Rosa Luxemburg 19110527 „Praktische Politik"

Rosa Luxemburg: „Praktische Politik"

[Erschienen in der „Leipziger Volkszeitung" vom 27. und 29. Mai 1911. Nach Gesammelte Werke Band 3, 1925, S. 469-477]

I.

Die „Schwäbische Tagwacht" sucht in einer sehr langen Artikelserie (bis jetzt sind acht „Rückblicke" erschienen) dasjenige nachzuholen, was richtiger vor der Oberbürgermeisterwahl in Stuttgart hätte geschehen sollen: eine Aussprache über die Möglichkeiten und Bedingungen einer sozialdemokratischen Kandidatur zum Oberbürgermeisteramt. Bei diesem verspäteten Versuch fällt jedoch dem aufmerksamen Leser ein Umstand sofort auf: so ausgedehnt räumlich die „Rückblicke" unseres Stuttgarter Blattes sind, so vermeiden sie doch bis jetzt peinlich, auch nur mit einem Wort auf die Kernpunkte der Frage einzugehen.

Ist das Amt des Oberbürgermeisters überhaupt ein Posten für sozialdemokratische Betätigung? Ist es vereinbar mit der Auffassung, mit den Prinzipien unserer Partei? Zur Beantwortung dieser Fragen würde offenbar als Material vor allem eine kritische Würdigung der Tätigkeit der bisherigen Vorsteher Stuttgarts, der Herren Rümelin, Gauß usw., dienen. Über dieses Kapitel hüllt sich die „Schwäbische Tagwacht" nach wie vor in Schweigen. Wir hatten die Stuttgarter Genossen auf ein sehr lehrreiches Beispiel, auf Offenbach, hingewiesen. Die „Schwäbische Tagwacht" geht auch auf diese Tatsache mit keiner Silbe ein. Und doch hätte sie allen Grund, gerade über den Fall in Hessen reiflich nachzudenken. Die Offenbacher Genossen haben es seinerzeit abgelehnt, einen Sozialdemokraten auf den Posten des Oberbürgermeisters zu stellen. Und dabei hatten sie ja die Mehrheit im Gemeinderat. In Frankreich haben unsere Genossen den Bürgermeisterposten in mehreren Kommunen erobert, aber – ganz abgesehen davon, dass Frankreich eine Republik ist – dort wird der Bürgermeister von der Mehrheit des Gemeinderats gewählt, so dass ein sozialdemokratischer Ortsvorsteher von vornherein Vertreter einer ihm gleichgesinnten Gemeindemehrheit ist. Wie liegen die Dinge in Stuttgart? Hier sollte ein sozialdemokratischer Oberbürgermeister ohne sozialdemokratische Mehrheit in den Vertretungskollegien: im Gemeinderat und Bürgerausschuss seines Amtes walten! Auch wenn man durchaus nicht vom prinzipiellen Standpunkt die Sache erfassen will, sondern sie als „praktischer Politiker" betrachtet, muss doch die Frage beantwortet werden: wie denkt sich die „Schwäbische Tagwacht" eigentlich die Situation eines solchen Oberbürgermeisters, der mit einer gegnerischen, bürgerlich-reaktionären Mehrheit im Gemeinderat und Bürgerausschuss ständig zu tun hat? Der Bürgermeister ist vor allem das ausführende Organ des Gemeinderats. Die württembergische Gemeindeordnung schreibt im Artikel 63 ausdrücklich vor, dass der Ortsvorsteher „für den Vollzug der gefassten Beschlüsse (des Gemeinderats) sorgt, auf Grund derselben im Namen des Gemeinderats die erforderlichen schriftlichen Erklärungen abgibt und die ergehenden Verfügungen unterzeichnet". Freilich, der Oberbürgermeister ist nicht bloß ausführendes Organ des Gemeinderats, er hat noch unabhängig von dem letzteren mannigfache Amtsbefugnisse, auf die wir später eingehen. Aber sein erster Beruf ist doch der Vollzug der Beschlüsse des Gemeinderats. In welcher Lage befindet sich nun ein Oberbürgermeister, der berufen ist, Beschlüsse eines Gemeindekollegiums auszuführen, dessen Mehrheit fast in allen Fragen der Gemeindepolitik einer ihm entgegengesetzten Auffassung huldigt? Muss er nicht auf Schritt und Tritt mit seinen sozialdemokratischen Überzeugungen oder aber mit der Mehrheit des Gemeinderats in Konflikt geraten? Ja, eine solche Situation wäre für niemanden unhaltbarer wie gerade für einen Sozialdemokraten. Denn nach unserer ganzen Auffassung soll ja ein Beamter nichts andres als ausführendes Werkzeug der gewählten Vertretung des Volkes sein. Der Umstand, dass der Ortsvorsteher in Württemberg in direkten Wahlen von der Gemeindebürgerschaft gewählt wird, ändert nichts an der Sache. Unser Programm fordert die direkte Wahl aller Beamten des Staates. Und doch ergibt es sich aus unserer ganzen demokratischen Auffassung, dass die Beamten bloße Werkzeuge der jeweiligen Volksvertretung sein sollen. Hörte man freilich die große Programmrede Dr. Lindemanns und las man die Artikel der „Schwäbischen Tagwacht" während des Wahlkampfs, dann konnte man beinahe zu der Überzeugung gelangen, der Stuttgarter Oberbürgermeister sei ein zum unumschränkten Schalten und Walten nach eigenem Gutdünken berufener Herr. Das „Ich" des Dr. Lindemann und alles mögliche an kommunalpolitischen Reformen, was dieses Ich kann, wünscht, für richtig hält, verspricht, war der einzige Inhalt der Agitation. Wie die Partei einerseits und ihre allgemeine Auffassung hinter der amerikanischen Reklame für die Person des Kandidaten verschwand, so war auch der Umstand vollkommen vergessen, dass ja nach dem sozialdemokratischen Standpunkt der Beamte möglichst wenig aus seinem eigenen Ich heraus schalten und walten, möglichst nur ein gehorsamer Diener der Gemeindevertretung sein soll. Sind wir doch auch prinzipiell gegen jede eigenmächtige Handlung der Regierung unter Ausschaltung der Volksvertretung, auch wo wir zufällig sachlich mit den Maßregeln der Regierung einig sind, und wo uns eine reaktionäre Parlamentsmehrheit entgegensteht. Ein Sozialdemokrat wird es also mehr wie jeder andere Parteipolitiker als Beamter für seine Pflicht halten müssen, ein getreues ausführendes Organ der gegebenen Mehrheit der Volksvertretung zu sein, ihr seine persönliche Auffassung unterzuordnen. Wie soll ein sozialdemokratischer Bürgermeister aus einer solchen Zwickmühle zwischen seinen Pflichten als demokratisch denkender Beamter und seinen Parteiüberzeugungen herauskommen? Auf diese Fragen eine klare Antwort zu geben, wäre erste Pflicht derjenigen Stuttgarter Genossen, die den Oberbürgermeisterposten für eine so unschätzbare Machteroberung hielten, dass sie ihm zuliebe die Parteidisziplin und die republikanische Parteitradition preiszugeben sich bereit erklärten.

Nun kommen aber die sonstigen Befugnisse, die vom Gemeinderat nicht eingeengte Machtsphäre des Oberbürgermeisters, hinzu. Sie ist durchaus nicht gering. Worin besteht sie aber? In seinen Pflichten als Staatsbeamter, als Hilfsorgan der Staatsregierung, und diese sind noch mehr geeignet, ihn in Konflikt mit seinen sozialdemokratischen Überzeugungen zu bringen. Nennen wir nur die Pflicht des Ortsvorstehers, an der Spitze der Polizei zu stehen und für die „Aufrechterhaltung der Ordnung" zu sorgen. Allerdings beziehen sich diese Befugnisse formell ebenso auf den kleinsten Dorfschulzen. Allein es ist eben nichts als trockener Formalismus, der mit wirklicher praktischer Politik in direktem Widerspruch steht, wenn mit dem Hinweis auf unsere Bürgermeister in kleinen Gemeinden die Frage des „Stadtschultheißen" von Stuttgart erledigt werden soll. Das Vorsteheramt einer monarchistischen Residenzstadt ist denn doch etwas anderes als das eines Dorfschulzen oder des Ortsvorstehers von Waiblingen. In der modernen Großstadt, im Mittelpunkt der Regierung eines kapitalistischen Klassenstaats, kommen die sozialen und politischen Gegensätze zur höchsten Entfaltung, und das Idyll eines kommunalen Krähwinkels verwandelt sich in die Brutalität des modernen Klassenkampfs in seiner ganzen Nacktheit. Dies ist so wahr, dass selbst in dem republikanischen Frankreich der Zentralmaire – Oberbürgermeister – der Stadt Paris sich in den Präfekten des Seine-Departements, d. h. in einen Regierungsbeamten sans phrase verwandelt. Im monarchistischen Deutschland kommt dies natürlich noch deutlicher zum Ausdruck. Die württembergische Gemeindeordnung selbst verleiht dem Ortsvorsteher einer Großstadt eine andere Stellung als den sonstigen Schultheißen. Der Titel selbst des Oberbürgermeisters beruht nur auf einer königlichen Verleihung, ist also eine Art monarchistischer Livrée. Während bei der Versagung der Bestätigung an kleinere Ortsvorsteher die Begründung angegeben wird und im Beschwerdeweg angefochten werden kann, bedarf die Nichtbestätigung des Oberbürgermeisters durch den König keiner Begründung, und eine Beschwerde gegen sie ist ausgeschlossen. Weit entfernt, leere Formalitäten zu sein, bringen diese Bestimmungen vielmehr zum Ausdruck, dass der Oberbürgermeister von vornherein nicht bloß als Kommunalbeamter, sondern auch als Staatsbeamter einer königlichen Regierung gedacht ist. Auch gewinnt die Verwaltung der Polizei und die Sorge für die „Aufrechterhaltung der Ordnung" in einem Mittelpunkt des politischen Lebens ganz andere Bedeutung wie in einer Dorfgemeinde. Es kommt dabei z. B. nach der württembergischen Gemeindeordnung das schöne Gesetz vom 28. August 1899, „betreffend das Verfahren bei Aufgebot der bewaffneten Macht gegen Zusammenrottungen" usw. in Betracht, und man kann sich denken, in welche Situationen ein sozialdemokratischer Oberbürgermeister bei stürmischen Streiks in der Art Moabits oder, um im „liberalen" Süddeutschland zu bleiben, Mannheim-Ludwigshafens oder Pforzheims, im Falle großer Massendemonstrationen geraten mag.

Ferner kommen aber der famose „Verkehr mit der Krone" sowie die „Repräsentationspflichten" in Betracht, für die sich der Stuttgarter Kandidat von vornherein von der Parteidisziplin befreien ließ. Man muss dem Dr. Lindemann zugestehen, dass die Konsequenz ganz auf seiner Seite ist: ohne Verkehr mit der Krone und ohne monarchistische Repräsentation ist kein Oberbürgermeister von Stuttgart denkbar. Aber damit ist nur noch deutlicher bewiesen, dass dieses Amt kein Posten für einen Sozialdemokraten ist.

Rein äußerliche Formalitäten", „leere Zeremonien" – mit diesen Phrasen werden leichter Hand die republikanischen Traditionen der Sozialdemokratie beiseite geschoben. Es gibt selbst bürgerliche Parteien, die aus Opposition zur herrschenden Regierung die geringste Konzession an eine Loyalitätszeremonie verschmähen. Es ist zu bedauern, dass es Kreise in der Sozialdemokratie gibt, die nicht so viel Stolz in den Knochen haben wie z. B. die irischen Nationalisten, die – keine Republikaner wie wir – es schroff zurückwiesen, an der Trauerfeier nach dem Tode des englischen Königs irgendeinen Anteil zu nehmen, mit der offiziellen Begründung, dass die Könige Englands auch die verstorbenen Führer der irischen Freiheitskämpfer nicht ehrten. Es handelte sich tatsächlich um eine bloße Zeremonie, aber die Iren verstanden, dass im politischen Leben auch Formalitäten ihre Bedeutung haben. In England ist die ganze Monarchie mehr oder weniger eine Formalität. In Deutschland jedoch handelt es sich nicht um Formalitäten, sondern um faustdicke Realitäten des Klassenkampfes und die sogenannten „praktischen Politiker" sind auch hier – wie immer – in ihrer eingebildeten Überlegenheit letzten Endes nur die Düpierten unserer Gegner.

II.

Man hat es dem „Hamburger Echo" sehr übel vermerkt, dass es von der Möglichkeit sprach, der Genosse-Oberbürgermeister in Stuttgart würde vielleicht „mit gekrümmtem Rücken und entblößtem Haupt" am Empfange des deutschen Kaisers teilnehmen müssen Auch unseren Ausdruck von den „sozialdemokratischen Lakaienbücklingen in höfischen Vorzimmern" hat die „Schwäbische Tagwacht" mit edler Entrüstung als „Besudelung" des Dr. Lindemann zurückgewiesen. Wir sprachen in der „Leipziger Volkszeitung" ganz allgemein von monarchistischen Kundgebungen, wie sie leider in der letzten Zeit hier und da von Einzelnen in der Partei vorgenommen worden sind. Schiebt jedoch die „Schwäbische Tagwacht" selbst den Dr. Lindemann und seinen Mannesstolz vor Königsthronen auf den Plan, so hat sich jedenfalls Dr. Lindemann selbst und eigenhändig „besudelt", und zwar durch seinen Brief an den Leipziger Parteitag1, worin er an jenem Besuche beim König festhielt, der offiziell von der Gesamtpartei als eine unter der Würde des Sozialdemokraten stehende „monarchistische Kundgebung", d. h. inhaltlich als „Lakaienbückling im höfischen Vorzimmer" aufgefasst und verurteilt worden ist, und die selbst die übrigen Landtagskollegen Dr. Lindemanns öffentlich bedauert haben. Es bestand also durchaus kein Grund, speziell auf die republikanische Würde des Stuttgarter Kandidaten so große Stücke zu bauen, umgekehrt mahnte gerade die Person des Kandidaten zum kräftigsten Misstrauen.

Doch es heißt überhaupt die Frage ins Groteskwinzige verzerren, wenn die „Schwäbische Tagwacht" und ihre Gesinnungsgenossen sich jetzt auf das Problem konzentrieren wollen, ob der Bürgermeister vor dem Throne mit krummem oder mit geradem Rücken stehen soll. Es sind hier die „Realpolitiker", die sich an den äußeren Schein der Dinge klammern. Der Verkehr mit der Krone ist aber keine Zeremonie, keine Frage der Etikette oder der Höflichkeit, sondern er entspricht dem Charakter des Amtes eines Oberbürgermeisters in der monarchistischen Residenzstadt. Hier besteht ein großer Unterschied zwischen der Formalität eines Treueids, den z. B. unsere sächsischen Landtagsabgeordneten leisten mussten, und den monarchistischen Repräsentationspflichten eines Oberbürgermeisters. Der Treueid in Sachsen war eine reaktionäre Formel, die mit dem Wesen und der Tätigkeit des Landtagsabgeordneten nichts zu tun hatte. Im Gegenteil, die Sozialdemokraten gingen in den Landtag hinein, um Gesetze zu machen, um die Verfassung zu ändern, um die bestehende reaktionäre Verfassung und Gesetzgebung zu bekämpfen. Der Oberbürgermeister ist ein Beamter, er kann und soll keine Gesetze machen oder ändern, er soll sie nur getreu ausführen. Und die gesetzliche Stellung des Oberbürgermeisters, die ihm seinen Titel als eine monarchistische Verleihung gewährt, die seine Bestätigung von dem freien Gutdünken des Königs ohne Widerruf abhängig macht, die ihn halb zum Kommunalbeamten und halb zum Hilfsorgan der Staatsregierung macht (Art. 63 der württembergischen Gemeindeordnung), deren Aufträge für ihn in allen Dingen verpflichtend sind, diese gesetzliche Stellung macht den Oberbürgermeister der Residenz trotz der direkten Wahlen zu einem königlichen Beamten, der nicht aus weltmännischem Takt, sondern aus Dienstpflicht mit der Krone verkehrt, der seinem ganzen Charakter nach ein Bindeglied zwischen der Gemeinde und der Krone ist.

Freilich, es handelt sich ja nur um eine süddeutsche Krone, um den „harmlosen Wilhelm II. von Württemberg", der „nie ein verletzendes Wort gegen die Sozialdemokraten gesagt hat". „Wir sollten – meint die „Schwäbische Tagwacht" – die Unterschiede, die in den Charaktereigenschaften und dem öffentlichen Auftreten der Monarchen der größten deutschen Bundesstaaten wahrnehmbar sind, nicht geflissentlich übersehen, sondern bei passender Gelegenheit unterstreichen, das könnte nach mancher Richtung heilsam wirken." Also nicht die Monarchie als Institution, sondern die Person des jeweiligen Landesvaters mit seinen „Charaktereigenschaften", wie er sich räuspert und spuckt, das soll für unser Verhalten als Klassenpartei des Proletariats maßgebend sein, und wir sollen durch Belobigung der Tugendhaften und Verweise an Bösewichter auf dem Thron „bei passender Gelegenheit" auf die Monarchen erzieherisch wirken. Die „Schwäbische Tagwacht" scheint vergessen zu haben, dass auch der württembergische König früher in Kriegervereinsreden gegen die Sozialdemokratie gemacht hat und was viel wichtiger – dass bei der Beratung der württembergischen Gemeindeordnung in der Kammer der Minister der königlichen Regierung seinerzeit erklärt hat: die Regierung werde nie dulden, dass die rote Fahne von den Rathäusern wehe, und dass er unter diesem Gesichtswinkel sich für das Proportionalwahlsystem ausgesprochen hat. Das Verhalten der Regierung der Lindemannschen Kandidatur gegenüber, und zwar nach allen demütigenden Zusicherungen des Kandidaten im Voraus, ist so ein frischer Tropfen Wermut in den Kelch des Genossen Keil und seiner Freunde.

Vor allem aber kommt wieder ein typisch partikularistischer Horizont darin zum Ausdruck, das Institut der Monarchie nach der „Harmlosigkeit" eines einzelnen Landesvaters zu bewerten, die tieferen Zusammenhänge aber der politischen Entwicklung im Ganzen ganz außer acht zu lassen. Ist doch die äußere „Biederkeit“, d. h. die relative Passivität und Zurückhaltung der süddeutschen Träger der Monarchie nur die andere Seite der aggressiven, offen brutalen Haltung der preußisch-deutschen Krone, ebenso wie sich die süddeutschen Regierungen den Luxus eines gewissen Scheinliberalismus gestatten können, gerade weil die preußisch-deutsche Reichspolitik für gemeinsame Rechnung die nötige Reaktion besorgt. Für die Sozialdemokratie ist jeder Träger einer deutschen Krone nicht eine harmlosere oder gehässigere Person, sondern das Haupt einer Klassenregierung, die im Bundesrat alle reaktionären Knebelungsmaßnahmen gegen die Arbeiterklasse mitmacht, die eine Stütze der politischen Zersplitterung Deutschlands, des Militarismus, der Junkerherrschaft in Preußen, und der Herrschaft Preußens in Deutschland ist. Man muss auch hier wieder den „praktischen Sinn" der „Realpolitiker" bewundern, die es fertig bringen, nicht zu merken, dass die Monarchie in Deutschland nicht immer mehr zu einer Äußerlichkeit, sondern zu einem immer bedeutenderen Faktor des öffentlichen Lebens wird, um nicht zu merken, wie vor Angst und Hass gegen die Arbeiterklasse das Bürgertum sich – auch in Süddeutschland – in letzter Zeit immer fester um die Monarchie schart, wie in den bürgerlichen Kreisen – auch in Süddeutschland – der Byzantinismus immer widerwärtigere Formen annimmt. Unter diesen Umständen hat die Sozialdemokratie wahrhaftig weniger als je Anlass, vor der Monarchie – sei es auch in steifer Positur, „mit Würde" – Verbeugungen zu machen, und das Stuttgarter Ansinnen, sich über die republikanische Parteitradition, über die ausdrücklichen wiederholten Beschlüsse der Parteitage gegen jede Konzession an die Monarchie schlankweg hinwegzusetzen, erscheint freventlicher und sträflicher denn je.

Es genügt, alle diese Gesichtspunkte anzuführen, um einzusehen, dass hier zum mindesten ein Problem vorliegt, über das sich die Partei in ernstlicher Weise schlüssig werden muss. Mag sie entscheiden, wie sie für gut findet, aber Überlegung, Diskussion, Erörterung der Frage und Beschlussfassung der Masse der Genossen sind nötig. Die Art hingegen, in der der folgenschwere Entschluss in Stuttgart ohne jede vorhergehende Diskussion auch nur in Stuttgart selbst zwischen Tür und Angel gefasst und dabei der flagrante Disziplinbruch begangen worden ist, kommt einer Überrumpelung der Partei auf ein Haar gleich.

Was besagt es demgegenüber, wenn die „Schwäbische Tagwacht" jetzt nichts anderes vorzubringen weiß, als die armselige Redensart, „dass die Parteigenossen an der russischen, polnischen, dänischen, holländischen Grenze, die überdies das Recht der direkten Stadtvorstandswahl aus der Praxis gar nicht kennen, weil sie es leider nicht besitzen, die Verhältnisse in Stuttgart nicht so zu übersehen vermögen, wie die Parteigenossen am Ort". Besteht die Gesamtpartei Deutschlands aus Genossen „an der russischen, polnischen, dänischen, holländischen Grenze?" Diese fast rührende Armut der Beweisführung, diese Unfähigkeit, einen einzigen sachlichen Grund ins Treffen zu führen, sind aber charakteristisch für die ganze Politik einer gewissen Richtung. Für diese „praktischen Politiker" gibt es eben keine Probleme. Nur zugreifen, ohne sich die Frage nach den praktischen Folgen vorzulegen, das ist die ganze Weisheit, und wenn es auch nur Regenwürmer sind, was unsere Schatzgräber in der Regel finden. Für diese „Realpolitiker" ist die nackte Tatsache genügend, dass überhaupt gewählt werden kann, um ohne weiteres die Notwendigkeit der eigenen Parteikandidatur zu folgern. So war nach S. in der „Kommunalen Praxis"2) die Kandidatur Dr. Lindemanns „eine ganz selbstverständliche Konsequenz der demokratischen Bestimmung der schwäbischen Gemeindeordnung, wonach die Wahl der Stadtvorstände eine Angelegenheit der Gesamtbürgerschaft ist und in direkter Wahl erfolgt. Eine Partei, die das allgemeine Wahlrecht nicht als Spielzeug, oder günstigenfalls als Mittel und Anlass zur agitatorischen Betätigung betrachtet, muss seine Konsequenzen ziehen oder abdanken. Ein Drittes gibt es nicht." Nicht das Amt also mit seinem konkreten Inhalt, seinem tatsächlichen und historisch gewordenen, aus den Verhältnissen des monarchistischen Klassenstaats sich ergebenden Charakter ist maßgebend, auch nicht die Frage: wie steht es mit der Mehrheit des Gemeinderats, – lediglich das doktrinäre Prinzip des Wählens entscheidet. Wenn also der Papst durch die christliche Gemeinde wählbar wird, so müssen wir einen Parteikandidaten für den Stuhl des heiligen Petrus aufstellen. So deduzieren „Realpolitiker", die sich über „Doktrinäre" und „Theoretiker" mokieren! Für den Genossen Kolb ist die Frage noch einfacher: es bedarf überhaupt keiner Erwägungen. Ist die Aussicht auf einen Posten vorhanden, dann selbstverständlich zupacken, ohne jede andere Begründung als die alte Litanei: ehemals hatte die Partei in ihrer Verblendung verschiedenes „negiert", folglich muss sie heute einfach zu allem Ja und Amen sagen. Ja, Kolb sieht direkt in der Stuttgarter Kandidatur ein blühendes Gegenstück zur glorreichen Großblocktaktik und Budgetbewilligung in Baden und erklärt, als das Schreckenskind des Revisionismus, ganz offen die schwersten Konflikte innerhalb der Partei im Gefolge des Oberbürgermeisteramts für unausbleiblich. Was selbstverständlicher, als dass er gerade diese Konflikte für das unumgängliche Mittel erklärt, um endlich die Fesseln der Parteigrundsätze und der Parteidisziplin zu sprengen, die ihm und seinesgleichen den ikarischen Flug in die Sonne der nationalliberalen Politik periodisch erschweren. Ebenso ist die Stuttgarter Kandidatur von der „Chemnitzer Volksstimme", von der „Breslauer Volkswacht", von der „Magdeburger Volksstimme“ als ein kühner Vorstoß der Revisionismus, als die Morgenröte einer „neuen Ära" ausdrücklich gefeiert worden. Und die etwas vorzeitig gefeuerten Vivatschüsse aus den Böllern des „Neckar-Echo, die der „Schwäbischen Tagwacht" so peinlich ungelegen kamen, haben nur eine drollige bengalische Beleuchtung zu dem in aller Eile vorbereiteten freudigen Familienfest in den Zelten der „praktischen Politik" geliefert. Umso begreiflicher jetzt die Wutausbrüche der „Chemnitzer Volksstimme", Südekums und anderer betrübter Lohgerber, denen so ein Stück „neue Ära" sozusagen vor der Nase weggeschwommen ist. Umso mehr hat aber auch die Gesamtpartei die Pflicht, die Akten der Affäre Lindemann nunmehr in die Hand zu nehmen und – da der Parteivorstand in seiner Amtswaltung leider versagt hat – auf dem nächsten Parteitag selbst das maßgebende Wort zu sprechen.

1 Die württembergischen Abgeordneten hatten in Leipzig erklärt, sie hätten beim Besuch der Zeppelinwerft keine monarchistische Demonstration erwartet und sich an der Fahrt nicht beteiligt, wenn eine solche zu erwarten gewesen wäre. Im Protokoll des Leipziger Parteitags, Seite 479, heißt es: „Der Genosse Lindemann aus Stuttgart teilt dem Parteitag mit, dass die Erklärung, die in Betreff der Württemberger Angelegenheit von den Beteiligten abgegeben ist, ihm nicht vorgelegen hat und dass er derselben in dieser Form seine Zustimmung nicht gegeben hätte."

2S = Südekum; in der „Kommunalen Praxis" vom 24. Mai 1911.

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