noch eine Partei, noch irgend eine politische Gruppe darstellen, die vielmehr jedes einzeln in verschiedenen Parteien und Gruppen fortschrittliche Eingänger, weiße Raben sind. Es ist dies im besten Falle eine zufällige Vereinigung mehr oder minder aufrichtiger Ideologen, die nicht im Namen irgendeiner gesellschaftlichen Macht, sondern in ihrem eigenen Namen an uns appellieren. Wollten diese Elemente uns in unserem Kampfe für den Arbeiterschutz unter die Arme greifen, dann würden sie sich ohne weiteres zu uns gesellen und in Reih' und Glied mit uns kämpfen. Wollten sie andererseits den Widerstand der Bourgeoisie gegen unsere Forderungen auf diesem Gebiet brechen, dann brauchten sie nur eine entsprechende Agitation in den bürgerlichen Kreisen zu entfalten, wozu unsere Mitwirkung ganz überflüssig erschiene. Handelte es sich ferner darum, den bürgerlichen Freiwilligen die positive Seite der Frage, das Material, die Gesichtspunkte, die Anleitung zur Aktion mitzuteilen, dann stehen unsere Arbeiterkongresse, unsere Literatur und parlamentarische Aktion als Muster und Lehranstalten für jedermann offen. Und kommt es schließlich darauf an, unsererseits den guten Willen zur freudigen Entgegennahme auch der geringsten positiven Konzessionen zu bekunden, so wurde und wird dieser gute Wille unzählige Male bei jeder Gelegenheit in Parlamenten, Volksversammlungen, in der Presse, in Wort und Tat an den Tag gelegt.

Wenn von uns die Vereinigung mit den bürgerlichen Elementen zu einer gemeinsamen Aktion für den Arbeiterschutz verlangt wird, so handelt es sich dabei offenbar um anderes. Es handelt sich darum, dass erst durch unseren Hinzutritt das bunte Sammelsurium dieser Elemente zu Vertretern bestimmter sozialer Interessen, erst durch die Vereinigung mit uns zu einer gesellschaftlichen Macht gemacht werden soll.

Würde aber die geplante gemeinsame Aktion in derselben Weise geführt werden, wie sie von den Arbeiterparteien ohnehin und seit jeher geführt wird, das heißt als Klassenkampf gegen die Bourgeoisie und bloß als ein Fragment des allgemeinen Emanzipationskampfes des Proletariats, dann würden die bürgerlichen Alliierten nicht nur nicht aus ihrer Bedeutungslosigkeit zu einer Macht emporgehoben, sondern umgekehrt zu Anhängseln des proletarischen Klassenkampfes, und der ganze Plan der „Vereinigung" gegenstandslos gemacht werden. Nur dann bekommt die Aktion dieser Elemente, zu der wir eingeladen werden, einen Sinn und Zweck, wenn sie anders, denn von uns geführt, wenn sie durch die Vereinigung der Arbeiterschaft mit verschiedenartigsten bürgerlichen Eingängern zu einer „höheren Einheit" erhoben, aus dem rein proletarischen Klassenkampf in das Stelldichein aller Elemente „mit gutem Willen" verwandelt, wenn sie sozusagen sozial „neutralisiert" werden soll. Der ganze Kern der neuesten bürgerlichen Regungen zugunsten des Arbeiterschutzes liegt in der Annahme, nicht dass bis jetzt seitens der Arbeiterparteien zu wenig für diese Forderung geschehen sei, sondern dass das Geschehene nicht in der entsprechenden Weise geschehen, dass nämlich die Aufnahme der Forderungen seitens der Bourgeoisie eine ganz andere sein würde, wenn sie statt als ein Programmpunkt des sozialistischen Kampfes vielmehr als eine Forderung der sozialen Fürsorge, als ein Hebel des sozialen Friedens, als politisch-neutrale Losung, deshalb unterschiedslos von allen wohlmeinenden Menschen verschiedener Klassen und Parteien aufgestellt wäre. Praktisch bedeutet also die Vereinigung der Sozialisten mit den bürgerlichen Freunden des Arbeiterschutzes zu einer gemeinsamen Aktion vor allem eine Änderung der Kampfweise, die Ausscheidung des Arbeiterschutzes aus dem Bereich der sozialistischen Agitation, das Verlassen des Klassenstandpunktes auf diesem Gebiet.

Die „Neutralität" des Arbeiterschutzes lässt sich auch nur so lange als Schein aufrechterhalten, als die heterogenen Elemente sich auf die vorbereitenden Besprechungen beschränken. Sobald sie sich aber anschicken, zur Aktion, zur Tat überzugehen, verdampft die „Neutralität" als eine Illusion und es stellt sich die Frage ein: in welcher Weise die Agitation für den Arbeiterschutz getrieben werden soll, ob als eine nächste Forderung der zur völligen Befreiung strebenden Arbeiterklasse und im Zusammenhang mit ihr, oder aber umgekehrt als ein Mittel, die sozialen Gegensätze auszugleichen und aufzuheben, das heißt im Grunde genommen als ein Mittel gegen die sozialistische Befreiung der Arbeiterklasse. Der Übergang aus dem Bereich der Kongressreden zu Taten muss deshalb zum unmittelbaren Ergebnis haben: entweder den Zerfall der soeben zusammen geleimten Aktion in proletarischen Klassenkampf und bürgerliche Sozialphilanthropie, das heißt den Rückfall der letzteren in ihr Nichts, oder aber – den Verzicht der sozialistischen Partei in diesem Kapitel auf den Klassenkampf und den Übertritt ihrerseits im Kampfe um den Arbeiterschutz auf den Boden der sozialen Interessenharmonie.

Vom Standpunkt des neuerdings in unseren Reihen modern gewordenen Gedankenganges könnte man jedoch einwenden: die Art und Weise, wie die Agitation für den Arbeiterschutz geführt wird, ist an sich belanglos, das Resultat ist das allein Maßgebende. Wenn die Vereinigung mit bürgerlichen Freunden dieser Forderung uns zu greifbaren Erfolgen, zur tatsächlichen Stärkung des Arbeiterschutzes führen könnte, dann mag die Agitation hierfür beschaffen sein, wie sie wolle: der Arbeiterschutz selbst ist unter anderen eine zum Sozialismus führende, ja, er ist gewissermaßen schon an sich eine partielle sozialistische Errungenschaft.

Allein die Rechnung, durch Preisgebung des Klassenstandpunktes im Kampfe den Kampf positiv erfolgreicher zu gestalten, beruht hier, wie sonst, auf einem einfachen Rechenfehler. Die zersprengten bürgerlichen Elemente, mit denen vereinigt die Sozialisten größere Erfolge erzielen sollen, als sie es allein bisher vermochten, sind an sich, wie gesagt, in ihrer Arbeiterfreundlichkeit völlig macht- und bedeutungslos und zwar bedeutungslos im eigenen Lager – in der bürgerlichen Klasse. Zur Macht und zum Einfluss soll ihnen gerade die Vereinigung mit der proletarischen Masse, mit den Sozialisten verhelfen. Und zwar eine Vereinigung, bei der die Arbeiter, die Sozialisten im Kampfe um den Arbeiterschutz auf ihren Standpunkt, auf den Standpunkt der „neutralen", über den Klassen stehenden, sozialen Wohltätigkeit hinüber treten. Das heißt, die Bedeutung der ideologischen Freunde des Arbeiterschutzes setzt voraus, dass sie uns zur Bedeutungslosigkeit herabdrücken, ihre Macht setzt voraus, dass es ihnen gelingt, unsere Macht zu brechen, der wir jedenfalls alles bis jetzt positiv Errungene verdanken.

Nun kann das Ansehen, das ihnen dies vollbrachte Werk verleihen würde, wohl dazu führen, den bürgerlichen Gönnern des Arbeiterschutzes Lehrstühle an den Universitäten, Ministerportefeuilles und andere Vertrauensposten einzubringen, nimmermehr kann sie aber dazu führen, die Bourgeoisie als Klasse zum Arbeiterschutz zu bekehren. Diese wie alle anderen opportunistischen Spekulationen haben nämlich die Illusion zur gemeinsamen Quelle, dass die Bourgeoisie an sich, so lange die Arbeiterforderungen lediglich auf dem Boden der bestehenden Ordnung bleiben, wohl zu Zugeständnissen bereit wäre und nur durch die mit diesen Forderungen verquickten umstürzlerischen Bestrebungen von den Zugeständnissen abgehalten wird. Es mag so die abstrakte Bourgeoisie, das heißt im Schema im spekulationslustigen Hirn des Utopisten der „praktischen Politik", aussehen. Die leibliche, konkrete Bourgeoisie, mit der wir auf Schritt und Tritt zu tun haben, ist von ganz umgekehrter Beschaffenheit. Sie denkt nämlich nicht im Traume daran, Zugeständnisse zu machen, und mögen sie noch so rein und konsequent von jeder umstürzlerischen Tendenz los geschält werden. Nur jener abstrakten Bourgeoisie ist das abstrakte Schema der „bestehenden Ordnung" teuer und nur jene abstrakte Bourgeoisie ist in diesen Grenzen willig, bis ans Äußerste zu gehen. Die konkrete Bourgeoisie pfeift auf das Schema der „bestehenden Ordnung" und hält mit Zähnen und mit Nägeln an jedem Heller des lieben Profits fest. Die abstrakte Bourgeoisie, wie sie dem „praktischen" Utopisten erscheint, mag gern alle möglichen Zugeständnisse machen wollen und von ihnen nur durch das Gespenst des sozialistischen Klassenkampfes abgeschreckt werden. Die konkrete Bourgeoisie will um nichts in der Welt von Konzessionen hören und wird zu jedem, auch dem geringsten Schritte auf dieser Bahn nur durch den Kolben des proletarischen Klassenkampfes voran gedrängt.

So erweist sich die Spekulation, durch die Zusammenfassung mit den bürgerlichen Ideologen dem Arbeiterschutz einen neuen Aufschwung zu sichern, als völlig verkehrt. Um diese Zusammenfassung in der Partei zu ermöglichen, müssten wir auf diesem Gebiet auf den mit unseren Endzielen verbundenen revolutionären Charakter der Agitation, damit aber auch auf den Machtfaktor verzichten, dem wir jegliche praktischen Erfolge verdanken.

Daraus ergibt sich klar die Stellung der Sozialdemokratie sowohl zu den bürgerlichen „Arbeiterschutzkongressen", wie noch mehr zu deren Schöpfungen – den bürgerlichen „Assoziationen" zur Begönnerung des Arbeiterschutzes. Wenn unsere Partei im Jahre 1897, durch vielleicht etwas überschwängliche Großmut geleitet, an dem ersten solcher Kongresse in Zürich teilnahm, so entschloss sie sich, ihre Zeit und Mittel sicher nur aus Rücksicht auf die an jenem Kongress stark interessierten katholischen Arbeitervereine zu rein agitatorischen Zwecken herzugeben. Bei dem Pariser Kongress verschwinden auch diese Rücksichten, und das Fernbleiben der deutschen Sozialdemokratie will uns in diesem Falle viel plausibler erscheinen als die Gründe, die einige unserer französischen Freunde zur Teilnahme an dem Pariser Kongress mögen bewogen haben.

In wenigen Wochen tritt in Paris der internationale Arbeiterkongress zusammen, der unter anderem, wie stets, die Frage des Arbeiterschutzes behandeln und dabei Gelegenheit haben wird, auch hier eine scharfe Scheidegrenze zwischen der sozialistischen Arbeiterschaft und den bürgerlichen Ideologen zu zielen, die weder das Klasseninteresse des Proletariats, noch das der Bourgeoisie, sondern lediglich das Interesse an der Aufhebung des Klassenkampfes zwischen Proletariat und Bourgeoisie ideologisch vertreten.

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