Rosa Luxemburg 19110515 Der Disziplinbruch als Methode

Rosa Luxemburg: Der Disziplinbruch als Methode

[Erschienen in der „Leipziger Volkszeitung" vom 15. Mai 1911. Nach Gesammelte Werke Band 3, 1925, S. 464-468]

Die Oberbürgermeisterwahl in Stuttgart ist vorüber, und es fallen damit für die Gesamtpartei alle Rücksichten weg, die sie etwa im ersten Augenblick von einer kritischen Prüfung des Falles Lindemann hindern mochten. Durch die Niederlage des sozialdemokratischen Kandidaten ist die Parteibewegung in Stuttgart vor den peinlichsten Situationen und vor unvermeidlichen Reibungen und Kämpfen bewahrt worden. Nebenbei ist es interessant, zu beobachten, wie sich die „praktische Politik des Opportunismus", die leichten Herzens die Parteigrundsätze als unnützen Plunder über Bord zu werfen bereit ist, hier selbst eine Niederlage bereitet hat. Diese Richtung, aus der heraus die Erringung eines Oberbürgermeisteramts wichtiger ist als Parteidisziplin und Parteitradition, rechnet ja hauptsächlich mit den Zukunftsproben des Liberalismus, der in Süddeutschland gemeinsam mit der Sozialdemokratie vorgehen soll.

Was zeigen aber die Wahlen zum Oberbürgermeisteramt? Sie zeigen einen heftigen Ruck aller bürgerlichen Schichten nach rechts, zur Reaktion, und das unaufhaltsame Zusammenschmelzen der Volkspartei.1) Ja, das schönste ist, dass nach dem Geständnis freisinniger Blätter selbst, so des „Berl. Tageblatts", ca. 1000 volksparteiliche Wähler ihren eigenen Parteikandidaten Keck verraten haben, um in das Lager des reaktionären Mischkandidaten Lautenschlager zu eilen! So hat die opportunistische Spekulation, wie stets, auch in Stuttgart kläglich Schiffbruch erlitten. Allein die Umstände, unter denen die sozialdemokratische Kandidatur in Stuttgart aufgestellt und verfochten worden ist, bleiben ein wichtiges Pronunziamento (Warnruf) im Leben der Partei, zu dem sie unbedingt Stellung nehmen muss.

Erst vor zwei Jahren, auf dem Parteitag in Leipzig, hat sich die oberste Instanz der Partei mit der Frage der Teilnahme sozialdemokratischer Vertreter an monarchistischen Kundgebungen befasst. Den Anlass dazu hatten gerade einige württembergische Landtagsabgeordnete, darunter Dr. Lindemann, mit ihrem Ausflug nach Friedrichshafen und dem Besuch beim König gegeben. Das allgemeine Aufsehen und die Erregung, die diese „Hofgängeraffäre“ allenthalben in der Partei hervorgerufen hatte, fanden Ausdruck in einer Reihe von Anträgen, die eine scharfe Verurteilung der monarchistischen Kundgebung vom Parteitag verlangten. Schließlich einigte man sich bekanntlich auf den Antrag 49 aus Stuttgart I, der die Teilnahme sozialdemokratischer Abgeordneter an höfischen Zeremonien als einen „Verstoß gegen die Grundsätze der Partei" bezeichnete und erklärte, dass „die Mitwirkung an Veranstaltungen dieses Charakters den Rahmen des Auftrages überschreitet, der Parteigenossen durch die Übertragung eines Vertrauensamtes erteilt wird. Für künftige Fälle gleicher Art hat die Respektierung dieser Parteiansicht als Grundlage einer Ausübung von Vertrauensämtern zu gelten." Als die Annahme dieses Antrages durch den Parteitag unmittelbar bevorstand und nicht bezweifelt werden konnte, gaben die Stuttgarter „Hofgänger" eine Erklärung ab, worin sie versicherten, die Teilnahme an einer monarchistischen Demonstration gar nicht beabsichtigt zu haben.

Hätten wir jedoch annehmen können," fuhren sie dann fort, „dass dieser Ausflug in seinem weiteren Verlauf zu einer monarchistischen Huldigung benutzt werden würde, so wären wir, der Parteitradition entsprechend, die auch für uns maßgebend ist, der Veranstaltung fern geblieben."

Da diese Erklärung also eine unumwundene Unterwerfung unter die im Antrag Stuttgart I ausgesprochene Auffassung der Partei war, so nahm der Parteitag keinen Anstand, sich damit zufrieden zu geben, und der Antrag 49 wurde zurückgezogen. Doch sollte die Sachlage noch unzweideutiger charakterisiert werden. Paul Singer, der in Leipzig zum letzten Mal den Vorsitz auf einem deutschen Parteitag führte, benutzte die Gelegenheit, um den republikanischen Standpunkt der Sozialdemokratie als den für alle Parteiämter maßgebenden mit seiner gewohnten ruhigen Festigkeit zu unterstreichen. Singer sagte:

Nunmehr möchte ich im Anschluss an diese Mitteilungen die Meinung aussprechen, da ich voraussetze und der Zustimmung des Parteitages sicher bin, dass die Erklärung, die seitens der Beteiligten abgegeben wird, wenn auch nicht formell für die sozialdemokratische Fraktion des württembergischen Landtags, doch auch tatsächlich für die übrigen Mitglieder der Fraktion gilt. Ich gebe ferner der zuversichtlichen Erwartung Ausdruck, dass in allen Körperschaften der Partei der Auffassung der Partei, die dahin geht, dass es unsere Aufgabe nicht ist, an monarchistischen Demonstrationen teilzunehmen, sondern dass wir im Gegenteil die Aufgabe haben, unserer republikanischen Auffassung Ausdruck zu verleihen, entsprechend der Tatsache, dass alle Regierungen der bürgerlichen Gesellschaft nicht bloß andere Prinzipien und Ziele vertreten als wir, sondern uns feindlich gesinnt sind und alles tun, um unsere Auffassung zu unterdrücken – ich habe die zuversichtliche Erwartung, dass in allen Körperschaften der Partei bei solchen oder ähnlichen Gelegenheiten den in der Partei geltenden Auffassungen nach wie vor auf das entschiedenste nachgekommen wird."

Die Ausführungen Singers wurden mit dem lebhaftesten Beifall vom Parteitag aufgenommen.

Schon der nächste Parteitag musste sich wieder mit der Frage der monarchistischen Kundgebungen befassen. Dem Magdeburger Parteitag legten der Parteivorstand und die Kontrollkommission zur Budgetfrage die bekannte Resolution vor, deren letzter Passus lautet:

Der Parteitag erklärt weiter die Teilnahme an höfischen Zeremonien und monarchistischen Loyalitätskundgebungen für unvereinbar mit unsern sozialdemokratischen Grundsätzen und macht den Parteigenossen zur Pflicht, solchen Kundgebungen fernzubleiben."

Zweimal hat also die oberste Instanz der Partei klar und deutlich gesprochen. Seitdem ist noch nicht ein Jahr verflossen, und nun wird plötzlich in demselben Stuttgart, dessen Hofgänger in der angeführten Weise von der Gesamtpartei in Leipzig belehrt worden sind, ein Mann als Kandidat für ein öffentliches Amt aufgestellt, der laut erklärt, „dass eine genaue Prüfung der Organisationsbeschlüsse ihm gezeigt habe, dass mit ihnen die Ausübung eines Postens als Oberbürgermeister unmöglich sei, dass er volle Freiheit (unterstrichen in der „Schwäbischen Tagwacht" Nr. 103) in der Ausübung der Repräsentationspflichten, namentlich auch im Verkehr mit der Krone, als Vorbedingung für die Ausführung des Amts betrachte!" Es ist ja für die weitere Partei bis jetzt ein Rätsel geblieben, welche „Organisationsbeschlüsse" hier eigentlich gemeint waren, und es mag friedliebende Gemüter in unserer Partei geben, die sich vielleicht an diesen Strohhalm klammern und damit trösten möchten, dass es sich „bloß" um die Missachtung lokaler Stuttgarter Organisationsbeschlüsse der Partei durch den Herrn Oberbürgermeister in spe handelte. Doch ist nach dem Wortlaut der Erklärungen Lindemanns gar kein Deuteln möglich: es sind nicht irgendwelche lokalen Beschlüsse, sondern Beschlüsse der beiden letzten Parteitage der Gesamtpartei, des Leipziger und des Magdeburger Parteitages, denen der Kandidat ungeniert ins Gesicht zu schlagen versprach, wenn er erklärte, „volle Freiheit namentlich auch im Verkehr mit der Krone" für sich in Anspruch zu nehmen. In jeder Partei, die die nötige Selbstachtung besitzt, müsste es eigentlich klar sein, dass ein Mann, der sich öffentlich gegen formelle und wiederholte Beschlüsse der eigenen Partei auflehnt, sich dadurch ohne weiteres außerhalb der Partei gestellt hat. Anstatt dessen geschah das Unglaubliche: die Stuttgarter Parteiversammlung gab dem Dr. Lindemann im Voraus eine regelrechte Absolution für den flagranten Disziplinbruch und ihren Segen zu denselben „monarchistischen Loyalitätskundgebungen", die die beiden letzten Parteitage auf das Schärfste verurteilt hatten.

In dieser Sachlage konnte offenbar und musste das oberste aus führende Organ der Partei, der Parteivorstand, handeln. Es war seine direkte Pflicht im Sinne des Parteistatuts, gegen den offenkundigen Disziplinbruch in Bezug auf Parteitagsbeschlüsse, mit der ganzen Autorität, die ihm zu Gebote steht, vorzugehen. Obendrein handelte es sich ja um einen von ihm selbst der Partei zur Annahme empfohlenen Beschluss. Was hat der Parteivorstand getan, um seinem eigenen Antrage, um dem Willen und der Auffassung der zwei letzten Parteitage Achtung in Stuttgart zu verschaffen? Diese Frage muss sich jedem Parteigenossen in diesem Augenblick aufdrängen.

Doch nicht genug damit. Eine zweite Überraschung, die der Partei bereitet werden sollte, war der Wahlkampf selbst, wie er von dem Oberbürgermeisterkandidaten und der „Schwäbischen Tagwacht" geführt worden ist. Bis jetzt waren wir in der Partei der Auffassung, dass uns alle Arten öffentlicher Wahlen vor allem dazu dienen, für die Sozialdemokratie und ihr Programm, ihre Auffassung, ihre Ziele die Volksmassen zu gewinnen. Nichts Ähnliches in dem Wahlkampf für den Stuttgarter Oberbürgermeister, wenigstens, wie er in der „Schwäbischen Tagwacht" geführt worden ist. Hier war es die Person des Kandidaten, für die allein gekämpft wurde. Seine Vorzüge, seine Verdienste, seine Absichten, sein Programm – das war es, was man immer wieder zu hören bekam. Dr. Lindemanns „lauterer Charakter", seine „glänzende Befähigung" für das Amt des Oberbürgermeisters, seine „anziehende, vertrauenerweckende Persönlichkeit", sein Talent, „auch die Klinge der Polemik mit Eleganz zu führen", seine „absolute Sachlichkeit, überlegene Ruhe, sicheres Urteil, große geistige Beweglichkeit, nicht zu erschöpfende Arbeitsfreudigkeit", „seine großen Fähigkeiten, sein unantastbarer Charakter, die Achtung, die er in allen Volkskreisen genießt", „sein enormer Ruf als Politiker und Schriftsteller" – das war es, was die „Schwäbische Tagwacht" in allen Gassen ausschrie. Ja, um den ausgezeichneten Ruf des Kandidaten als Gelehrten der Kommunalpolitik den herrschenden Kreisen in volles Licht zu rücken, packte die „Schwäbische Tagwacht" in ihrer Beilage vom 11. Mai auf drei langen Spalten Petit die schmeichelhaften Urteile aller möglichen Professoren, Amtsblätter, ja selbst der „Berliner Morgenpost" und der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" über den bezaubernden Kandidaten aus – eine saure Mühe, der sich wohl der Kandidat selbst mit seiner ganzen Liebenswürdigkeit unterzogen hat –, denn wer sonst in der Welt hätte gleich, sorgfältig zu einem Bündel gesammelt, jedes Lorbeerblättchen bei der Hand, das irgendwann und irgendwo in der Amtsblattpresse für den Dr. Lindemann abgefallen ist? Und erst die große Kandidatenrede des Dr. Lindemann! Sie begann – nicht etwa mit dem Glaubensbekenntnis der Sozialdemokratie, sondern mit den rührendsten Daten über seine anziehende Person:

Man redet viel von mir als dem Ausländer, dem Hannoveraner. Ich würde es gewiss nicht als eine Schande ansehen, Hannoveraner zu sein, aber ich muss mich doch dagegen wehren. Zwar komme ich noch viel weiter her, sogar aus Brasilien, aber ich stamme doch von Stuttgarter Bürgern ab. Mein Vater war allerdings nur ein Norddeutscher, der das Stuttgarter Bürgerrecht erwarb, um eine Stuttgarterin zur Frau zu nehmen, mit der er dann über das große Wasser nach Brasilien zog, wie so viele seiner Landsleute. Meine Mutter aber stammt aus einem alten Stuttgarter Geschlecht, und schon mein Urgroßvater saß als Stadtrat auf dem Stuttgarter Rathause. Die Verbindung mit diesem ist also schon alt." („Schwäbische Tagwacht" Nr. 106.)

Nachdem so nachgewiesen war, dass Dr. Lindemann sozusagen eine erbliche Befähigung zum Stuttgarter Oberbürgermeisteramt besitzt, erzählte der Kandidat seinen Wählern mit aller breiten Behaglichkeit, wo er seine Studien genoss, welche Reisen er schon unternommen, und dann kam „sein" Programm, d. h. „seine" kommunalen Ansichten und Absichten. Von dem Gesamtprogramm der Sozialdemokratie, von den politischen Klassenbestrebungen des Proletariats, war keine Rede. Doch richtig, zum Schluss wurde auch die Sozialdemokratie erwähnt. Nämlich, als es galt, sich von dem Vorwurf zu reinigen, dass Dr. Lindemann ein Sozialdemokrat sei. Hier wies der Kandidat nach, dass seine Zugehörigkeit zur Sozialdemokratie durchaus kein Hindernis für ihn sei, ein ausgezeichneter Oberbürgermeister zu werden, sondern dass dies selbst sehr zuträglich für sein kommunales Wirken sei, da der wahre Geist des Sozialismus für das allgemeine Wohl zu wirken gebiete. Das war auch alles, was die Wähler von den Bestrebungen der Sozialdemokratie, von ihrem politischen Programm erfahren haben.

Mit tiefer Beschämung muss man sagen: derartige Wahlen hat man in der deutschen Sozialdemokratie noch nicht gesehen. Bis jetzt war für uns die Sache, die Partei alles, die Person nichts. Hier war die Partei nichts und die Person alles. Es war keine Agitation für die Sozialdemokratie und ihre Ziele, sondern eine Reklametrommel für Dr. Lindemann und seine Vorzüge. Wir wissen nicht, vielleicht bedingt das Oberbürgermeisteramt gerade eine solche Wahlagitation, die mehr an die amerikanischen Präsidentschaftswahlen, als an den Wahlkampf der deutschen Sozialdemokratie erinnert. Ist dem aber so, dann hätten die Stuttgarter Genossen erst recht Grund gehabt, von dem gefährlichen Experiment ihre Finger zu lassen.

1) Süddeutsche Volkspartei (demokratisch).

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