Rosa Luxemburg 18990509 Die englische Brille

Rosa Luxemburg: Die englische Brille

[„Leipziger Volkszeitung" vom 9. Mai 1899. Nach Gesammelte Werke Band 3, 1925, S. 104-114]

I.

Bevor wir einen allgemeinen Rückblick auf die Diskussion über das Bernsteinsche Buch1 in der Parteipresse werfen, wollen wir noch einige Detailfragen, die dabei besonders hervorgehoben wurden, im Einzelnen behandeln. Diesmal wenden wir uns der englischen Gewerkschaftsbewegung zu. Bei den Anhängern Bernsteins spielt das Schlagwort von der „wirtschaftlichen Macht", der „wirtschaftlichen Organisation" der Arbeiterklasse eine große Rolle. „Es ist die Aufgabe der Arbeiterklasse, sich wirtschaftliche Macht zu schaffen", schreibt Dr. Woltmann in der Elberfelder „Freien Presse" Nr. 93. Desgleichen schließt E. David seine Artikelreihe über das Bernsteinsche Buch mit der Losung: „Emanzipation durch wirtschaftliche Organisation!" (Mainzer „Volkszeitung" Nr. 99.) Die gewerkschaftliche Bewegung verbunden mit Konsumvereinen soll nach dieser Auffassung – der Bernsteinschen Theorie gemäß – die kapitalistische Produktionsweise allmählich in die sozialistische verwandeln. Wir haben bereits darauf hingewiesen (s. Sozialreform oder Revolution?), dass eine solche Vorstellung auf gänzlicher Verkennung der wirtschaftlichen Natur und der wirtschaftlichen Funktionen ebenso der Gewerkschaften wie der Genossenschaften beruht. Dies lässt sich aber auch in weniger abstrakter Form – an einem handgreiflichen Beispiel nachweisen.

Wo immer von der großen Rolle gesprochen wird, die den Gewerkschaften in der Zukunft der Arbeiterbewegung vorbehalten bleibt, da müssen selbstverständlich auch sofort die englischen Gewerkschaften aufmarschieren, sowohl als Beweis für die „wirtschaftliche Macht", die man erringen kann, wie als leuchtendes Beispiel, dem die deutsche Arbeiterschaft nachstreben muss. Wenn es aber in der Geschichte der Arbeiterbewegung einen Abschnitt gibt, der geeignet wäre, den Glauben an die sozialisierende Wirkung und den allgemeinen Aufschwung der Gewerkschaften in der Zukunft gründlich zu zerstören, so ist es die Geschichte des englischen Trade Unionismus.

Bernstein hat seine Theorie auf englische Verhältnisse aufgebaut, er sieht die Welt durch die „englische Brille", dies ist in der Partei bereits zum Schlagwort geworden. Will man damit nur soviel ausdrücken, dass Bernsteins theoretische Wandlung auf sein Leben im Exil und seine persönlichen Eindrücke in England zurückzuführen ist, so mag diese persönlich-psychologische Erklärung sehr richtig sein, sie ist aber für die Partei und für die Diskussion von geringem Interesse. Will man aber mit der „englischen Brille" sagen, dass die Bernsteinsche Theorie für England passe, für England ihre Richtigkeit habe, so ist das falsch und widerspricht sowohl der vergangenen Geschichte wie dem heutigen Stande der Arbeiterbewegung in England.

Worin bestehen denn die so oft hervorgehobenen Besonderheiten des englischen sozialen Lebens, und wodurch lassen sie sich erklären? Gewöhnlich wird gesagt, Englands Besonderheit liege darin, dass es ein kapitalistischer Staat ohne Militarismus, ohne Bürokratie, ohne Bauernstand sei, dabei sein Kapital zum größten Teil zur Ausbeutung in anderen Ländern beschäftige, dies alles ermögliche ebenso die politische Freiheit, in der sich die Arbeiterbewegung entfaltet habe, wie auch die ihr günstige Richtung der öffentlichen Meinung.

Wäre dies richtig, so müsste sich die Arbeiterbewegung Englands seit ihrem Entstehen, also seit Beginn des Jahrhunderts, derselben politischen Freiheit und der Gunst der öffentlichen Meinung erfreuen wie heute, denn alle erwähnten Besonderheiten des englischen gesellschaftlichen Lebens datieren schon seit mehr als einem Jahrhundert. Allein die Geschichte des Trade Unionismus zeigt uns das direkte Gegenteil.

Die ganze erste Periode dieser Bewegung, von Anfang des Jahrhunderts bis in die vierziger Jahre, stellt nämlich einen ebenso erbitterten Kampf der Arbeiterkoalitionen um das Existenzrecht dar, wie ihn das Proletariat des Festlandes geführt hat und zum Teil noch führt. Das „Land der sozialen Reform" verweigerte den Arbeitern jahrzehntelang das geringste Gesetz zu ihren Gunsten. Im „Lande des sozialen Friedens" nahmen die Arbeiter in ihrem Existenzkampfe zu den äußersten Gewaltmitteln, Demonstrationen, tumultuarischen Streiks, Mordtaten, Zuflucht, worauf die Regierung mit all den probaten Mitteln antwortete, die bis heute auf dem Festlande im Gebrauch sind. Verhaftungen, Prozesse mit drakonischen Urteilssprüchen, Deportationen, massenhaftes Aufgebot von Spionen, Polizei und Militär bei Arbeiterdemonstrationen, Klassenjustiz, polizeiliche Willkür, mit einem Worte, alle Formen der brutalen Niederknüppelung der aufstrebenden Arbeiterklasse und ihrer bescheidensten Forderungen nach Sozialreformen bietet uns das erste halbe Jahrhundert der englischen Arbeiterbewegung.A Derselbe Staat, der schon damals, wie heute, keinen Militarismus, keine Bürokratie, keinen Bauernstand hatte, fand doch vollauf Mittel, der Arbeiterbewegung mit gewaltsamer Unterdrückung zu begegnen. Wenn wir also seit Mitte des Jahrhunderts andere Methoden der Behandlung der Arbeiterklasse in England sehen, so hängt dies nicht mit jenen Eigentümlichkeiten seines politischen Lebens, sondern mit anderen Umständen zusammen, die erst im Laufe der Zeit aufgetreten waren.

In den Verhältnissen Englands hatten tatsächlich um die fünfziger Jahre wichtige Veränderungen Platz gegriffen, und zwar nach zwei Seiten hin. Vor allem gelangte um diese Zeit die englische Industrie zur ungeteilten Herrschaft auf dem Weltmarkt. Bis zu Ende der vierziger Jahre hatte die englische Produktion sehr häufige und heftige Stockungen durchzumachen, seit den fünfziger Jahren beginnt ein steter und starker Aufschwung. Dieser versetzte die ganze englische Unternehmerklasse in die Lage, in der sich ein einzelner Unternehmer bei flottem Geschäftsgang befindet: Streitigkeiten mit der Arbeiterschaft, der permanente industrielle Krieg, wie er ehedem dauerte, wurden ihr höchst ungelegen und das Interesse an geordneten Verhältnissen, an Stabilität und „sozialem Frieden" ein dringendes.

Dementsprechend sehen wir auf Seiten des Unternehmertums sogleich einen Umschwung in den Methoden der Kriegführung: aus Machtfragen werden die Streitigkeiten mit der Arbeiterschaft zu Gegenständen der Verhandlungen, der Einigung, der Konzessionen. Die goldene Ära der Industrie macht die Zugeständnisse an die Arbeiter ebenso notwendig im Interesse des ungestörten Geschäftsganges, wie auch materiell unfühlbar. Wenn in der ersten Epoche die brutalsten Scharfmacher à la Stumm die englische Bourgeoisie vertraten, ist ihr richtiger Wortführer in dieser Epoche jener Unternehmer, der im Jahre 1860 sagt: „In den Streiks sehe ich sowohl das Aktionsmittel wie das unvermeidliche Resultat der kommerziellen Verhandlungen über den Ankauf von Arbeit".B

Auf der anderen Seite und zweifellos im engsten Zusammenhange mit obigem greift auch in der Arbeiterbewegung selbst ein wichtiger Umschwung Platz. In den zwanziger, dreißiger Jahren und Anfang der vierziger Jahre sehen wir sie für politische und soziale Reformen, für umfassende Pläne, für sozialistische Ideen sich begeistern. „Im Rat sind sie (die Arbeiter) Idealisten, die von einem neuen Himmel und einer neuen Erde träumen, Humanitäre, Erziehungsfreunde, Sozialisten, Moralisten.C Unter dem Einfluss von Owens Lehren, schreibt Francis Place, kamen die Trade Unionisten zu dem Glauben, dass es möglich sei, durch einen allgemeiner nichtpolitischen Bund aller Lohnarbeiter die Löhne zu heben und die Arbeitszeit zu verkürzen „in einem solchen Grade, dass ihnen in nicht zu ferner Zeit die Erzeugnisse ihrer ganzen Arbeit gehören würden".D Einen greifbaren Ausdruck fand die damalige Klassenbewegung in England in der Organisation des allgemeinen Arbeiterbundes (Grand National Consolidated Trades Union), der sich im gewerkschaftlichen Kampfe als eine recht ungelenke Organisation erwies und auch bald in die Brüche ging, aber die Idee der Klasse und ihrer allgemeinen Zusammenfassung zum gemeinsamen Ziel deutlich zum Ausdruck brachte. In der Chartistenbewegung sehen wir gleichfalls das englische Proletariat – hier durch politische Aktion – zu sozialistischen Zielen streben.

Dies ändert sich alles mit dem Anfang der fünfziger Jahre. Nach dem Scheitern des Chartismus und der owenistischen Bewegung wendet sich die Arbeiterschaft von den sozialistischen Zielen ab und den ausschließlichen alltäglichen Forderungen zu. Die in der „Großen Trades Union" Owens, wenn auch sehr unvollkommen zusammengefasste Klasse zerbröckelt vollständig in einzelne Gewerkvereine, die jeder auf eigene Faust die Aktion führen. An Stelle der Emanzipation der Arbeiterklasse tritt als Leitstern die möglichst günstige Gestaltung des „Mietvertragsgeschäfts", an Stelle des Kampfes mit der bestehenden Ordnung das Bestreben, sich auf dem Boden dieser Ordnung behaglich einzurichten, mit einem Worte: an Stelle des sozialistischen Klassenkampfes bürgerlicher Kampf um bürgerliche Existenz.

Die Trade Unions haben ihre Erfolge auf zwei Wegen erreicht: durch unmittelbaren Kampf mit dem Unternehmertum und durch den Druck auf die Gesetzgebung. In beiden Fällen aber verdanken sie die Erfolge gerade dem bürgerlichen Boden, auf den sie sich gestellt hatten. Was den Kampf mit dem Unternehmertum betrifft, so ward schon 1845 von der allgemeinen Konferenz der Gewerkschaften „eine neue Methode gewerkschaftlicher Tätigkeit – die Politik der Schlichtungen und Schiedssprüche" proklamiert.E Aber Schlichtungen und Schiedssprüche sind nur möglich, wenn ein gemeinsamer Boden im Voraus gegeben ist. Und ein solcher fand bald einen greifbaren Ausdruck in dem sehr verbreiteten System der gleitenden Lohnlisten, das seinerseits wirtschaftlich auf der Interessenharmonie zwischen dem Unternehmer und dem Arbeiter fußt. Nur weil das Unternehmertum wie die Arbeiterschaft auf diesem gemeinsamen Boden standen, war die große Verbreitung der kollektiven Vertragsschließung, der Einigungsämter, der Schiedsgerichte, wie wir sie bis in die achtziger Jahre sehen, möglich. Damit verwandelten sich aber die Zusammenstöße und Reibungen zwischen Arbeit und Kapital aus einem Klassenkampf in Auseinandersetzungen zwischen Käufer und Verkäufer, wie sie bei jeder Ware stattfinden. War das Unternehmertum auf der einen Seite zu der Einsicht gelangt, dass die Streiks „unvermeidlich bei kommerziellen Verhandlungen über den Ankauf der Arbeit" seien, so beschied sich auf der anderen Seite die Arbeit dazu, sich als bloßen Gegenstand „kommerzieller Verhandlungen" zu betrachten.

Als Grundlage des ganzen gewerkschaftlichen Kampfes akzeptierten die Trade Unions die Lehre der bürgerlichen Nationalökonomie vom Angebot und der Nachfrage als einzigem Regulator der Löhne, und „es schien eine selbstverständliche Folgerung, dass das einzige in ihrer Macht liegende Mittel, ihre Verhältnisse sicherzustellen oder zu verbessern, das war, das Angebot zu verringern".F

Demgemäß sehen wir als Kampfmittel des gewerkschaftlichen Kampfes zu jener Zeit die Abschaffung der Überstunden, die Beschränkung der Lehrlingszahl und die Auswanderung (in einzelnen Branchen bis in die 80er Jahre), das heißt, ausgenommen den ersten Punkt, rein zünftlerische Methoden.

Den gleichen Charakter nahm die politische Seite der gewerkschaftlichen Bewegung an. Hierfür sind namentlich zwei Standpunkte bezeichnend. Vor allem die eigene politische Stellungnahme der englischen Trade Unionisten: Bis Mitte der 80er Jahre waren sie – und sind heute noch zum größten Teil – durchweg reine Bourgeois, liberale oder konservative. Ferner aber die Methoden und Mittel, die sie in ihrem Kampfe um die Arbeiterschutzgesetze anwandten. Es war dies nicht etwa Volksagitation, wie in Deutschland und anderen Ländern des Kontinents, sondern ein eigentümlich kompliziertes System der Bearbeitung und Beeinflussung bürgerlicher Parlamentarier, ohne Unterschied der Parteistellung, Kuhhandel, Wandelgang- und Hintertreppenpolitik, ohne jeden prinzipiellen und Klassen-Charakter, wie sie besonders bei den Baumwollspinnern und -webern zur vollen Ausbildung gelangte.G Gerade diesen Mitteln verdanken die Gewerkschaften ihre größten gesetzgeberischen Erfolge. Wie sehr umgekehrt ein mehr klassenbewusstes Verhalten für die praktischen Erfolge hinderlich war, zeigen die Schwierigkeiten, mit denen die Bergarbeiter-Föderation zu kämpfen hatte.H

Im Zusammenhang mit der so gerichteten Tätigkeit sehen wir den Aufbau und den ganzen Charakter der englischen Gewerkschaften in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts sich ändern. Von den „nichtverantwortlichen Enthusiasten und Agitatoren" geht die Führerschaft der Bewegung auf „eine Klasse ständig bezahlten Beamten" über, die zuweilen sogar auf Grund einer regelrechten Schulprüfung angestellt werden.I Aus einer Schule der Klassen-Solidarität und sozialistischer Sittlichkeit wird die Gewerkschaftsbewegung zum business, zum Geschäft, die Gewerkschaft wird zu einem äußerst komplizierten Kunstwerk, einem zu dauernder Existenz behaglich eingerichteten Wohnhaus, und in der ganzen Arbeiterwelt jener Epoche herrscht „ein Geist, vorsichtiger, wenn auch etwas beschränkter Staatsmannschaft".

II.

Ökonomisch und politisch und auch moralisch standen, wie im ersten Artikel gesehen, in England die Arbeiter und die Bourgeoisie auf gleichem Boden. „Sie (die Führer der Trade Unions) nahmen in völlig gutem Glauben den ökonomischen Individualismus ihrer bürgerlichen Gegner hin und beanspruchten nur jene Freiheit, sich zu verbinden, die die aufgeklärten Mitglieder jener Klasse ihnen zu gewähren bereit waren…. Ihr Verständnis für die Denkweise des Bürgertums und ihre Würdigung der tatsächlichen Schwierigkeiten der Lage schützten sie davor, bloße Demagogen zu sein… . Der Besitz guter Manieren war, obwohl es als triviale Kleinigkeit erscheinen mag, nicht der geringste ihrer Vorzüge. Mit vollendeter Selbstachtung und Integrität (Makellosigkeit) verbanden sie Korrektheit des Ausdrucks, durchaus vorwurfsfreies Verhalten im Privatleben und eine bemerkenswerte Abwesenheit von allem, was an das Schankzimmer erinnert".J

Es ist nur eine logische Folge dieser staatsmännischen individualistischen Politik, dass ebenso wie der rein ökonomische auch der Kampf der Trade Unions um die Arbeiterschutzgesetze nicht einheitlich durch die Gesamtheit der Gewerkschaften und zugunsten der gesamten Arbeiterklasse, wie in Deutschland, in Frankreich und überall, sondern in zersplitterten Gruppen, von jeder Gewerkschaft auf eigene Faust, manchmal in unmittelbarem Gegensatz zueinander, geführt wurde (vergleiche das Vorgehen der Durhamer und Northumberlander Vertreter im Parlament gegen die Bestrebungen der Bergarbeiterföderation).K Das Fehlen des gemeinsamen ökonomischen und politischen Bodens, des Klassenstandpunkts, die Gegensätze zwischen großen und kleinen, qualifizierten und unqualifizierten, alten und neuen Gewerkschaften haben auch ihre gemeinsame Aktion, ihre allgemeinen Kongresse und ihren parlamentarischen Ausschuss zur Fruchtlosigkeit verurteilt und zum Verfall gebracht.L „Der Kongress, auf dem viele auseinandergehende und sogar widerstrebende Interessen vertreten sind, kann niemals mehr als ein loser Bund sein …".M

Zu den beiden bezeichneten Momenten: dem stetigen Aufschwung der Industrie und dem bürgerlichen Boden der Arbeiterbewegung, tritt in logischem Zusammenhang die dritte Eigentümlichkeit der englischen Verhältnisse hinzu: die Arbeiterfreundlichkeit der öffentlichen Meinung. Nicht „das dem Menschen angeborene Mitleid" und nicht die Beschäftigung der größeren Portion des englischen Kapitals im Auslande, wie es oft behauptet wird, sind es, die das Wohlwollen und die tatkräftige Unterstützung der öffentlichen Meinung der Gewerkschaftsbewegung in England haben zuteil werden lassen.

Die dieser Meinung sind, sehen nur die eine Seite der Einwirkung der öffentlichen Meinung auf die Arbeiterschaft: die von ihr gewährte materielle Unterstützung. Sie übersehen aber die andere Seite: den von ihr auf die Arbeiter ausgeübten moralischen Druck. Die englische öffentliche Meinung ist nicht der Arbeiterbewegung schlechthin, sondern der bestimmten, gegebenen Arbeiterbewegung huldvoll, die sich in England ausgebildet hat: der ebenso ökonomisch wie politisch auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft stehenden Bewegung. Sie unterstützt nicht etwa den Klassenkampf; umgekehrt, sie beugt ihm vor. Während der Ausstände, der Lohnkämpfe drängt die öffentliche Meinung bekanntlich gebieterisch zu Schiedsgerichten, zum Einigungsverfahren, sie lässt den Kampf nicht zu einer Kraftprobe werden, auch wenn es für die Arbeiterschaft gerade von Vorteil wäre, und wehe den Arbeitern, wenn sie sich der Stimme der Öffentlichkeit nicht fügen wollten. Der englische Arbeiter, der im Kampfe mit seinem Unternehmer von der englischen bürgerlichen Gesellschaft unterstützt wird, wird es in seiner Eigenschaft als Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, als bürgerlicher Politiker, bürgerlicher Wähler, und die Unterstützung macht ihn seinerseits auch ferner zum treuen Mitgliede dieser Gesellschaft.

Der verständige Unternehmer und der ebenso verständige Gewerkschaftler, der korrekte Kapitalist und der korrekte Arbeiter, der weitherzige, arbeiterfreundliche Bourgeois und der engherzige, bürgerlich-beschränkte Proletarier bedingen einander, sind nur Korrelate (einander ergänzende Erscheinungen) eines und desselben Verhältnisses, dessen gemeinsamen Boden die wirtschaftliche Einstellung Englands seit der Mitte des Jahrhunderts bildete: die Stabilität und die ungeteilte Herrschaft der englischen Industrie auf dem Weltmarkt

Die vorher gezeichneten Verhältnisse dauerten in England bis in die achtziger Jahre hinein. Seitdem setzt sich aber in allen Beziehungen ein weitgehender Umschwung durch, und zwar vor allem in der Grundlage der bisherigen gewerkschaftlichen Entwicklung. Die Stellung Englands auf dem Weltmarkte wurde durch die kapitalistische Entwicklung Russlands, Deutschlands und der Vereinigten Staaten gründlich erschüttert. Der schnelle Rückgang Englands äußert sich nicht nur in dem Verlust eines Absatzmarktes nach dem anderen, sondern auch in einem für die kapitalistische Entwicklung jeweilig sehr bezeichnenden und wichtigen Symptom: in dem Verfall seiner Produktions – und Handelsmethoden. Letztere namentlich zeigen den Aufschwung oder Niedergang einer kapitalistischen Industrie stets früher und sicherer an als die Aus- und Einfuhrstatistik selbst. Wie die Kapitalistenklasse eines aufstrebenden Landes sich vor allem durch Gewandtheit und Biegsamkeit der Produktions- und Handelstechnik auszeichnet (siehe England bis in die sechziger und siebziger Jahre und gegenwärtig Deutschland), so stellten sich in einem industriell zurückgehenden Lande als erstes untrügliches Zeichen die Rückständigkeit und Plumpheit der Methoden in der Produktion und im Handel ein. Letzteres ist jetzt in England der Fall, und seit einigen Jahren bilden in den britischen Konsularberichten die Klagen über die Apathie und Steifheit der englischen Kaufmannschaft eine stehende Rubrik. Was die Produktionsmethoden betrifft, so wird England gegenwärtig – eine vor kurzem noch unerhörte Tatsache – durch fremde Konkurrenz und zum Schutze des eigenen einheimischen Marktes zur Einführung moderner Produktionstechnik gezwungen. Siehe z. B. die gegenwärtige Umwälzung in der englischen Weißblechindustrie unter dem Druck der nordamerikanischen Konkurrenz.N

Der schwankende Boden, die Unstetigkeit der kommerziellen Lage und der oft schlechte Geschäftsgang führen ihrerseits im Verhalten der englischen Bourgeois wie der englischen Arbeiter einen Frontwechsel herbei. Die allgemeine Depression in der englischen Industrie wird vorläufig noch aufgewogen und gedeckt durch die von dem Militarismus und Handel geschaffene Nachfrage für den Schiffsbau, der seinerseits eine Reihe wichtiger Zweige, wie die Metallindustrie, unterstützt. Allein auch hierin droht England bald die Konkurrenz Deutschlands.

Wenn in den Zeiten der Prosperität die Zugeständnisse an die Arbeiter für das Kapital unfühlbar waren, so wird es gegenwärtig immer empfindlicher und reizbarer. Das Einigungsverfahren wird ihm unbequem, und es benutzt die Schiedssprüche der Einigungskammern dazu, „um höhere Forderungen der Arbeiter abzuweisen", dagegen zu anderen Zeiten macht es „von der strategischen Stellung Gebrauch, um die Arbeiter zur Annahme von ungünstigeren Bedingungen zu zwingen, als ihnen nach den Schiedssprüchen der Einigungskammern zukamen"O Andererseits bringt für die Arbeiter das System der gleitenden Lohnskalen, das ihnen früher den Anteil an dem industriellen Hochgang sicherte, nunmehr, mit dem Niedergang der Geschäfte, immer öfters nur Nackenschläge ein. Die Gewerkschaften wenden sich entschieden von diesem Lohnsystem ab. Mit dem Aufgeben des gleitenden Lohnsystems seitens der Arbeiter und der systematischen Durchbrechung der Schiedssprüche seitens des Unternehmertums schwindet aber der Boden für das ganze Einigungs- und Schlichtungsverfahren, das die Blütezeit des englischen Trade Unionismus begleitete, und mit ihm – der „soziale Frieden". Diese Wandlung wurde vor einigen Jahren offiziell anerkannt durch die Aufhebung der Gesetze von 1867 und 1872, wonach alle Konflikte zwischen Kapital und Arbeit obligatorisch durch Einigungsverfahren beigelegt werden sollten. Zugleich ist mit dem stetig guten Geschäftsgang und der Stabilität in der Lage des Arbeiters auch die Möglichkeit verschwunden, die Gewerkschaften so kunstvoll aufzubauen und ihren verwickelten Mechanismus so glatt funktionieren zu lassen wie ehedem. Dieser kunstvolle Mechanismus und spezialisierte Bürokratismus der Gewerkschaften werden mit dem Wegfall der gleitenden Lohnlisten und des ständigen Einigungsverfahrens auch zum größten Teil ganz zwecklos. Alle in den letzten anderthalb Jahrzehnten gegründeten Gewerkschaften zeichnen sich vor den älteren durch eine große Einfachheit ihrer Organisation und Funktion aus, sie nähern sich darin den Gewerkschaften des Kontinents. Indem aber das gütige Schlichtungsverfahren immer unwirksamer wird, werden die Konflikte zwischen Kapital und Arbeit immer mehr zu Machtfragen, wie wir sie in dem Maschinenbauerausstande und in dem walesschen Kohlenarbeiterstreik sahen. Der „soziale Frieden" weicht auch in England dem sozialen Krieg – dem Klassenkampf, die Gewerkschaften werden nach und nach aus Organisationen zur Sicherung des industriellen Friedens zu Kampforganisationen nach dem Vorbild der deutschen, französischen, österreichischen Gewerkschaften.

Zwei wichtige Symptome aus der allerletzten Zeit zeigen, dass man sich ebenso bei der englischen Bourgeoisie wie bei dem englischen Proletariat der Wandlung bewusst ist und zum ernsten Klassenkampf rüstet. Es ist dies bei dem Unternehmertum der Bund zur Bekämpfung der parlamentarischen Aktion der Gewerkschaften, bei der Arbeiterschaft das Wiederauftauchen der Idee eines allgemeinen Arbeiterbundes, die den Kapitalisten und den Gewerkschaftlern alter Schule, den Anhängern des „sozialen Friedens", gleich verhasst ist, bei der Masse des englischen Proletariats aber das Bedürfnis nach einer Zusammenfassung, das Erwachen des Klassenbewusstseins, im wirklichen Sinne dieses Wortes, deutlich verrät.

Aus der von uns in allgemeinen Zügen umrissenen Geschichte des englischen Trade Unionismus lassen sich für die Auseinandersetzung mit Bernstein und seinen Anhängern dreierlei Schlussfolgerungen ziehen.

Vor allem erscheint der Gedanke von der unmittelbaren Bedeutung der Gewerkschaften für den Sozialismus als vollkommen falsch. Gerade die englische Gewerkschaftsbewegung, auf die man sich dabei beruft, verdankt zum großen Teil ihre in der Vergangenheit errungenen Erfolge ihrem rein bürgerlichen Charakter, ihrer Gegnerschaft gegen den sozialistischen „Utopismus". Die Geschichtsschreiber des Trade Unionismus, S. und B. Webb, stellen es wiederholt und ausdrücklich selber fest, dass die gewerkschaftliche Bewegung in England in dem Maße jedes Mal scheiterte, als sie mit sozialistischen Ideen durchtränkt war, und umgekehrt in dem Maße Erfolge verzeichnete, als sie sich verengte, verflachte, vom Sozialismus freimachte.P

Gerade der englische Trade Unionismus, als dessen klassischer Vertreter der satte, korrekte, engherzige, beschränkte, bürgerlich denkende und empfindende Arbeiter-Gentleman erscheint, beweist also, dass die gewerkschaftliche Bewegung an und für sich noch gar nichts Sozialistisches ist, ja, dass sie unter Umständen ein direktes Hindernis für die Verbreitung des sozialistischen Bewusstseins sein kann, sowie auch umgekehrt das sozialistische Bewusstsein unter Umständen ein Hindernis für rein gewerkschaftliche Erfolge sein kann.

In Deutschland wie auf dem ganzen Festland sind die Gewerkschaften von vornherein auf dem Boden des Klassenkampfes entstanden, vielfach unmittelbar als eine Schöpfung, als ein Kind der Sozialdemokratie (siehe Belgien und Österreich). Sie sind hier im Voraus der sozialistischen Bewegung untergeordnet und können auf Erfolge – ganz im Gegenteil zu England – nur in dem Maße rechnen, als sie sich auf den sozialistischen Klassenkampf stützen und von ihm geschirmt werden (siehe die jetzige sozialdemokratische Aktion in Deutschland zum Schutze des Koalitionsrechts). Die Gewerkschaften Deutschlands (wie des Festlandes überhaupt) sind von diesem Standpunkte, vom Standpunkte der Emanzipationsbestrebungen des Proletariats, trotz ihrer Schwäche und zum Teil im Zusammenhang mit dieser Schwäche, fortschrittlicher als die englischen. Das Verweisen auf das englische Beispiel gleicht dem Rat an die deutschen Gewerkschaften, den Boden des sozialistischen Klassenkampfes zu verlassen und sich auf bürgerlichen Boden zu stellen. Um der Sache des Sozialismus zu dienen, müssen aber nicht die deutschen Gewerkschaften in die Fußstapfen der englischen, sondern umgekehrt die englischen in die Fußstapfen der deutschen treten. Die „englische Brille" passt also nicht für Deutschland, nicht deshalb, weil die englischen Verhältnisse fortschrittlicher, sondern weil sie – vom Standpunkt des Klassenkampfes – rückschrittlicher als die deutschen sind.

Ferner, wenn wir uns von der subjektiven Bedeutung der Gewerkschaften für den Sozialismus, von ihrer Einwirkung auf das Klassenbewusstsein, zu ihrer objektiven Bedeutung, zu der „wirtschaftlichen Macht" wenden, die sie nach der opportunistischen Theorie der Arbeiterschaft in die Hände geben und womit sie die Macht des Kapitals brechen soll, so erweist sich auch diese als ein Märchen, und zwar „ein Märchen aus alten Zeiten". In England selbst gehört die unerschütterliche wirtschaftliche Macht der Gewerkschaften, ganz abgesehen von allem, womit sie erkauft wurde, zum großen Teil der Vergangenheit an. Sie hängt, wie wir gesehen, mit einer ganz bestimmten und zwar ausnahmsweisen Periode des englischen Kapitalismus – mit seiner ungeteilten Herrschaft auf dem Weltmarkt zusammen. Diese Periode, die einzig durch ihre Stabilität und Prosperität den Boden des Trade Unionismus in seiner eigentlichen Blütezeit bildete, wird sich aber weder in England noch in irgendeinem anderen Lande wiederholen.

Könnte und wollte die deutsche Arbeiterbewegung sogar, den opportunistischen Ratschlägen folgend, um der „wirtschaftlichen Macht" willen die „Fresslegende", d. h. ihren sozialistischen Charakter fallen lassen und in die Fußstapfen des englischen Trade Unionismus treten, sie würde nimmermehr seine ehemalige wirtschaftliche Macht erringen können. Aus einem einfachen Grunde; weil sich der wirtschaftliche Boden des alten Trade Unionismus durch keinen Opportunismus, künstlich hervorzaubern lässt.

Als was erweist sich also die „englische Brille" Bernsteins, alles zusammengenommen? Als ein Hohlspiegel seiner Auffassungsweise, worin alle Erscheinungen auf dem Kopfe stehen. Was er für das kräftigste Mittel des sozialistischen Kampfes hinnimmt, war in Wahrheit geradezu ein Hindernis für den Sozialismus, und was er für die Zukunft der deutschen Sozialdemokratie hält, ist die Immer mehr schwindende Vergangenheit der englischen Bewegung in ihrem Entwicklungsgang zur Sozialdemokratie.

1Voraussetzungen des Sozialismus“. – Ein solcher Rückblick von der Verfasserin ist nicht erschienen

A S. Webb, Geschichte der englischen Gewerkvereine. S. 50-130.

B S. und B. Webb, Theorie und Praxis der englischen Gewerkvereine. I. S. 196.

C S. und B. Webb, Die Geschichte des britischen Trade Unionismus. S. 121.

D S. und B. Webb, Geschichte des britischen Trade Unionismus, S. 125.

E a. a. O., S. 151.

FWebb, Geschichte des britischen Trade Unionismus. Seite 160.

G Webb, Theorie und Praxis der englischen Gewerkvereine. I. S. 230 ff.

H a. a. O., S. 234.

I Webb, a. a. 0., S. 194.

J Webb, Geschichte des britischen Trade Unionismus. S. 163.

K Webb, Theorie und Praxis der englischen Gewerkvereine. I. S. 234.

L Ein Beweis aus neuester Zeit Ist der auf dem Cardiffer Gewerkschaftskongress eingeführte Abstimmungsmodus, der „ganz offenbar darauf hinausläuft, die gesamte Macht in die Hände der Beamten" und zwar der Beamten der wenigen alten und großen Gewerkschaften zu legen. Webb, Theorie und Praxis. I. S 248.

M a. a. O.

N „Deutsche Industrie-Zeitung", Mitte Dezember 1898

O Webb, Theorie und Praxis. I. S. 182.

P Webb, Geschichte, S. 121. 142. Theorie und Praxis. I. S. 213 u. a.

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