Rosa Luxemburg 18990928 War es ein Kompromiss?

Rosa Luxemburg: War es ein Kompromiss?

[Erschienen in der „Leipziger Volkszeitung" vom 28. September 1899. Nach Gesammelte Werke Band 3, 1925, S. 419-423]

Genosse Parvus, den wir in unserer Betrachtung über die bayerische Landtagswahl nur im Vorbeigehen erwähnt haben, antwortet uns in der „Sächsischen Arbeiterzeitung" durch eine Verteidigung des Vorgangs der bayerischen Genossen auf der ganzen Linie. Vor allem wirft er uns die Befürwortung eines reaktionären Kartells des Zentrums mit den Nationalliberalen, ihrer Zersplitterung gegenüber, vor.

Das ist allerdings ein schwerer Missgriff! Ein reaktionäres Kartell statt der bürgerlichen Zersplitterung befürworten, das ist ungefähr das direkte Gegenteil von dem, was die Arbeiterinteressen erfordern… Nur vergisst der gute Parvus, dass im gegebenen Falle die Frage nicht lautete: Kartell oder Zersplitterung, sondern Kartell oder sichere Mehrheit einer Reaktionspartei. Steht aber die Frage so, dann muss die Sozialdemokratie allerdings das Kartell und nicht die Mehrheit vorziehen. Die positiven praktischen Errungenschaften im Landtage sind der Sozialdemokratie in beiden Fällen gleich unmöglich gemacht, das Kartell entlarvt und kompromittiert aber wenigstens alle bürgerlichen Parteien gleichmäßig, ist also vom agitatorischen Standpunkt viel günstiger, als die Herrschaft einer Partei, die den anderen nicht um ein Haar besseren Parteien die Möglichkeit gibt, die verfolgte Unschuld zu spielen. Von diesem Standpunkt erachten wir eben den Vorgang der bayerischen „praktischen Politik" für einen starken Missgriff.

Dass das Zentrum „auch ohne uns" die Majorität erlangt hätte, geht uns hier nichts an. Das Sozialistengesetz war auch „ohne uns" angenommen, deshalb haben wir doch bei seiner Annahme nicht mitgeholfen.

Das Zentrum ist aber weniger gefährlich als die Nationalliberalen, sagt Parvus, gerade weil veralteter (d. h. reaktionärer, wie wir schreiben). Er schrieb auch früher zu diesem Punkte: ein mittelalterlicher Nachtwächter mit einem Zopf sei nur eine komische Figur … Wir unsererseits glauben, gestützt auf die Versicherungen des bayerischen Handbuches für sozialdemokratische Wähler, dass die Unterscheidung zwischen der Reaktion des bayerischen Zentrums und der bayerischen Nationalliberalen ebenso schwierig sein dürfte, wie zwischen dem Wohlgeruche des Mönches und des Rabbis von Toledo. Wenn uns Parvus aber die harmlose Figur des nur-komischen bezopften Zentrumsnachtwächters vorführt, so müssen wir schon sagen, dass wir gerade bei dem Zentrum, besonders bei dem bayerischen, die modernsten Formen der reaktionären Agitation vorfinden. Denn, mit Verlaub, wer gründet Arbeitervereine, das Zentrum oder die Nationalliberalen? Wer sucht den alten, morschen Kern der Reaktion sogar in die modernste – sozialistische Hülle zu stecken, wenn nicht das Zentrum? Also mit dem „mittelalterlichen Zopf" des Zentrums und seiner geringen Gefährlichkeit für uns hat es wieder nicht viel auf sich.

Freilich, Parvus behauptet, dass wir eben dem Zentrum jetzt seine Arbeiterwähler nehmen werden. Warum das? „Der Grund ist einfach: Wir allein sind Vertreter der Arbeiterinteressen." Nun, aus diesem Grunde werden wir die Zentrumswähler allerdings über kurz oder lang gewinnen. Wir sind so tief von der Macht der sozialistischen Ideen überzeugt, dass nach unserer Meinung sogar die taktischen Dummheiten und Kompromisseleien der bayerischen Genossen es nicht verhindern können, dass wir schließlich die Massen gewinnen. Es fragt sich nur, inwiefern die gegebene jetzt angewendete Taktik geeignet ist, unseren Charakter als der „einzigen Arbeiterpartei" zu rechtfertigen?

Die Arbeiterwähler des Zentrums sollen jetzt sicher zu uns herüberkommen, nachdem sie mit uns ein Wahlgeschäft glücklich gemacht haben! Dieselben katholischen Arbeiter, die die eigentlichen Urheber des Kuhhandels waren – mit dem ausdrücklichen Wunsch, wie Vollmar schrieb, die verhasste Herrschaft der Nationalliberalen loszuwerden, also einfach aus kühler Berechnung, um uns für ihre Zwecke bloß als ein Instrument, als Packesel zu gebrauchen! Diese Arbeiter sollen sich selbst jetzt die „Scheuklappen" vor der Sozialdemokratie abgenommen haben und zu uns herüberkommen! Ja, in gewissem Sinne werden sie schon die Scheuklappen verloren haben: früher konnten sie vielleicht denken, dass „die einzige Arbeiterpartei" sich für ihre reaktionären Parteizwecke nicht gebrauchen lässt, jetzt sind sie diese Furcht oder vielmehr Ehrfurcht allerdings los … „Man muss überhaupt", sagt Parvus, „die bürgerlichen Fraktionen von ihrer Wählerschaft zu unterscheiden wissen. Darauf basiert unsere ganze Agitation. Die ersteren bekämpfen wir, die letzteren suchen wir zu gewinnen." Nun, nach dem bayerischen Beispiel weiß man wenigstens, wie das gemacht wird: wir „gewinnen" die bürgerliche Wählerschaft, indem wir uns zu ihren Parteizwecken als Mittel gebrauchen lassen, und wir „bekämpfen" die bürgerlichen Fraktionen, indem wir ihnen zur Mehrheit verhelfen …

Dass man sich bei dem Kampf um das Wahlrecht nicht „ausschließlich auf den Druck des Volkes", sondern auch auch auf parlamentarische Konstellation verlegen muss, das ist abermals richtig, wie überhaupt alle allgemeinen Regeln der Politik Parvus in diesem Falle die stärkste Seite sind. Aber wiederum, welche Anwendung hat diese Regel auf die bayerischen Landtagswahlen?

Wir sehen hier einen Augenblick davon ab, dass Parvus sich sonst nicht für Erzielung „parlamentarischer Konstellationen" um jeden Preis (so z. B. für Erzielung von Volksrechten durch Gewährung von Kanonen) erwärmte. Fragen wir nur nach der Konstellation selbst! Also der Druck des Volkes ist zur Erringung einer Wahlreform in Bayern ungenügend, man musste noch eine günstige Parteikonstellation im bayerischen Landtage schaffen. Und wodurch wurde das zustande gebracht? Dadurch, dass man derjenigen Partei, die bis jetzt, als sie noch keine Mehrheit hatte, jede Wahlreform zu hintertreiben wusste, dass man ihr nun für sechs Jahre eine Majorität im Landtage gesichert hat … Das war die zur Wahlreform erforderliche „parlamentarische Konstellation"! Sehen Sie, lieber Parvus, was Sie uns da erzählen!

Angesichts dieser faustdicken Tatsache der wahlreformfeindlichen Majorität des Landtags ist die Verdoppelung der sozialdemokratischen Mandate, die mit jener erkauft wurde, für die Wahlrechtsfrage eine Verschlechterung und nicht eine Verbesserung der „Konstellation". Freilich können jetzt die elf Abgeordneten eventuell zweimal soviel im Landtag reden wie vorher die fünf. Aber ihre Reden werden ja jetzt, insofern das Parlament als solches in Betracht kommt, eine Stimme in der Wüste sein. Gegenwärtig sind die bayerischen Abgeordneten ja ausschließlich auf das Reden „durch das Fenster" angewiesen. Und so sind unsere „praktischen Politiker" in schönsten Widerspruch mit sich selbst geraten: aus lauter Drang nach „positiven Erfolgen" haben sie sich jede Aussicht auf positiven Erfolg abgeschnitten und sich zu rein agitatorischer Rolle im Landtag verurteilt.

Für uns ist diese Seite ihrer Tätigkeit freilich die wichtigste und schätzenswerteste. Nur spielt vom agitatorischen Standpunkt wieder die Zahl der Landtagssitze eine untergeordnete Rolle, und ein Wahlkompromiss zu ihrer Verdoppelung erscheint eben von demselben Standpunkt als eine ganz absurde Zweckwidrigkeit.

Aber war die bayerische Wahlabmachung eigentlich ein Kompromiss? Wir gelangen hier zur letzten und wichtigsten Frage. Sie klar und deutlich zu beantworten, scheint uns nicht nur zur Beurteilung der letzten bayerischen Landtagswahl, sondern auch zur Entscheidung über die allgemeine Richtschnur bei den Landtagswahlen, die schon vor dem nächsten Parteitag aufgestellt wird, notwendig.

Es wurde in der Partei in der letzten Zeit viel darüber gestritten, was ein Kompromiss sei. Stellt man das Abstimmen für das „geringere Übel" als Grundsatz bei unserem Zusammengehen mit bürgerlichen Parteien auf, dann gewinnen wir keine Schranken für Kompromisse, denn guter Wille wird unter der schwärzesten Reaktion noch eine unsichtbare Nuance herausfinden, wie denn auch das bayerische Zentrum nun als das „geringere Übel" aufmarschiert. Verbietet man uns dagegen, im Allgemeinen „für die Reaktion" zu stimmen, dann gewinnen wir keine Grundlage für unser Zusammengehen mit der Bourgeoisie, denn welche bürgerliche Partei ist heute nicht reaktionär?

Wir glauben, dass eine sehr sichere Richtschnur sich gerade aus unseren bisherigen Stichwahlen zum Reichstag ableiten lässt, und die liegt im Folgenden: wir dürfen nur da für eine bürgerliche Partei stimmen, wo ihre Verstärkung im Reichstag oder Landtag aus politischen Gründen an und für sich im Interesse der Arbeiter erwünscht ist, und niemals dort, wo diese Verstärkung an sich schädlich und nur als Bedingung eines anderweitigen Gewinns, einer Gegenleistung für uns erscheint.

Diese Regel lässt den politischen Wert der bayerischen Abmachung im hellen Lichte erscheinen. Würde man den bayerischen Genossen zumuten, so ohne weiteres das Zentrum im Landtage im Interesse der Arbeiterschaft zu verstärken, sie würden das als einen Wahnsinn zurückweisen. Nun taten sie aber hier, was sie sonst nie getan hätten, nicht um etwa durch die Zentrumsvertretung im Landtage irgendeinen politischen Gewinn zu erzielen, wie wir es z. B. durch die Verstärkung des Freisinns im Reichstage tun, sondern weil sie mit dieser an sich schädlichen und unerwünschten Vertretung für sich eine Anzahl Mandate erkauften.

Der Kompromiss und der Wahlschacher im eigentlichen Sinne des Wortes liegen somit auf der Hand. Und daran, lieber Parvus, ändert nichts, dass unsere Wahlflugblätter und Wahlreden das Zentrum aufs schärfste bekämpften. Dadurch wird unsere Abstimmung für das Zentrum nicht besser, nur wurde mit dieser Abstimmung den Reden und Flugblättern ins Gesicht geschlagen…

Und so betrachten wir die bayerische Wahlabmachung als einen grundsätzlich verwerflichen Kuhhandel, der obendrein, wie dies stets der Fall, auf eine saftige Dummheit vom praktischen Standpunkte hinauslief.

Parvus beschuldigt uns zum Schluss, einfach immer das Gegenteil von dem behaupten zu wollen, was Genosse Vollmar sagt, und er protestiert dagegen aus Achtung vor der „Sozialrevolutionären Kritik". Hier hat er auch, abgesehen von der „Sozialrevolutionären Kritik", vollkommen recht. Wir glauben gleichfalls, dass, wenn Genosse Vollmar erklären wird, die Erde sei kugelförmig, es notwendig ist, ihm zum Trotz zu behaupten, sie sei ein Zylinder.

Aber das ist auch so selbstverständlich, dass wir in der Erklärung von Parvus weniger einen Vorwurf für uns wegen unserer Gegnerschaft zu Vollmar, als eine indirekte Entschuldigung von ihm für seine Übereinstimmung mit Vollmar sehen.

Aber er mag ruhig sein, niemand von uns wird seine Stellungnahme in diesem einzelnen Falle mit der Vollmars identifizieren. Was bei dem letzteren eine Konsequenz seiner allgemeinen opportunistischen Politik, ist bei Parvus nur die schiefe Beurteilung einer Einzelerscheinung.

Es geschieht auch deshalb, und nicht etwa deshalb, wie uns Parvus schon aufs Wort glauben wird, aus Mangel an Sinn für das Komische oder an Mitteln es dem Leser zu zeigen – dass wir den drastischen Ausfall von Parvus so sanft beantworten. Ein zufälliges Ausrutschen zählt nicht, und im Allgemeinen stehen wir ja mit Parvus auf der gleichen Linie und hoffen, dass er, trotzdem er, wie er schreibt, jetzt leider sehr wenig Zeit für unsere Streitigkeiten übrig hat, doch nach wie vor sein wachsames Auge auf die Partei richten und bei jedem opportunistischen Seitensprung die Betreffenden mit jener elementaren Wucht treffen wird, in der es ihm keiner so bald nachmacht …

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