Rosa Luxemburg 18990906 Die „bayerischen Verhältnisse"

Rosa Luxemburg: Die „bayerischen Verhältnisse"

[Erschienen in der „Leipziger Volkszeitung" vom 6., 7. und 13. September 1899. Nach Gesammelte Werke Band 3, 1925, S. 408-418]

I.

Die „Fränkische Tagespost" vom 1. September zitiert die Stelle meines Vortrags in Leipzig vom 29. v. M., wo ich mich über die bayerischen Landtagswahlen geäußert habe, und fügt hinzu:

Frau Dr. Luxemburg scheint sich, nach diesen Worten zu schließen, in einer so glücklichen Unkenntnis der bayerischen Verhältnisse zu befinden, dass ihr Urteil durchaus belanglos wird. Der Gebrauch der Ausdrücke „Wahlbündnis", „verholfen", „Zünglein an der Wage"… Wir haben deshalb keine Veranlassung, die bayerische Taktik gegen diese Angriffe zu verteidigen."1

Man ist in der Partei bereits seit Jahren daran gewöhnt, sobald irgendein neues Meisterstück der bayerischen staatsmännischen Parteipolitik zur Sprache kommt, auf die Besonderheiten der bayerischen Verhältnisse hingewiesen zu werden, die zweierlei mit sich bringen, erstens, dass, was sonst in der Welt weiß ist, in Bayern unbedingt schwarz erscheint und umgekehrt, und zweitens, dass deshalb kein Mensch, der nicht in Bayern geboren oder wenigstens seit einigen Jahren dort ansässig ist, sich eine begründete Meinung über die bayerische Taktik bilden kann.

Diese allgemeinen Sätze sind freilich im Laufe der Jahre in der Partei arg in Misskredit geraten. Am meisten ist aber gerade der jetzt erörterte Fall der bayerischen Landtagswahlen geeignet, die Mythe von den „bayerischen Besonderheiten" zu zerstören. Eber deshalb ist es von Interesse, die Frage gerade von dieser Seite zu prüfen.

Was vor allem an dem letzten Vorgehen der bayerischen Genossen überrascht, ist sein glänzendes praktisches Ergebnis. Man hat durch Abmachung mit dem Zentrum so viel und nach so verschiedenen Richtungen gewonnen, dass unsere gewöhnlichen Reichstagswahlen und überhaupt alle bisherigen Wahlen ohne Kompromisse sich daneben recht kläglich ausnehmen.

Man bedenke: nach Parvus haben wir uns den Weg geschaffen, um dem Zentrum die Wähler zu nehmen, nach einem „beteiligten" bayerischen Genossen haben wir die politische Herrschaft des Zentrums in Bayern untergraben, nach Genossen Ehrhardt wurde die politische Herrschaft des Liberalismus zertrümmert, nach Genossen Vollmar wurde obendrein dem jetzigen Landtagswahlrecht ein Todesstoß versetzt … Alles dies, ganz abgesehen von dem enormen Zuwachs der sozialdemokratischen Stimmen und der starken Vergrößerung der sozialdemokratischen Fraktion.

Es sind dies so viele und so vielseitige Erfolge, dass man sich unwillkürlich sofort fragt: ob denn das nicht etwas zu viel des Guten sei, namentlich, wenn ein glänzendes Ergebnis dem anderen widerspricht.

In der Tat, einem Nichtbeteiligten könnte es nach der bisherigen Auseinandersetzung vor allem etwas unklar sein, weshalb denn eigentlich für das Zentrum gestimmt werden müsste. Nach Parvus deshalb, weil die Reaktion des Zentrums veralteter, d. h. das Zentrum reaktionärer sei, als die Liberalen. Nach der „Münchener Post" umgekehrt, weil die Liberalen reaktionärer seien als das Zentrum. Ebenso unklar ist die zweite Frage: gegen welche Partei denn eigentlich die sozialdemokratische Abmachung gerichtet war. Nach der Versicherung von einer Seite sollte der politischen Herrschaft des Liberalismus ein Ende gemacht werden. Nach der anderen Lesart war aber der Zweck der schlauen Politik gerade umgekehrt das Zentrum dadurch, dass es nun die Verantwortlichkeit für die Politik des Landtags übernehmen muss, zu kompromittieren und politisch zu ruinieren.

Zu allen übrigen Argumenten kann sich der Beobachter in gleicher Weise selbst das Gegenteil hinzu denken.

Die Sozialdemokraten sollen sich durch ihre Wahlabmachung in die Zentrumsmassen Bahn gebrochen haben. Die Tatsache, dass das Zentrum selbst mit der Sozialdemokratie eine Wahlabmachung getroffen hat, soll die Wählermassen überzeugen, dass der Teufel Sozialdemokratie nicht so schrecklich sei, wie ihn das Zentrum an die Wand malte. Aber dieses Argument ist zweischneidig und lässt sich ebenso gut gegen die Sozialdemokratie und für das Zentrum anwenden. Die Masse der Wähler kann nämlich ebenso gut aus dem Kompromiss schließen, dass der Teufel Zentrum nicht so arg sei, wie ihn die Sozialdemokratie bis jetzt gemalt hat, da sie ihm doch selbst zur Mehrheit verholfen habe. Und ferner dürfte die gewaltige Agitation gegen das Zentrum, die nun die verstärkte sozialdemokratische Fraktion vorhat, in den Augen der Zentrumswähler aus der Masse, die einfache Menschen, nicht geriebene Staatsmänner sind, die Sozialdemokratie leicht als eine verlogene, doppelzüngige Partei erscheinen lassen, die erst ihren Gegnern zur Herrschaft verhilft und dann diese Herrschaft brandmarkt und bekämpft.

Das wichtigste Argument ist aber: der durch die Ergebnisse der Landtagswahlen dem jetzigen Wahlrecht versetzte Todesstoß. Das heutige Wahlsystem wurde nach Vollmar „zur gründlichen Erschütterung des bestehenden Wahlverfahrens nutzbar gemacht". Worin besteht diese Erschütterung? Darin, dass „der Schrecken und die Trauer der Liberalen über ihre ebenso unerwartete wie wohlverdiente Niederlage, sowie die naheliegende Erkenntnis bei dem Zentrum, dass bei einem längeren Fortbestehen des jetzigen Wahlunrechts auch ihm einmal gleiches widerfahren könnte", den Landtag dazu treiben werde, „die so lange zurückgehaltene Wahlreform endlich in Gang zu bringen".

Hier wird wiederum für die Wahlreform etwas zu viel geleistet worden sein. Denn die Reform soll nun in gleichem Maße von den Liberalen, denen das Wahlmanöver eine gründliche Niederlage bereitet, wie von dem Zentrum, dem es eine absolute Mehrheit gesichert hat, in Gang gebracht werden. Vorausgesetzt, dass beide Parteien tatsächlich aus dem letzten Wahlvorgang zu einer Wahlreform Anlass nehmen, nach welcher Richtung kann sie vorgenommen werden? Offenbar und nach eigenen Worten Vollmars nur nach der, dass das Zentrum seine Herrschaft von den Stimmen der Sozialdemokratie unabhängig zu machen, der Liberalismus aber sich vor den Schlägen der Sozialdemokratie zu hüten suchen wird. In den beiden Fällen kann es nur darauf ankommen, die Aussichten der Sozialdemokratie bei den Wahlen zu vermindern und nicht zu vergrößern.

Aber – bei der Überfülle von Erfolgen – die Wahlreform soll ja noch auf drittem Wege, durch eigene Tätigkeit der nun verstärkten sozialdemokratischen Fraktion vorwärtsgetrieben werden. Diese Aussicht erscheint tatsächlich als die einzige stichhaltige bei der Wahlreformfrage. Allein welche Rolle spielt dabei die verstärkte Zahl der sozialdemokratischen Abgeordneten? Als behauptet wurde, die sozialdemokratische Fraktion hätte in dem letzten Landtag ihre Bedeutung dem gegenseitigen Zahlenverhältnis der beiden bürgerlichen Parteien verdankt, da antwortete die „Münchener Post" entrüstet: „… Nicht in der Rolle des ,Züngleins an der Wage', die ihr unter diesen Umständen völlig versagt war, errang die kleine sozialdemokratische Fraktion ihre Erfolge, sondern diese sind lediglich das Resultat ihrer geschickten und energischen Arbeit, ihres prinzipiellen und festen Widerstandes gegen die beiden Großen!"

Das ist prächtig ausgedrückt. Nicht die Zahlenverhältnisse verschaffen einer oppositionellen Minderheitspartei Einfluss und Bedeutung in der Volksvertretung, sondern ihre „geschickte und energische Arbeit", „ihr prinzipieller und fester Widerstand" gegen alle Mehrheitsparteien. Aber in diesem Falle die Mandatsvermehrung um jeden Preis? Die durch einen Kompromiss mit dem Zentrum neu hinzugekommenen Landtagssitze haben, wie es scheinen sollte, den „prinzipiellen und festen Widerstand" geschwächt und nicht gestärkt …

In letzter Linie bleibt also, nach aufgemachter Rechnung, von allen glänzenden Erfolgen der Wahlabmachung als unbestreitbare, handgreifliche Tatsache – nur der Zuwachs an Landtagsmandaten übrig, während die anderen beabsichtigten und erwarteten Eroberungen wohl mehr zur Garnierung dieses Hauptergebnisses aufmarschieren.

Im bayerischen Landtag hat einmal der Zentrumsabgeordnete Orterer gegenüber der Bemerkung, dass die 1893 gewählten fünf Sozialdemokraten nur die Spitze eines Keiles bildeten, erklärt, „man müsse dafür sorgen, dass das Zentrum von dieser Spitze nicht gestochen werde". Nun, diesmal kam der sozialdemokratische Keil jedenfalls nicht mit der Spitze gegen das Zentrum, sondern umgekehrt, mit der breiten Rückseite, auf der die Zentrumsmehrheit einher fuhr, in den Landtag…..

II.

Nun fragen wir, was an der ganzen bayerischen Wahlabmachung spezifisch „Bayerisches" ist.

Ist es der verhältnismäßig fortschrittliche demokratische Charakter des bayerischen Zentrums im Unterschied von der Politik dieser Partei im übrigen Deutschland?

Darauf gibt uns das Handbuch für die bayerischen Landtagswähler folgende Antwort: „Nein, vom Geist solcher Männer (wie Ketteler und Manning) ist keine Spur im deutschen Zentrum, in dem sozialökonomisch wie politisch kein neuer Gedanke lebt. Und von dem deutschen Zentrumsregiment sind die Bayern die allerzurückgebliebenste Kompagnie". (Gesperrt im Original S. 35.)

Oder ist es die Sympathie des bayerischen Zentrums im Gegensatz zu seiner übrigen Reaktion, für die Wahlreform, für das allgemeine Wahlrecht?

Darauf gibt uns die Rede des Abgeordneten Orterer Antwort, der namens des Zentrums im bayerischen Landtage erklärte: „Unter keinen Umständen werden wir einem Wahlgesetze unsere Zustimmung geben, das die Gefahr in sich schlösse, dass bei der rasch fortschreitenden Vermehrung des Proletariats der Großstädte das Landvolk mit seinen Interessen nicht bloß zurückgedrängt, sondern geradezu unterdrückt würde." (Handbuch für die bayerischen Landtagswähler, S. 16.) Im Handbuch (S. 12) ist ferner ausdrücklich gesagt: „Aus den eigenen Erklärungen der Herren (vom Zentrum) ist unumstößlich nachgewiesen, dass für den wichtigsten Punkt, die Herbeiführung des direkten Wahlrechts, sofort die notwendige Zweidrittelmehrheit zu haben ist, sobald die ausschlaggebende Zentrumspartei nur will."

Und auch noch die Erklärung auf dem Münchener sozialdemokratischen Parteitag gibt darauf Antwort, wo gesagt wurde: Nicht verfassungsrechtliche und sonstige Hindernisse, sondern lediglich der böse Wille des Zentrums und auch noch anderer Leute sei schuld, wenn eine Wahlreform bisher nicht zustande gekommen sei. (A. a. O. 16.)

An den Eigenschaften der in Betracht kommenden bürgerlichen Parteien liegen also die „bayerischen Besonderheiten" diesmal jedenfalls nicht. Freilich weist das Wahlvorgehen der bayerischen Genossen einige Eigentümlichkeiten auf. Aber diese liegen auf einem anderen Gebiete, nämlich in der Methode des politischen Kampfes der Sozialdemokratie. So z. B. ist es gewiss etwas ganz Eigenartiges, wenn auf den Umsturz eines vorhandenen Wahlrechts dadurch hingearbeitet wird, dass man es zur Schaffung einer bis dahin nicht vorhandenen absoluten Mehrheit der reformfeindlichsten Partei gebraucht. Sonst, nach altem Herkommen, pflegt die Sozialdemokratie für die Reform eines Wahlunrechts in einer anderen Weise zu kämpfen, dadurch nämlich, dass sie es in in krasser Form bei jeder Gelegenheit vor dem Volke entlarvt. Von diesem Standpunkt war die Beschränkung der bayerischen Sozialdemokratie bei der Landtagswahl bloß auf die eigene Kraft das Wirksamste, was sich denken lässt. Welche niederschmetternde Anklage des Wahlrechts, wenn die Sozialdemokratie bei einer Verdoppelung der gewählten Wahlmänner keinen einzigen neuen Sitz erobert hätte! Und welche blutige Verhöhnung des verdrehten Wahlmodus vor dem ganzen Lande, wenn einige Wahlkreise, trotz wiederholter Wahlhandlungen, wie Vollmar in der Zeitschrift „Die Wage" sagt, „ganz ohne Vertretung blieben!" Ein solches Ergebnis hätte die Bewegung im Volke für die Wahlreform geradezu imposant in Fluss bringen und so auf die bürgerlichen Parteien einen starken Druck ausüben müssen.

Von demselben Standpunkte hat das Vorgehen der bayerischen Genossen die Sache ungünstiger gestaltet, denn nun haben sie sich doch auf Grund des bestehenden Wahlrechts einen hübschen Zuwachs der Mandate gesichert, und ihre Anklagen dagegen verlieren dadurch einen starken Teil ihrer Überzeugungskraft.

Die bayerischen Genossen haben die Hebel für eine Wahlreform in einer entgegengesetzten Richtung angesetzt, sie erwarten nämlich unmittelbar von den bürgerlichen Parteien, dass diese in ihrem eigenen Herrschaftsinteresse, im Interesse der Reaktion, durch das gegenwärtige Wahlergebnis zur Reform gedrängt würden. Während im ersteren Falle die Bewegung im Volke selbst, draußen im Lande mächtig gefördert werden konnte, wird hier die Reform von den bürgerlichen Parteien des Landtages, von ihren parlamentarischen Interessen erwartet.

Während dort die bürgerlichen Parteien durch den Druck der Volksbewegung zur Reform getrieben werden konnten, sollen sie hier auf dem Umwege ihrer eigenen volksfeindlichen Interessen, durch einen parlamentarischen Kniff dazu bewogen werden.

Mit einem Worte: statt ausschließlich durch den Druck des Volkes, hoffen die bayerischen Genossen durch parlamentarische Kunststücke das Wahlrecht reformieren zu können. Diese Taktik ist allerdings etwas ganz Eigenartiges. Aber diese Besonderheit hat doch offenbar nichts speziell mit Bayern zu tun. Im Gegenteil, sie ist für die Politik aller bürgerlichen Parteien verschiedener Länder charakteristisch, die gleichfalls das Hauptgewicht ihres politischen Kampfes nicht ins Volk, sondern ins Parlament verlegen.

Es ist ferner tatsächlich etwas Eigenartiges, wenn um den Preis der Stärkung der gegnerischen Partei und der Verschiebung der Machtverhältnisse der agitatorischen Tätigkeit der Sozialdemokratie einige Landtagsmandate erkauft werden. Wir sagen: der Verschiebung der Machtverhältnisse zu Ungunsten der sozialdemokratischen Agitation. Die bayerischen Genossen verwahren sich freilich dagegen, dass sie im alten Landtag bei wichtigen Entscheidungen das Zünglein an der Wage gebildet hätten. Aber es kommt nicht auf die Abstimmungen, auf die Entscheidung bei Gesetzesvorlagen, sondern vor allem auf die allgemeine agitatorische Wirkung der sozialdemokratischen Vertretungen an. Die „Münchener Post" hat vollkommen recht: die Sozialdemokratie verdankt überall ihre Bedeutung nur „ihrer energischen Arbeit und namentlich ihrer grundsätzlichen Opposition gegen die bürgerlichen Parteien". Aber ihr Erfolg hängt dabei sehr von den Umständen ab. Wenn indes irgendwo die Verhältnisse dafür geschaffen waren, der Sozialdemokratie ihre Arbeit, namentlich ihre grundsätzliche Opposition, zu erleichtern, so gerade in dem bisherigen bayerischen Landtag., Wo die beiden bürgerlichen Parteien, gegen die es gilt, in gleicher Weise volksfeindlich, zugleich aber durch ihr Stärkeverhältnis gezwungen sind, zu jedem Werk der Reaktion sich zu koalieren, da tritt der häusliche Streit der beiden bürgerlichen Lager in den Hintergrund, da bilden sie tatsächlich „eine reaktionäre Masse" dem Volke gegenüber. Da ist es auch ein leichtes, beide bürgerliche Parteien jedes Mal zu entlarven, und so den Klassencharakter des Landtages, den sozialen Hintergrund der ganzen bürgerlichen Politik aufs Grellste hervorzukehren.

Darin war eben die Grundlage für die glänzende Tätigkeit der sozialdemokratischen Fraktion gegeben.

Heute sehen die Dinge anders aus. Durch die Herrschaft des Zentrums und die Niederlage des Liberalismus wird der Gegensatz zwischen beiden wieder verschärft und die frühere klare und deutliche Klassenscheidung in gleichem Maße verdunkelt. Die „Verantwortlichkeit" für das reaktionäre Regime in Bayern wird nun freilich das Zentrum tragen, allein für die Sache des Klassenbewusstseins war es günstiger, wenn diese Verantwortlichkeit wie bisher vom Zentrum und dem Liberalismus, von der Bourgeoisie als solcher, getragen wurde.

Das Eigenartige bei dem Verfahren der bayerischen Genossen, liegt hier also darin, dass sie die Landtagsmandate auf Kosten der allgemeinen Aufklärungsinteressen erworben haben, dass sie also die Mandate nicht lediglich als Mittel zum Zweck, sondern als einen Zweck für sich betrachten.

Aber auch diese eigenartige politische Betrachtungsweise ist nichts speziell mit Bayern Verbundenes. Kam sie auch sonst bei der Sozialdemokratie bis jetzt nicht zur Anwendung, so ist sie wiederum für alle bürgerlichen Parteien in allen Ländern charakteristisch. Das wirklich Eigenartige an dem bayerischen Wahlvorgang, die Erwartung einer Wahlreform von parlamentarischen Kniffen, statt von der Volksbewegung, und das Jagen nach Mandaten auf Kosten der Volksaufklärung, dies hat also bei näherem Zusehen gar nichts speziell bayerisches an sich, es bildet dagegen die sicheren Merkmale des landesüblichen Opportunismus er nicht nur in Bayern, sondern in Frankfurt a. M., in ElberfeId, in Mainz gepredigt wird. Und es stellt sich bei diesen, wie bei allen bisherigen Fällen heraus, dass, wo bei einer Frage der Parteipolitik die „Besonderheiten der bayerischen Verhältnisse" aufmarschieren. sie in Wahrheit nichts anderes sind als ein Deckmantel für die gewöhnliche Staatsmannspolitik, für den guten alten Opportunismus.

Dies bestätigt übrigens noch ein Umstand, an den zu erinnern angesichts des kommenden Parteitages nicht ohne Interesse ist.

Wäre wirklich die opportunistische Politik, wo und wann sie bei den bayerischen Genossen zum Vorschein kommt, durch die Besonderheiten der bayerischen Verhältnisse bedingt, so müssten die Genossen Bayerns in allen Fragen der allgemeinen Politik, die für das übrige Deutschland gelten soll, logischerweise das radikalste, revolutionärste Vorgehen befürworten. Seltsamerweise ist das gerade Gegenteil der Fall, wie das Verhalten des Genossen Vollmar in Stuttgart beweist. Die „praktische Politik" erscheint ihm auch für die ganze deutsche Sozialdemokratie, auch dort, wo die famosen „bayerischen Verhältnisse" gänzlich fehlen, geboten. Es handelt sich also um eine Taktik und nicht um ein Land, um den Opportunismus und nicht um Bayern.

Und soll Bayern einmal dabei eine besondere Rolle spielen, so besteht sie unseres Erachtens nur darin, dass die bayerischen Experimente gerade am besten geeignet sind, wie auch die letzten „Wahleroberungen" zeigen, diese Taktik zu kompromittieren. Sechs Landtagsmandate sind freilich eine sehr hübsche Sache, aber … habent sua fata – mandata (ihre Schicksale haben Mandate).

III.

Die „Fränkische Tagespost" beantwortet in einem Leitartikel vom 9. September und die „Münchener Post" in einer politischen Rundschau vom 12. September unsere Ausführungen über die bayerische Wahlabmachung.

Wir haben schon auf die beunruhigende Fülle und Mannigfaltigkeit der glänzenden Erfolge, die durch dieses Wahlmanöver erzielt worden sind, aufmerksam gemacht. Nun stellt es sich aber heraus, dass uns bei weitem noch nicht alle Erfolge verraten worden sind, und dass man die bayerischen Genossen nur ein bisschen anzutippen braucht, damit sie nach und nach immer triftigere Gründe für ihren Kompromiss enthüllen. Die „Fränkische Tagespost" verrät uns nämlich einen ganz neuen: die sozialdemokratische Fraktion kann nun dank ihrer Verstärkung einen Vertreter in den Finanzausschuss wählen, dieser ist aber „die Seele des Landtags".

Wenn jemand bis jetzt noch nicht von der Unerlässlichkeit des Kuhhandels mit dem Zentrum felsenfest überzeugt war, nun muss er es endlich werden. Ein Sozialdemokrat im Finanzausschuss, dieser „Seele des Landtags", war das etwa nicht des Kompromisses mit dem Zentrum wert? Allerdings, nur muss uns dabei die Bescheidenheit der bayerischen Genossen wundern. Denn auf demselben Wege des Kompromisses kann man ja bedeutend weiter als bis zum Finanzausschuss, ja, man kann sicher bis zum Finanzministerium, dieser „Seele der Regierung", vordringen. Hat man mit dem Zentrum einen Kompromiss abgeschlossen, so kann man ebenso gut einen mit der Regierung abschließen; die bayerische Regierung ist wenigstens in der Frage der Wahlrechtsreform jedenfalls fortschrittlicher und zuverlässiger als das Zentrum.

Aber das Zentrum, ruft die „Fränkische Tagespost", hätte ja auch ohne uns die Mehrheit gekriegt; wir wären dabei nur leer ausgegangen! Das ist eine vorzügliche Beweisführung, die uns lebhaft an jenes bekannte Räsonnement der russischen bestechlichen Beamten erinnert, die ihren skrupulöseren Kollegen gewöhnlich entgegenhalten: „Greif zu, du Schafskopf! Nimmst du's nicht, so nimmt's ein anderer, genommen wird's ja sowieso!"

Diese Beweisführung enthält nämlich eine äußerst wichtige allgemeine Regel für die sozialdemokratische Taktik. Wenn wir alles unterstützen dürfen, was auch ohne unser Zutun geschieht, und was wir nicht verhindern können, ja … dann könnten wir doch eigentlich auch Panzerschiffe, auch Getreidezölle, auch Militärvorlagen usw. bewilligen, denn das alles wird sicher sowieso, auch ohne uns bewilligt.

Was hinter diesem Räsonnement steckt, ist der Satz: Nicht gegen Dinge ankämpfen, die wir nicht verhindern können, vielmehr uns, indem wir sie unterstützen, einen Vorteil sichern. Das sind bekannte Noten. Dies Lied haben wir schon gehört, und zwar in Hamburg, wo man uns sagte: „die Soldaten sind bewilligt, die Formationen und alles ist bewilligt, wir können daran nichts ändern, wir haben es nicht in unseren Händen…. Ist man in einer solchen Lage, kann man die Kriege nicht verhindern, da kann man doch nicht unseren Soldaten schlechte Flinten, schlechte Kanonen geben."*

Das ist genau der Gedankengang der bayerischen Genossen. Damit ist aber von ihnen selbst der schlagendste Beweis erbracht, wie sehr sie mit ihrer Wahlabmachung die grundsätzliche Opposition verlassen haben. Denn was ist eigentlich grundsätzliche Opposition? Es ist dies eben nichts anderes, als der Widerstand auch dort, wo wir noch nicht die Macht haben, die Verhältnisse zu ändern. Gerade weil wir in der kapitalistischen Gesellschaft das Tun und Lassen der herrschenden Mächte nicht verhindern können, so bekämpfen wir sie wenigsten prinzipiell, indem wir unser Teil der Verantwortlichkeit für ihren Bestand ablehnen. Darin liegt ja gerade die ganze „Grundsätzlichkeit“ des sozialdemokratischen Kampfes in der bürgerlichen Gesellschaft, dass wir ihr wenigstens unsere Unterstützung überall dort verweigern, wo wir die Dinge nicht verhindern können.

Wir können aber heute und in absehbarer Zeit den ganzen kapitalistischen Staat in seinem Bestehen nicht verhindern und müssten deshalb, wollten wir nach der bayerischen Regel verfahren, ihn auch überall da unterstützen, wo für uns dabei ein Vorteil herausschaut. Man braucht auf diese Weise nur das Räsonnement des bayerischen Wahlkompromisses zu verallgemeinern, und wir verwandeln uns aus einer sozialistischen … . in eine bürgerliche Arbeiterpartei.

Zu solchen Konsequenzen führen die „bayerischen Besonderheiten". Übrigens ist es mit diesen „Besonderheiten" eine heikle Geschichte. Wenn wir in Norddeutschland die bayerischen Verhältnisse so wenig kennen, dass wir kein kompetentes Urteil über die Anwendung der sozialdemokratischen Grundsätze in Bayern abzugeben vermögen, wie nimmt sich die bayerische sozialdemokratische Presse z. B. heraus, über die Kolonialverwaltung in Ostafrika zu urteilen? Wir befürchten, dass, wenn Genosse Vollmar im Reichstag einmal die Kolonialangelegenheiten zur Sprache bringt, ihm vom Bundesratstisch zugerufen wird: Was, schlechte Verwaltung? Die Weiberpeitsche widerspreche den Prinzipien der Menschlichkeit? Das ist abstrakte Prinzipienreiterei, man muss eben die Verhältnisse kennen, man würde uns da drüben gar nicht verstehen, wenn wir nicht die Peitsche gebrauchten. „Wer in der praktischen politischen Arbeit steht, kann nicht so sehr Gefühlsmensch des Prinzips sein, dass er dogmatischer Schrullen halber leichtfertig … sagen wir, die Autorität untergräbt und damit aus einem schädlichen Fanatismus für das sogenannte Prinzip die Sache schädigt, der er zu dienen hat."**

Aber es ist eben nichts als ein Kunstgriff der bayerischen Genossen, wenn sie die Sache so darstellen, als bekämpfe man ihre Wahlabmachung nur dem abstrakten Prinzip zuliebe. Es hieße dieser Politik viel zu viel Ehre, den sozialdemokratischen Grundsätzen aber das größte Unrecht erweisen, wollte man die bayerische Angelegenheit nur als einen Prinzipienverstoß betrachten.

Das wichtigste an der Geschichte ist gerade die praktische Seite, der „greifbare Erfolg". Dieser bestand ja bekanntlich vor allem darin, dass die Genossen durch die Schaffung einer wahlreformfeindlichen Zentrumsmehrheit die Wahlreform aufs wirksamste herbeizuführen vorgaben. Wir wiesen auf das Verkehrte dieser „praktischen Politik" hin. Was antwortet man uns darauf in Bayern? Die „Fränkische Tagespost" antwortet verlegen: „Dass die notwendige Umgestaltung (des Wahlmodus), wenn irgend möglich, so eingerichtet werden soll, dass der Sozialdemokratie Abbruch getan wird, ist wahrscheinlich und entspricht den üblichen Anstrengungen der Bourgeoisie… Wie weit aber die Reaktion in Bayern damit gehen kann und wird, wollen wir zunächst abwarten."

Das ist alles, was von der famosen „Erschütterung des Wahlrechts", von dem ihm versetzten „Todesstoß" geblieben ist! Die „Fränkische Tagespost" muss zugeben, dass man mit dem Wahlmanöver keine Garantie für eine gründliche Wahlreform erreicht hat und weiß angesichts dieses nur einen Rat: „Zunächst abwarten!" … Das ist der „greifbare Erfolg" der glänzenden „praktischen Politik" des Opportunismus.

Wahrhaftig, es ist sehr zu bedauern, dass es uns nicht erlaubt ist, auf die Opportunisten dieselbe geniale Taktik anzuwenden, die sie jetzt in Bayern auf das Zentrum angewandt haben, ihnen nämlich für einige Zeit das Heft in die Hand zu geben, damit sie die Verantwortlichkeit für die Bewegung tragen und sich nach Herzenslust blamieren. Wir sind sicher, ein einziges Jahr würde genügen, damit unsere „praktischen Politiker" mit ihren „greifbaren Erfolgen" die ganze Bewegung – nicht prinzipiell, davon reden wir hier gar nicht, nein, rein praktisch, rein praktisch – auf den Hund gebracht hätten.

Eine solche Taktik gehört aber leider in den „bayerischen Verhältnissen" zur politischen Weisheit. Die Partei muss dem Opportunismus gegenüber zu einer entgegengesetzten greifen. Sie darf ihrerseits nicht mit der „Fränkischen Tagespost" „zunächst abwarten", sondern muss mit der „Münchener Post" sagen: „Wer in der praktischen Politik steht, darf kein Gefühlsmensch sein" und demgemäß mit den „praktischen Politikern" sich gründlich auseinandersetzen.

1 Rosa Luxemburg hatte am 29. August 1899 in Leipzig über die Aufgaben des nächsten Parteitags gesprochen und dabei ausgeführt:

„Die neueste Blüte des Opportunismus brachte die letzte bayerische Landtagswahl in dem Wahlbündnis mit den geschworenen Feinden des Sozialismus, mit dem Zentrum; einem Bündnis, das mit den alten Traditionen der Partei völlig gebrochen hat. Nicht Mandate, sondern die Aufklärung bei der Agitation galt bisher als die Hauptsache, und wo bisher bei Stichwahlen Sozialdemokraten bürgerliche Elemente wählten, da galt es, die Opposition zu stärken. In Bayern aber ist der reaktionärsten, heuchlerischsten Partei zur absoluten Majorität verholfen worden… . Alle Kundgebungen des Opportunismus haben gemein das einfache Nachjagen nach dem unmittelbaren täglichen Erfolg um jeden Preis. Die Verwirklichung des Sozialismus, sagen die Wortführer des Opportunismus, ist eine sehr schöne Sache, aber sie liegt in weiter Ferne; schätzen wir vor allem den Spatzen, den wir in der Hand haben, die klingende Münze des Erfolges. Deshalb sind auch dem Opportunismus alle Mittel zum Zwecke gut. Auf Kosten der Aufklärung macht man z. B. Kuhhandel mit dem Volksbetrüger Zentrum, um die Regierung zu Zugeständnissen zu bewegen, ist man bereit, ihr Kanonen zu bewilligen.

Auf diese Weise gehen die Grundsätze zum Teufel, die ganze Tätigkeit verliert die sichere Richtschnur und wird bestimmt nur von Fall zu Fall. Diesen Opportunismus hat Eduard Bernstein nur in einer Formel ausgedrückt, als er sagte: das Endziel ist mir nichts, die Bewegung alles… .

Nehmen wir an, das Proletariat hat nach dem Rezept des Genossen Heine für Bewilligung militärischer Forderungen das Stimmrecht bekommen. Ist eine solche Errungenschaft etwa praktischer und dauernder als wenn wir sie durch einen rücksichtslosen revolutionären Kampf, wie in Belgien, erkämpft haben? Wenn wir für Kanonen das Stimmrecht erhalten haben, so richten sich morgen die Kanonen gegen uns, wo es dann heißt: Her mit dem Stimmrecht! Oder sehen wir, welchen praktischen Nutzen der neueste bayerische Kuhhandel gebracht hat. In der bayerischen Kammer gaben früher, wo weder das Zentrum noch der Freisinn die Majorität hatten, die Sozialdemokraten häufig den Ausschlag; heute, wo sie dem Zentrum selbst die Majorität gesichert haben, sind sie das fünfte Rad am Wagen. Obendrein verliert dabei die Sozialdemokratie das Vertrauen des Volkes. Die katholischen Arbeiter, unter denen nun die bayerischen Sozialdemokraten durch eine scharfe Kritik des Zentrums im Landtag Eroberungen zu machen hoffen, werden sich sagen: das ist ja eine schöne Bande; gestern verhelfen sie uns selbst zur Majorität, heute beschimpfen sie uns."

* Schippel auf dem Parteitag in Hamburg 1897 (Protokoll Seite 137).

** „Münchener Post" vom 12. September, Nr. 205, Seite 2.

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