Rosa Luxemburg 18981012 Nachbetrachtungen zum Parteitag

Rosa Luxemburg: Nachbetrachtungen zum Parteitag

[Erschienen In der „Sächsischen Arbeiterzeitung" vom 12. bis 14. Oktober 1898. Nach Gesammelte Werke Band 3, 1925, S. 150-161]

I.

Es unterliegt keinem Zweifel, dass den Mittelpunkt der Verhandlungen in Stuttgart, der auch das meiste Interesse aller Delegierten in Anspruch genommen hat, die Debatte über die Taktik bildete. Es ist dies auch ganz selbstverständlich. Die Frage vom Verhältnis des alltäglichen praktischen Kampfes zum Endziel ist die Lebensfrage der Partei seit Anbeginn ihrer Existenz und bleibt es auch bis zum Ende. Endgültig, für alle Zeiten kann sie nicht entschieden werden, solange die Partei lebt und wächst; immer wieder, in immer neuer Gestalt muss sie auftauchen, und wir betrachten es gerade als ein unzweifelhaftes Symptom des gesunden Wachstums der Bewegung, dass sich der Parteitag in Stuttgart wieder in so hohem Maße mit dieser Frage beschäftigen musste.

Wie ein roter Faden zieht sich die Frage der allgemeinen Taktik durch alle Parteitage der Sozialdemokratie hindurch, es lassen sich aber dabei – den verschiedenen geschichtlichen Bedingungen der Bewegung vollkommen entsprechend – zwei verschiedene Epochen unterscheiden. Vom Jahre 1868 an, noch seit dem Vorabend der eigentlichen Konstituierung der Partei in Eisenach, bis zum Jahre 1891 drehte sich der taktische Meinungsstreit innerhalb der Sozialdemokratie um die Frage des Parlamentarismus. Damals war es die zum Anarchismus neigende, antiparlamentarische äußerste Linke, die es zu bekämpfen galt. Und so lange die Partei nicht die unentbehrlichsten gesetzlichen Vorbedingungen eines ersprießlichen alltäglichen Kampfes – vor allem das Wahlrecht – hatte, so lange ihr ferner durch das Sozialistengesetz die gesetzlichen Grundlagen der Existenz entzogen waren, musste der Streit dauern. Er konnte nicht durch Debatten, er musste durch Tatsachen endgültig erledigt werden. So sehen wir denn auch die Frage der Beteiligung der Sozialdemokratie an den politischen Wahlen auftauchen: 1871 auf dem Parteitag in Dresden, 1873 in Eisenach, 1874 in Coburg, 1877 in Gotha, dann im Schlosse Wyden, in Kopenhagen, in St. Gallen; nach dem Fall des Sozialistengesetze, gestaltete sich der Streit zu einer Auseinandersetzung mit den Unabhängigen im Jahre 1890 in Halle und 1891 in Erfurt, wo sie ihren natürlichen Abschluss fand. Nach der Wiedergewinnung des gesetzlichen Bodens, nach dem glänzenden Sieg der Sozialdemokratie bei den Wahlen 1890, musste innerhalb der Sozialdemokratie jeder Zweifel über die Tragweite des parlamentarischen Kampfes aufhören, und diejenigen Elemente, die an dem Standpunkt der rein negativen Agitation festhielten, mussten ihre natürliche Entwicklung zum Anarchismus, d. h. zum politischen Bankrott, rasch durchmachen. Damit war der innere Kampf der Partei nach der einen Seite beendet.

Nun begann alsbald der Kampf nach der entgegengesetzten Richtung; der plötzliche und mächtige Aufschwung der Sozialdemokratie in der Sonne der Gesetzlichkeit hatte neue Gefahren mit sich gebracht. Hatte früher ein Flügel der Partei immer zur Unterschätzung des alltäglichen positiven Kampfes, zur Negation geneigt, so musste die üppige Entwicklung der Bewegung in die Breite seit 1890 naturnotwendig zu dem anderen Extrem – zur Überschätzung der positiven Reformarbeit, zu opportunistischen Neigungen führen. Der Parteitag in Erfurt bildet den charakteristischen Übergangsmoment, wo die Partei nach zwei Seiten hin zu kämpfen hatte – einerseits gegen die Überreste der unabhängigen Bewegung, gegen die Werner und Co., andererseits bereits gegen die ersten Anzeichen des Opportunismus in der Person Vollmars, dem schon damals Singer entgegenhalten musste, dass er das Endziel des Sozialismus „als eine Art Familienreliquie in den Silberschrank gestellt hätte, der nur bei besonders feierlichen Gelegenheiten geöffnet wird". Derselbe Singer konstatierte auch in seiner nämlichen Rede – in der richtigen Erkenntnis der jeder der beiden extremen Richtungen zukommenden Bedeutung – dass er „die Ausführungen Vollmars und die sich daraus ergebenden Konsequenzen, wenn der Parteitag denselben etwa sollte zustimmen, für viel gefährlicher für die Partei halte, als die Ansichten der Opposition und ihrer Wortführer". In der Tat, wenn die anarchistischen Theorien durch die praktischen Erfolge der Sozialdemokratie, also durch Tatsachen selbst, tagtäglich auf den Kopf geschlagen werden, so dass vollständige Kopflosigkeit dazu gehört, an den anarchistischen Hirngespinsten heute noch festzuhalten, werden die opportunistischen Ansichten umgekehrt durch dieselben Tatsachen scheinbar jeden Tag bestätigt, so dass ihre Widerlegung nur durch die klare Erkenntnis der Partei gegeben werden kann. Die Anforderungen, die der Kampf mit der opportunistischen Richtung an die theoretische und taktische Ausbildung der Partei stellt, sind unvergleichlich höher, als es bei dem Kampfe mit dem Anarchismus der Fall war. Und so sehen wir denn auch seit 1891 den opportunistischen Flügel der Partei immer wieder den Kopf erheben. 1892 auf dem Parteitag in Berlin taucht er auf und wird geschlagen in der Form des Staatssozialismus, 1894 in Frankfurt gibt die bayrische Abstimmung für das Budget den Anlass zu einer heftigen Auseinandersetzung, in der die opportunistische Richtung wieder gründlich abgefertigt wird. 1895 in Breslau kommt das Nachjagen hinter den praktischen Erfolgen in der Form des Agrarsozialismus zum Ausdruck, um wiederum an der prinzipiellen Festigkeit der Praxis zu scheitern. Endlich, nach verschiedenen Spezialfragen der Partei hatten wir in Stuttgart eine allgemeine und grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Opportunismus, dank der letzten konsequenten Ausbildung, die er theoretisch bei Bernstein und praktisch bei Heine gefunden hat.

Das Ergebnis der Debatte ist für alle Welt klar – der Opportunismus ist auch diesmal auf den Kopf geschlagen worden. Die Partei hat einmütig erklärt, dass sie an ihrem Endziel, an der Eroberung der politischen Macht zur Abschaffung der kapitalistischen Ordnung festhält, dass sie sich nicht den geringsten Illusionen in Bezug auf Sozialreformen und auf unfühlbares, allmähliches Hinübergleiten ins sozialistische Jenseits hingibt, sondern dass sie im Gegenteil sozialen und politischen Katastrophen entgegensieht und festen Willens ist, sich immer der Rolle gewachsen zu zeigen und als Herr der Situation aufzutreten, dass sie endlich dem gegenwärtigen Staate gegenüber nicht nur keine Konzessionspolitik, sondern den Kampf bis aufs Messer weiter führen wird. Die Stimmung des Parteitages war nach der Debatte so erdrückend für die wenigen Vertreter des Opportunismus, dass sie, die im Anfang eine „gute Stimmung" konstatieren zu können glaubten – siehe die erste Rede Vollmars – zum Schluss es aufgeben mussten, ihren Standpunkt in der allgemeinen Debatte überhaupt noch zu verteidigen.

Insofern haben wir allen Grund, mit den Ergebnissen der Diskussion zufrieden zu sein. Allein auch einige kritische Bemerkungen möchten wir hinzufügen, und zwar aus Anlass des Verhaltens unserer „Alten" in dieser Debatte. Wir hätten nämlich viel lieber gesehen, dass die Veteranen der Partei gleich im Anfang der Debatte ins Gefecht getreten wären, anstatt dass sie umgekehrt die Debatte selbst unmöglich zu machen suchten durch die Ablehnung des einzigen vernünftigen Antrages, wonach ein besonderer Punkt der Tagesordnung die Diskussion über die Taktik einleiten und erleichtern soll. Wenn die Debatte trotzdem eingeleitet wurde, so geschah es eben nicht dank, sondern trotz dem Verhalten der Parteiführer. Wenn dieses Verhalten auch durch Besorgnisse um den Ausgang der Debatte erklärt werden kann, so erwächst daraus nur der neue Vorwurf für unsere Alten, dass sie die Stimmung der Partei falsch einschätzten und dass sie so wenig entschieden waren, um jeden Preis mit aller Energie der schädlichen Richtung entgegenzutreten. Die Debatte zunächst ihrem eigenen Schicksal überlassen, ruhig zwei Tage zusehen, „wie der Hase läuft" und dann erst eingreifen, als die Wortführer des Opportunismus zur klaren Sprache gezwungen worden waren, dabei noch über die „zu scharfe Tonart" derjenigen sich abfällig ausdrücken, deren Standpunkt man dann vollkommen aufrecht erhält, das ist eine Taktik, die den Parteiführern in einer so wichtigen Frage schlecht steht. Auch die Erklärung Kautskys, wonach er bis jetzt seiner Meinung über die Bernsteinsche Theorie keinen Ausdruck gab, weil er sich vorbehalten hatte, das Schlusswort in der eventuellen Debatte zu sagen, scheint uns wenig entschuldigend zu sein. Im Februar druckt er die Artikel von Bernstein ohne die geringste redaktionelle Note in der „Neuen Zeit" ab und schweigt dann vier Monate. Im Juni eröffnete er die Diskussion mit einigen Komplimenten an die „neuen" Standpunkte Bernsteins, diesen neuen Abklatsch des alten Katheder-Sozialismus, schweigt dann wieder vier Monate, lässt den Parteitag heranrücken und erklärt endlich im Laufe der Debatte, dass er das „Schlusswort" sagen wollte. Wir wünschten, dass unser Theoretiker ex officio (von Amts wegen) immer das Wort und nicht das Schlusswort in wichtigen Dingen sagt, und dass er nicht den falschen und verwirrenden Eindruck erweckt, als hätte er längere Zeit selbst nicht gewusst, was er sagen wollte. Die Napoleonische alte Garde trat stets auf den Kampfplatz zum Schluss des Gefechts, wir sind gewöhnt, die unsere stets zu Beginn der Schlacht auf dem Platz zu sehen. Dass ihre Zaghaftigkeit auch praktische Nachteile zur Folge hatte, zeigen wir in unserer Betrachtung über einen Punkt der Tagesordnung.

II.

Die Zoll- und Handelspolitik war die einzige Frage, in der die prinzipiellen Ergebnisse der allgemeinen Debatte über die Taktik ihren praktischen Ausdruck erhalten sollten. In der Resolution Kautsky und in der Resolution Schippel standen sich tatsächlich zwei grundverschiedene Anschauungen gegenüber. Die erstere erstrebte eine prinzipielle Stellungnahme der Sozialdemokratie zu der Zollfrage, die letztere suchte, unter Ablehnung aller grundsätzlichen Erklärungen, das Verhalten der Sozialdemokratie in der Zollfrage von der jeweiligen Lage der Industrie abhängig zu machen, d. h. auf den Boden der opportunistischen Taktik zu stellen. Von diesem Standpunkte muss vor allem bemerkt werden, dass die Resolution Kautsky von vornherein nicht in der Weise abgefasst war, um der wichtigen Aufgabe gerecht zu werden. In der Tat, was für Gründe unserer ablehnenden Haltung gegenüber den Schutzzöllen zählt die Resolution auf? Erstens die Schädlichkeit der Lebensmittelzölle, zweitens die Schädlichkeit des mit dem Schutzzoll verbundenen Kartellwesens, drittens die finanzielle Unterstützung des Militarismus durch die Zolleinnahme, viertens endlich die Schädlichkeit des internationalen Zollkriegs für die Verbrüderung der Arbeiterschaft verschiedener Nationen. All die aufgezählten Tatsachen können aber bloß Zweckmäßigkeitsgründe unserer Opposition gegen die Schutzzölle sein, eine grundsätzliche Stellungnahme lässt sich aus ihnen noch gar nicht ableiten; ja noch mehr, die Resolution begründet unsere Haltung in der Zollfrage eigentlich durch bloße Begleiterscheinungen des Schutzzolles: – Verteuerung der Lebensmittel, Kartellwesen, Stärkung des Militarismus, Störung der Internationalität –, während eine prinzipielle Richtschnur für unser Verhalten zu der Frage nur im Wesen des Schutzzolles selbst liegen und nur aus diesem Wesen heraus abgeleitet werden kann. Und diese Seite der Frage liegt in einer Eigenschaft des Schutzzolles, die in der Begründung der Resolution Kautsky nicht hervorgehoben wurde, nämlich in seinem reaktionären Charakter vom Standpunkt der allgemeinen kapitalistischen Entwicklung. Wie die Dinge in dem heutigen Stadium des internationalen Kapitalismus liegen, dient das Zollsystem nicht mehr zur Förderung der industriellen Entwicklung, sondern bloß zur Sicherung einer bestimmten Höhe des Unternehmerprofits, einer bestimmten Profitrate, gegen die freie Konkurrenz des Auslandes. Durch diesen Schutz wirken aber die Zölle auf die Industrie selbst hemmend, indem sie mit den hohen Profiten auch rückständige Produktionsmethoden in den betreffenden Ländern künstlich konservieren, so den ganzen Gang der kapitalistischen Entwicklung verlangsamen und auf diese Weise namentlich den Augenblick des Zusammenbruches der heutigen Wirtschaft, damit auch unseren Sieg hinausschieben. Nur in diesem allgemeinen reaktionären Charakter des Schutzzolles liegt der Grund, weshalb die Sozialdemokratie prinzipiell gegen alle Schutzzölle sich erklären muss. Gerade diese Seite der Frage ist in der Resolution Kautsky nicht hervorgehoben; sie beschränkt die Begründung unserer Zollpolitik auf die Tagesinteressen der Arbeiter, während eine grundsätzliche Politik stets nur durch den Zusammenhang der gegebenen Frage mit unseren Endzielen begründet werden kann.

Freilich in Punkt 3 sagt die Resolution Kautsky: „Dass die deutsche Industrie weit genug entwickelt ist, um des Zollschutzes entraten zu können", und daran wird schon einigermaßen die Tatsache konstatiert, dass der Schutzzoll von der Entwicklung der Industrie überflügelt worden ist; das ist aber erstens nur die halbe Wahrheit, die andere viel wichtigere Tatsache ist, dass das Zollsystem jetzt umgekehrt für die Entwicklung der Industrie ein Hemmschuh geworden ist; zweitens ist der Punkt in der Weise abgefasst, dass er nicht den allgemeinen Charakter der heutigen industriellen Entwicklung vom Standpunkte unserer Interessen, sondern umgekehrt die Rücksichtnahme unsererseits bei der Festsetzung unserer Zollpolitik auf die Interessen der Industrie zum Ausdruck bringt. Der Sinn des Punktes 3 der Kautskyschen Resolution ist nicht: Wir müssen gegen den Schutzzoll sein, weil er von der kapitalistischen Entwicklung überholt worden ist, sondern: Wir dürfen gegen den Schutzzoll sein, weil er für die Industrie nunmehr überflüssig ist. Also wiederum ein Zweckmäßigkeitsgrund und kein prinzipieller Grund.

Immerhin war der Punkt 3 auch in seiner ursprünglichen schwächlichen Fassung der einzige in der Resolution, der wenigstens annähernd das formulierte, was die prinzipielle Haltung der Sozialdemokratie in der Zollfrage begründen könnte und deshalb erregte er auch sofort den größten Anstoß bei den Anhängern des Opportunismus in der Zollpolitik. Ebenso Schippel wie Vollmar und einige andere Genossen erklärten ausdrücklich, dass sie die Resolution Kautsky unterschreiben, sobald der Punkt 3 wegfällt oder abgeändert wird. War damit der beste Beweis geliefert, dass es für die Anhänger einer grundsätzlichen Zollpolitik galt, den genannten Passus der Resolution aufrecht zu erhalten oder vielmehr noch klarer und konsequenter zu fassen, so haben Kautsky, Bebel und Genossen umgekehrt die Gelegenheit ergriffen, so schnell wie möglich eine Harmonie zwischen beiden entgegengesetzten Standpunkten herzustellen und sofort das kleine Amendement zu akzeptieren, wonach Punkt 3 nunmehr lautet, dass die deutsche Industrie jetzt „im allgemeinen" des Zollschutzes entraten kann.

An und für sich ist das Wörtlein „im allgemeinen" ein sehr harmloses Amendement; es drückt ferner auch etwas ganz Selbstverständliches aus, da es ein Unding wäre zu behaupten, dass alle Zweige der deutschen Industrie auf der gleichen Höhe der Konkurrenzfähigkeit stehen. Aber unter den gegebenen Umständen, in dem Zusammenhang, der durch die Debatten geschaffen war, bedeutete das harmlose Wörtlein nichts anderes, als den Verzicht auf den Rest der grundsätzlichen Fassung, die die Resolution Kautsky hatte, und ein Kompromiss gegen den Schippelschen Standpunkt. Denn die Einschaltung des Amendements „im allgemeinen" sollte nicht dazu dienen, die selbstverständliche und sonst gleichgültige Tatsache der verschiedenen Entwicklungsstufen der deutschen Industrie bloß zu konstatieren, sondern unser Verhalten in der Zollfrage in der Praxis von dieser Tatsache abhängig zu machen.

In der Tat. Worauf es Schippel ankam und wofür er namentlich in seiner ganzen fesselnden Rede eintrat, war nichts anderes, als dass wir uns nicht durch eine allgemeine Regel binden, sondern in unserer Zollpolitik die Interessen und die Lage jedes besonderen Industriezweiges berücksichtigen sollen. Dies geschah auch durch die Einschaltung der Worte „im allgemeinen" in dem Passus 3 der Kautskyschen Resolution. Was bedeutet aber die Unterscheidung der einzelnen Industriezweige bei der Zollfrage anderes, als dass wir uns in dieser Frage auf den Standpunkt des Unternehmerprofits stellen? Den gleichen Schutzzoll für alle Branchen der Industrie – diese Forderung wird auch von unseren bürgerlichen Schutzzöllnern nicht gestellt. Auch sie unterscheiden die verschiedene Konkurrenzfähigkeit der einzelnen Industriezweige. Was dagegen einzig und allein unsere Haltung, die grundsätzliche Haltung kennzeichnen kann und muss, ist die Hervorhebung der allgemeinen Tendenz der industriellen Entwicklung und der Interessen der vorgeschrittensten Industriezweige, den zersplitterten industriellen Interessen und Entwicklungsstufen gegenüber. Wie unser eigentlicher Charakter einer Arbeiterpartei mit prinzipieller Weltanschauung darin liegt, dass wir den zersplitterten und augenblicklichen Interessen der verschiedenen Arbeitergruppen die allgemeinen und dauernden Interessen der Klasse im ganzen entgegenstellen, so besteht unser grundsätzlicher Charakter in allen Lebensfragen der bürgerlichen Gesellschaft darin, dass wir ihren zersplitterten Gruppeninteressen gegenüber die Interessen der kapitalistischen Gesamtentwicklung vertreten. So verfahren wir z.B. auch in der Frage des achtstündigen Arbeitstages, zu dessen Einführung zweifellos sehr viele Industriezweige heute noch nicht entfernt reif genug sind. In der Zollfrage lag gerade der Kernpunkt der Differenz zwischen der prinzipiellen und der opportunistischen Auffassung darin, ob man sich auf den Boden der Entwicklung im Ganzen, von deren Standpunkt aus der Schutzzoll grundsätzlich reaktionär erscheint, oder auf den Boden der industriellen Einzelinteressen, von deren Standpunkt aus er je nach dem Fall fortschrittlich oder reaktionär erscheint, stellen soll. Die Resolution Kautsky vertrat zunächst, wenn auch in unklarer Form, den prinzipiellen Standpunkt. Durch die Einschaltung des Amendements „im allgemeinen", angesichts der Bedeutung und Motivierung, die dieses Amendement in der Debatte erhielt, angesichts der Tatsache, dass eben dieses Amendement es war, das die Schippelsche Richtung auf die Resolution Kautsky geeinigt hat, verlor die Resolution ihren prinzipiellen Charakter. Dies leuchtet auch aus einer anderen Seite der Sache ein. Es wurde als Motiv des Amendements „allgemein" angegeben, dass wir unsere Fraktion in Zollfragen nicht durch eine steife, generalisierende Erklärung fesseln, sondern ihr auf alle Fälle freie Hand lassen müssen. Was bedeutet aber die „freie Hand" gegebenenfalls? Dass wir durch eine grundsätzliche Erklärung gegen den Schutzzoll unsere Vertreter im Reichstage nicht hindern, für Zollermäßigungen zu stimmen, ist ebenso sonnenklar wie die Tatsache, dass wir in unserer Bestrebung zum Achtstundentag auch für den 11-, 10-, und 9-stündigen gesetzlichen Arbeitstag stimmen würden. Die „freie Hand" kann also gegebenenfalls nur das Umgekehrte bedeuten, die Freiheit unserer Vertreter, eventuell im Interesse einzelner Branchen für Zollerhebungen oder wenigstens nicht gegen sie zu stimmen. Aber das ist ja gerade der Schippelsche Standpunkt, den die Resolution Kautsky widerlegen wollte, das ist ja gerade das, was zu verhüten war.

Die Resolution Kautsky in der jetzigen Fassung bietet also unseres Erachtens in der Zollfrage weder eine prinzipielle noch eine praktische Richtschnur für die Partei. Und die Eilfertigkeit, mit der Kautsky, Bebel und andere Verfasser der Resolution den Kompromiss mit Schippel durch das kleine Amendement akzeptierten, beweist uns, dass sie sich im Laufe der Debatte selbst nicht bewusst waren, worin gegebenenfalls der Schwerpunkt ihrer Stellungnahme gegenüber der opportunistischen lag. Dass ferner deshalb der Schippelsche Standpunkt in der Zollfrage formell unwiderlegt geblieben ist, trotzdem Kautsky in seiner Rede so viele gewichtige Argumente gegen ihn ins Feld führte, scheint uns ebenfalls Tatsache zu sein. Auf die Auffassung Schippels selbst hier einzugehen, ist uns unmöglich. Dies soll in einem anderen Zusammenhang geschehen.

III.

Wenn der Parteitag in der Frage der Zoll- und Handelspolitik die Fraktion, unseres Erachtens, ohne eine klare Richtschnur für ihr künftiges Verhalten gelassen hat, so ist dafür, was die beiden anderen wichtigen Fragen der Kolonialpolitik und des Militarismus anlangt, nach den Debatten in Stuttgart nicht der geringste Zweifel über die Wünsche und Auffassungen der Partei mehr möglich. Der Bericht über die parlamentarische Tätigkeit unserer Fraktion und die daran geknüpfte Debatte waren unserer Meinung nach überhaupt – neben der allgemeinen Debatte über die Taktik und neben der Zolldebatte – der wichtigste und zugleich der lichteste Punkt der Verhandlungen in Stuttgart.

Es ist mehr als einmal geäußert worden, dass, indem wir zu einer großen Partei werden, auch die Schwierigkeiten, die mit unserer Tätigkeit verbunden sind, mit jedem Tag größer werden. In keiner Beziehung ist diese Behauptung vielleicht so zutreffend, wie in Bezug auf die parlamentarische Tätigkeit unserer Vertreter im Reichstage. Die Rolle der Sozialdemokratie im bürgerlichen gesetzgebenden Körper ist von vornherein mit inneren Widersprüchen behaftet. An der positiven Gesetzgebung, womöglich mit praktischen Folgen, teilnehmen und zugleich den Standpunkt der grundsätzlichen Opposition zum kapitalistischen Staat auf jedem Schritt zur Geltung bringen – das ist im allgemeinen Umriss die schwierige Aufgabe unserer parlamentarischen Vertreter. Die Erfüllung dieser Aufgabe ist umso leichter, je geringer die Zahl dieser Vertreter. Eine kleine Fraktion, die bei den Abstimmungen über Gesetzesvorlagen nicht in Betracht kommt, ist von selbst auf ein vorzüglich negatives Verhalten angewiesen. Das Reden durch das Fenster des Parlaments ist dann die eigentliche Aufgabe der sozialdemokratischen Fraktion. Die Fraktion wächst aber mit jeder Reichstagswahl, und sie ist bereits zu einem Grade gewachsen, wo sie eine unter Umständen schwerwiegende Rolle im Reichstage spielen kann. Im Zusammenhang damit muss sich auch ihr Verhältnis zu der gesetzgeberischen Arbeit notwendig ändern. Die Quantität muss auch hier notwendig in die Qualität umschlagen. Singer hat im Laufe der Debatte in Stuttgart in einem ganz anderen Zusammenhang gesagt: „Ich bin überhaupt der Meinung, dass wir jetzt eine viel zu große und viel zu starke Partei geworden sind, als dass wir Anträge stellen, von deren absoluter Nutzlosigkeit wir von vornherein überzeugt sind." Dieser charakteristische Ausspruch beweist, dass unsere Fraktion sich ihrer geänderten Lage voll bewusst ist, er zeigt auch, nach welcher Richtung die Änderung stattfinden muss: Das bloß Demonstrativ-Agitatorische in der praktischen Tätigkeit tritt noch mehr, als es bis jetzt der Fall war, in den Hintergrund, die positive Arbeit tritt auf den ersten Plan. Aber das grundsätzliche Verhalten unserer Fraktion – das ist die eigentliche Schwierigkeit – darf dabei nicht im Mindesten verändert werden. Der Standpunkt muss in allen Fällen genau derselbe bleiben, wie er durch unser Programm und unsere Tradition gegeben ist. Was geändert werden muss, ist bloß die Methode, die Art und Weise, den Standpunkt zum Ausdruck zu bringen. Das Programm wurde einst in seiner nackten und abstrakten Form von der Tribüne bei jeder Gelegenheit dargelegt; es muss immer mehr in der Stellungnahme zu der Gesetzgebung über die kleinsten praktischen Fragen des täglichen Lebens hinübergeleitet werden. Den Mittelweg finden zwischen sektiererischer Negation und bürgerlichem Parlamentarismus, das ist die eigentliche Schwierigkeit, die sich einer starken sozialdemokratischen Minderheit bietet.

Indem aber das Wachstum der sozialdemokratischen Fraktion sie vor immer schwierigere Aufgaben stellt, bringt es auf der anderen Seite zugleich in der Zusammensetzung der Fraktion eine neue Schwierigkeit mit sich, um den wachsenden Aufgaben gerecht zu werden. Mit jeder Reichstagswahl treten in die Fraktion immer frischere und jüngere Elemente ein, die der großen Erfahrung und der Schulung im langjährigen Kampf ermangeln. Und, was dabei unseres Erachtens namentlich in Betracht kommt, ist nicht die einfache Stellungnahme zu den wichtigsten Fragen der Gesetzgebung, die durch direkte Beschlüsse der Partei festgesetzt, wie durch die Tradition der Fraktion gegeben werden kann, sondern die ganze Auffassungsweise in Bezug auf die allgemeine Rolle des Parlamentarismus In der sozialdemokratischen Bewegung, in Bezug auf den ganz besonders eigentümlichen Charakter, den eine sozialdemokratische Vertretung im Parlament im Unterschied zu jeder bürgerlichen Vertretung haben muss. Diese spezifische Auffassungsweise vom proletarischen Parlamentarismus lässt sich nicht durch Parteitags-Resolutionen einimpfen. Sie ist es aber, auf die wir vor allem Gewicht legen müssen und die wir eben, wie die Debatten in Stuttgart gezeigt haben, wenigstens bei einigen unserer Vertreter vermissen.

Als Beispiel müssen wir, obwohl es uns eigentlich widerstrebt, wiederum den Genossen Heine anführen. Wie Genosse Wurm in seinem Bericht dargelegt hat, wurde Heine wegen der bekannten Äußerung über die Kompensationspolitik von der Fraktion zur Verantwortung gezogen, aber sofort freigesprochen, nachdem er erklärt hatte, nicht an den Klassenstaat gedacht zu haben. Wir sehen davon ab, dass es ein Widersinn ist, von der Bewilligung von Kanonen an den sozialistischen „Staat" zu reden, dass somit die Äußerung Heines nur auf den Klassenstaat Bezug haben konnte.1 Wichtiger ist für uns die Tatsache, dass die Fraktion sich beeilte, den Fall Heine auf ein bloß formales Missverständnis auf Grund eines ungenauen Zeitungsberichts zurückzuführen, und nicht, wie sie hätte im Interesse der Partei tun sollen, in der Äußerung des Genossen Heine eine von der parteiüblichen grundverschiedene Auffassungsweise des ganzen politischen Kampfes wahrzunehmen und sich gegen dieselbe zu wenden. Dass es sich aber tatsächlich bei Heine um eine verschiedene Auffassungsweise und nicht bloß um unser Missverständnis handelt, beweist unwiderleglich ein auffälliger Satz in einer seiner Reden in Stuttgart. Das Volk verfügt nach Heine nur über zwei Waffen, mit denen es kämpfen kann: die Pistole, welche knallt, und die Pistole des Bewilligungsrechts im Parlament. Sind wir nicht Blanquisten und bauen wir nicht auf Heugabel-Revolutionen, so müssen wir nach Heine das ganze Gewicht auf das letzte Kampfmittel verlegen – auf das Bewilligungsrecht unserer parlamentarischen Vertreter. Es ist von Wurm, von Schoenlank, von Singer glänzend bewiesen worden, dass diese Auffassung irrtümlich, falsch, verkehrt ist. Aber sie ist – was Heine nicht gesagt wurde – viel schlimmer als falsch, sie ist ganz und gar unsozialdemokratisch. Sie ist nicht ein irrtümlicher Gedanke eines Sozialdemokraten. Sie ist der richtige Gedanke eines bürgerlichen Demokraten, der sich irrtümlich für einen Sozialdemokraten hält.

In der Tat, Heine kennt nur zwei von dem bürgerlichen Liberalismus uns überwiesene politische Kampfmittel: die Barrikade und den Parlamentarismus. Er kennt und bemerkt aber nicht das einzige, dritte Kampfmittel, das spezifisch von der Sozialdemokratie geschaffen wurde, die neue Potenz, der wir unsere bisherigen Erfolge verdanken und auf die wir in weiteren Kämpfen vor allem rechnen müssen – die Macht des Klassenbewusstseins des Proletariats. Für Heine sind diese Worte einfach eine Phrase. „Klassenbewusstsein des Proletariats" als direktes Kampfmittel, das ist für ihn etwas Lebloses, Ungreifbares, Imaginäres. Und doch war es nichts anderes als diese unsichtbare Potenz, die im preußischen Landtag, wo wir keine Vertreter haben, die reaktionäre lex Recke2 zu Fall gebracht hat. Und doch war es nichts anderes als die Wucht des Volkswillens, der ohne einen einzigen Pistolenknall direkt von der Straße in die Ohren der Wiener Regierung donnerte, welche das Ministerium Badeni gestürzt hat. Und doch war es weder der Pistolenknall, noch die Verweigerung der Budgetbewilligung, sondern der bloß durch das Votum ausgedrückte Volkswillen, der im Jahre 1890 den eisernen Kanzler ins alte Eisen geschleudert hat. Und doch ist es nichts anderes als der unsichtbare Druck des klassenbewussten Proletariats, der bis jetzt den Deutschen Reichstag, wo unser „Bewilligungsrecht" bei der geringen Zahl unserer Vertreter bloß ein imaginäres ist, und auch die deutsche Regierung zu den kümmerlichen Schulreformen gezwungen hat, die wir besitzen. Wem das Verständnis für diese Macht, für das, was gerade die sozialdemokratische Bewegung von allen bürgerlichen Parteikämpfen unterscheidet, entgeht und wer den Glauben an die Allmacht des parlamentarischen Bewilligungsrechtes teilt, der kann unmöglich im Reichstage den richtigen proletarischen Standpunkt unter den erschwerten Umständen vertreten. Und wir verübeln es, wie gesagt, unserer alten Fraktion, dass sie seinerzeit die Ansicht des Genossen Heine so kurzer Hand rechtfertigte und nicht viel ernster und tiefer die Frage erwog.

Umso erfreulicher war angesichts des Ernstes der Lage, in die unsere vergrößerte Fraktion im Reichstage kommt, der Bericht des Fraktionsvertreters, des Genossen Wurm. Nicht nur in der Darlegung des Standpunktes, den die Fraktion in den Fragen der Kolonialpolitik und des Militarismus einnimmt, waren die Ausführungen Wurms vollkommen befriedigend, sondern namentlich auch der ganz klare Geist seiner Rede, der frische und lebenswarme Zug und zugleich das klare Verständnis für die besondere Stellung der proletarischen Vertretung im Reichstage, die in seinen Ausführungen zum Ausdruck kamen, waren in der gegebenen Lage sehr willkommen. Die neue Fraktion in ihrer ganzen Zusammensetzung muss die lebhafte Zustimmung, die der Bericht unserer bisherigen Vertreter im Reichstage auf dem Parteitage gefunden hat, als bindende Richtschnur für sich betrachten. Wir ziehen aber aus den Debatten In Stuttgart noch einen anderen Schluss. Wir erachten es, wie gesagt, für unmöglich, durch bloße Parteitagsbeschlüsse unter den schwierigen Bedingungen, die durch die vergrößerte Reichstagsvertretung in doppelter Hinsicht geschaffen werden, eine ausreichende Richtschnur für die Tätigkeit der Fraktion zu geben. Das einzige Mittel, um der Fraktion ihre schwierige Aufgabe zu erleichtern, sehen wir darin, dass die Fraktion in noch größerem Maße, als es bis jetzt der Fall war, in beständiger Berührung mit der Gesamtpartei bleibt. Dazu ist einerseits erforderlich, dass namentlich die Parteipresse noch mehr das Berichtsmaterial verwendet, dass sie mehr durch Wünsche in Bezug auf das, was geschehen soll, durch Äußerungen über das, was geschehen ist, die Fraktion in ihrer Tätigkeit unterstützt. Andererseits ist auch erforderlich, dass die Fraktion selbst so viel wie möglich und bei jeder Gelegenheit Fühlung mit der Gesamtpartei sucht, und dass sie namentlich auf Äußerungen und, was wichtiger ist, auf die Auffassungsweise ihrer einzelnen Mitglieder mit vollem Ernst ihr Augenmerk richtet.

1 Es ist zweifellos, dass Rosa Luxemburg hier die in jener Zeit noch allgemein herrschende Unklarheit über das Wesen der proletarischen Diktatur zeigt. Aber das beeinträchtigt nicht die Feststellung, dass Wolfgang Heine nur eine billige Ausrede gebrauchte, um sich aus der Affäre zu ziehen. Unter der proletarischen Diktatur ist eine Kompensationspolitik: Kanonen gegen Volksrechte, erst recht unsinnig.

2 lex Recke, ein Versuch, das Koalitionsrecht zu verschlechtern.

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