Rosa Luxemburg 18981013 Erörterungen über die Taktik

Rosa Luxemburg: Erörterungen über die Taktik

[Erschienen in der „Sächsischen Arbeiterzeitung" am 13. Oktober 1898. Nach Gesammelte Werke Band 3, 1925, S. 162-166]

In den gestern von uns in der Hauptsache wiedergegebenen Ausführungen des Genossen „gr"1 im „Vorwärts" möchten wir unsererseits bloß zwei Punkte hervorheben.

1. Wenn er von der für die Partei weniger ersprießlichen „Kampfesweise und Tonart gewisser Parteikreise" spricht, „die für eine Parteiopposition angemessen erachtet werden mögen, die aber ganz gewiss gerade für das Zentralorgan der Partei nicht geziemend wären", so hat er unzweifelhaft vor allem unser Blatt im Auge.

Der Genosse im „Vorwärts" versteht offenbar unter „Opposition" nicht wie alle Welt die Richtung, die im Gegensatz zum Bestehenden und zur Gesamtheit auftritt, sondern die, welche am lautesten spricht, er unterscheidet Richtungen nicht nach ihrem politischen Inhalt, sondern nach dem piano oder forte ihrer Sprache. Diese tiefe Auffassungsweise erinnert uns an jene zarte Dame, die in den Shakespeareschen Dramen nur die Unflätigkeit der Ausdrücke bemerkt hat.

Nun, wenn nicht das eigene Verständnis von der hergebrachten Taktik der Partei, so hätten wenigstens die Verhandlungen des Stuttgarter Parteitages die Redakteure des „Vorwärts" eines Besseren belehren sollen. Denn der Parteitag hat in einer auch für weniger scharfsichtige Politiker verständlichen Weise dargetan: in der Partei gibt es keine Opposition der Linken, es gibt bloß eine Opposition der Rechten. Die Partei in ihrer Gesamtheit steht, wie sie immer stand, auf unserem Standpunkt, in der Opposition zur Partei befinden sich nur die zum Opportunismus neigenden Genossen, die Anhänger der nur „praktischen Politik". Wenn aber irgend etwas daran die Schuld trägt, dass diejenigen, die den alten Standpunkt der Partei gegen opportunistische Seitensprünge einzelner Genossen in Schutz nahmen, in forte sprechen mussten, so war es gerade der Umstand, dass die Redaktion des „Vorwärts" das ganz unhörbare pianissimo für die angemessene Sprache des Zentralorgans hielt.

2. Genosse „gr" formuliert das Streitobjekt zwischen der revolutionären und der opportunistischen Richtung der Partei in den Worten: hier „Verelendung und Zusammenbruch", dort „Aufstieg und Entwicklung", und beweist damit, dass er nicht nur über der gegenseitige Position der Streitenden in dem Parteiganzen, sondern auch über den Inhalt des ganzen Streites die konfuseste Vorstellung hat. Die Entgegenstellung von „Verelendung" und „Aufstieg", mit der er die parteiübliche und die opportunistische Richtung zu kennzeichnen glaubt, formuliert tatsächlich etwas ganz anderes, nämlich den Gegensatz zwischen Anarchismus und Sozialismus. Nur die Anarchisten spekulieren auf die Verelendung der Massen, weshalb sie konsequenterweise auch als die politischen und theoretischen Vertreter des Lumpenproletariats betrachtet werden müssen. Die Sozialdemokratie stützt sich stets ganz umgekehrt auf den Aufstieg der Arbeiterklasse, auf die Hebung ihrer Lage. Genosse „gr" dürfte schon von der „verdammten Bedürfnislosigkeit" der Arbeiter gehört haben, gegen die Lassalle seinerzeit donnerte. Was den Punkt bildet, an dem die Sozialdemokratie den Hebel ihrer Agitation ansetzt, ist nicht die absolute Verelendung der Arbeiterklasse, sondern der relative Rückgang ihres Anteils an dem von ihr geschaffenen gesellschaftlichen Reichtum, ein Rückgang, der mit dem absoluten Steigen der Lebenshaltung Hand in Hand gehen kann, und auch tatsächlich geht. Die das Proletariat emporhebende Tendenz der kapitalistischen Entwicklung ist also nicht der Boden einer besonderen Richtung innerhalb der Sozialdemokratie, sondern der gemeinsame Boden der Sozialdemokratie im Ganzen.

Dementsprechend kann es sich innerhalb der Sozialdemokratie nicht darum handeln, ob für das Proletariat auf dem Boden der bestehenden Gesellschaft durch praktische Tätigkeit etwas zu erstreben sei, oder ob „man alles vom Zusammenbruch erwarten" soll. Die praktische alltägliche Tätigkeit behufs Aufbesserung der Lage der Arbeiterklasse ist vielmehr der einzige Modus, überhaupt sich sozialdemokratisch zu betätigen und auf den Zusammenbruch des Kapitalismus hinzuarbeiten. Die Frage, um die sich die Kontroverse dreht, ist eine ganz andere, nämlich: ob dieser praktische alltägliche Kampf, die Gewerkschaften, die Sozialreformen, die Demokratisierung des Staates, ob sie eine unmittelbare sozialisierende Wirkung haben, die durch einfachen sozialen Stoffwechsel die kapitalistische Gesellschaft unmerklich in eine sozialistische verwandelt, d. h. ob sie den Sozialismus stückweise verwirklicht – dies der Standpunkt des Opportunismus – oder ob der praktische Kampf bloß dazu dient, die Arbeiterklasse materiell zu konsolidieren, politisch zu organisieren und aufzuklären, um sie zu der Aufhebung der kapitalistischen Gesellschaft durch eine politische und soziale Umwälzung und zur Einführung des Sozialismus vorzubereiten. Was also wiederum in Frage steht, ist nicht der positive alltägliche Kampf selbst, der vielmehr gerade das politische Merkmal der Sozialdemokratie im ganzen im Unterschied zum Anarchismus bildet, die Auffassung von der Tragweite, von den sozialen Folgen dieses Kampfes, im Zusammenhang mit diesem oder jenem Gang der objektiven kapitalistischen Entwicklung.

Ebenso irrtümlich ist die andere Entgegenstellung des Genossen „gr" – die von „Katastrophen" und „Entwicklung". Hat Genosse „gr" seinen Hegel vergessen, so raten wir ihm wenigstens das prächtige Kapitel im Engelsschen Antidühring über Quantität und Qualität nachzuschlagen, um sich zu überzeugen, dass Katastrophen nicht einen Gegensatz zur Entwicklung, sondern ein Moment, eine Phase der Entwicklung darstellen, dass, wer auf der Entwicklungslinie die „Knoten" übersieht, ebenso wenig das Wesen der Entwicklung erfasst, wie derjenige, der sich umgekehrt den Gang der Dinge als eine Reihe unvermittelter Kataklysmen (Umwälzungen) vorstellt. Die Vorstellung von der Entwicklung als einem unmerklichen, ausschließlich friedlichen Prozess des Ineinandergleitens verschiedener Phasen und Entwicklungsstufen ist gerade charakteristisch für die spießbürgerliche seichte Auffassungsweise im Gegensatz zu der dialektischen Auffassung des wissenschaftlichen Sozialismus, der sich die Bewegung der Gesellschaft in Gegensätzen denkt und deshalb die Katastrophen in bestimmten Zeitpunkten für unausbleiblich hält. Gerade wir, also, die wir im Einklang mit der hergebrachten Auffassung der Partei einen sozialen Zusammenbruch als die Form des Überganges des Kapitalismus in die sozialistische Gesellschaft für unvermeidlich halten und deshalb das Augenmerk der Arbeiterklasse auf dies ihr bevorstehende Endziel gerichtet wissen vollen, gerade wir und nur wir stehen auf dem Boden der Entwicklung, nicht wie sie kleinbürgerliche Angstmeier, sondern wie sie der wissenschaftliche Sozialismus versteht.

Zum Schluss gibt Genosse „gr", der, wie gezeigt, von dem gegenseitigen Verhältnis und dem Inhalt der streitenden Richtungen die abenteuerlichste Vorstellung hat, auch noch eine wunderbare ad hoc (hierfür) verfertigte „materialistische" Erklärung der bestehenden Kontroverse, wie sie sich in seinem Geiste spiegelt. Beide Richtungen stehen nach ihm auf rein proletarischem Boden; es ist bloß der Gegensatz innerhalb der industriellen Arbeiterklasse, der in den beiden Richtungen der Partei zum theoretischen Ausdruck gelangt. Es gibt nämlich nach „gr" proletarische Schichten, die ihre Lage aufbessern und emporkommen und deshalb die praktische Tätigkeit höher bewerten, und andere Schichten, wie z. B. die Hausindustriellen2, die immer mehr verelenden und deshalb an einer Hebung ihrer Lage unter dem Kapitalismus verzweifeln. Die erste Schicht vertreten nun die Vollmar, Heine, Peus, Fendrich, die zweite Schicht die Liebknecht, Zetkin, Kautsky, Singer, Bebel und die gesamte Partei. Bei dieser „materialistischen" Theorie ist ihm das Malheur passiert, dass er aus Versehen die opportunistische Richtung in der Partei zur Vertreterin des aufsteigenden, des fortschrittlichsten Kerntrupps des industriellen Proletariats, die revolutionäre Richtung aber – zur Vertreterin der Hausindustriellen, der im Bann der kleinbürgerlichen Vorstellungsweise Befangenen, der rückständigsten Schicht der Arbeiterklasse gemacht hat….

Genosse „gr" hat wiederum bei seiner „materialistischen" Konstruktion einen Fundamentalsatz der sozialdemokratischen Auffassung vergessen, nämlich, dass das Wesen der Sozialdemokratie als solcher gerade darin besteht, dass sie, gegenüber verschiedenen zersplitterten Gruppen und Schichten des Proletariats, seine Entwicklung und Interessen im Ganzen vertritt. Sollten also in der Sozialdemokratie einmal wirklich die einzelnen Schichten der Arbeiterklasse mit ihren verschiedenen Interessen und Bestrebungen zur Geltung kommen, so würde das nicht zu Unterschieden in der Taktik, sondern zur Zersetzung, zum Bruch der Sozialdemokratie als solcher führen. Tatsächlich kann die Partei, solange sie überhaupt auf proletarischem Boden steht, in diese Gefahr nicht kommen, denn sie ist gar nicht imstande, die herabsinkenden verelendeten Schichten der Arbeiterklasse zu vertreten; diese scheiden vielmehr, sobald sie unter das Niveau ihrer Klasse herabsinken, in das Lumpenproletariat aus, und damit verschwinden sie überhaupt aus dem Zielbereich der Sozialdemokratie. Solange sie als solche besteht, vertritt sie nur das industrielle Proletariat im Ganzen, und sucht man, wie „gr", nach „tiefstem materiellen Grund" für verschiedene Strömungen in der Partei, so muss dieser Grund nicht innerhalb des Proletariats, sondern auf der Scheidelinie zwischen dem Proletariat und seinem sozialen Nachbar – dem Kleinbürgertum – gesucht werden. Die ganze künstliche Konstruktion „gr's" mit den zwei Schichten des Proletariats, die den Zweck hatte, das Kleinbürgertum aus der Debatte zu eliminieren (beseitigen), hat zur Voraussetzung – einen Zerfall der Sozialdemokratie und zum Ergebnis – den Widersinn, wonach die opportunistische Richtung das revolutionäre und die revolutionäre Richtung das reaktionäre Element in der Arbeiterklasse vertritt. Stülpt man den Widersinn um, so gelangt man zu der einzig möglichen Erklärung, derjenigen, die „gr" eben um jeden Preis widerlegen wollte: dass die Partei in ihrem revolutionären Kerntrupp das industrielle Proletariat, der opportunistische Flügel dagegen die in die Partei hineingekommenen kleinbürgerlichen Elemente vertritt.

Es drängt sich noch eine Frage auf. Wenn die eine der streitenden Richtungen in der Partei die aufsteigenden, die andere die herabsinkenden Schichten der Arbeiterklasse vertritt, welche Schicht des Proletariats bringt wohl die Redaktion des „Vorwärts", die zwischen den beiden Richtungen die Mitte einnimmt, zum Ausdruck? Da sie zwischen der opportunistischen und der revolutionären Richtung in allen strittigen Fragen nach dem Ausdruck des Genossen „gr" „eine wesentlich vermittelnde Haltung einnimmt", so wird sie offenbar irgendeine Schicht des Proletariats vertreten, die weder aufsteigt noch herabsinkt, weder vorwärts noch rückwärts schreitet. Es dürfte dies wahrscheinlich die Schicht – der Kannegießer sein, die, wie wir vermuten, wenn auch nicht in der Gewerbestatistik Deutschlands, so wenigstens in der Politik eine „schier unerschütterliche Phalanx" darstellen…..

1 Georg Gradnauer, Redakteur des „Vorwärts".

2 D.h. die Heimarbeiter.

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