Rosa Luxemburg 18981002 Zum Stuttgarter Parteitag

Rosa Luxemburg: Zum Stuttgarter Parteitag

[Sächsische Arbeiterzeitung" vom 2. Oktober 1898. Nach Gesammelte Werke Band 3, 1925, S. 122-125]

Unter hageldicht von allen Seiten niedersausenden Schlägen der Reaktion, inmitten des heißesten Gefechtes mit den Feinden der Arbeiterklasse um ihre fundamentalsten Rechte tritt diesmal der Parteitag der deutschen Sozialdemokratie zusammen. Es ist dies keine friedliche Konferenz bei schönem Wetter der behaglichen Ruhe, es ist ein unter rasch aufgespanntem Zelt inmitten des Kriegsschauplatzes unter feindlichem Feuer, mit heißen Pulsschlägen und doch mit eiserner Ruhe in Kaltblütigkeit beratender Kriegsrat.

In der Tat, seit dem Sozialistengesetz, in den ganzen letzten Jahrzehnten haben wir noch nie einen Augenblick gehabt, in dem die politischen Gegensätze, unser Kampf mit den dunklen Mächten der kapitalistischen Gesellschaft so zugespitzt waren wie gerade jetzt. Einerseits das wahnsinnige, die Interessen des Volkes mit Füßen tretende, seinen berechtigten Forderungen hohnsprechende Wettrennen des Militarismus und Marinismus, in das sich Deutschland kopfüber stürzt, die ruhige kulturelle Entwicklung größten Gefahren aussetzend. Andererseits der Beutezug des feudalistischen Junkertums und seine Brotverteuerungs-Verschwörung gegen das arbeitende Volk. Von dritter Seite der Anschlag aller vereinigten Reaktionsmächte auf das politische Grundrecht der Arbeiterklasse, auf das Reichstagswahlrecht. Von vierter Seite die neueste Attacke, die das Proletariat an seiner empfindlichsten Stelle treffen soll — der Feldzug gegen das Koalitionsrecht. Endlich die geplante Wiederbelebung des Gespenstes der heiligen Allianz aller europäischen Mächte gegen die internationale Arbeiterbewegung unter dem Vorwand einer anti-anarchistischen Hetzjagd.1 … Wir gehören nicht zu den Heißspornen, die alle Augenblicke den Morgenhauch der Revolution wittern, aber wenn man das ganze Bild des gegenwärtigen politischen Lebens in Deutschland überblickt, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Zeit schon etwas von dem heißen Hauch des verzweifelten Ringens atmet, das gewöhnlich den Anfang vom Ende bedeutet. Die Gegner schlagen wütend und blind um sich, und ihre Hand leitet nur noch die Furcht. Wir leben in einer ernsten Zeit und gehen noch ernsteren Zeiten entgegen. Die Arbeiterklasse Deutschlands hat allen Grund, die Beratungen des sozialdemokratischen Parteitages mit der größten Aufmerksamkeit zu verfolgen.

Die Sozialdemokratie ist sich ihrerseits der Wichtigkeit des Momentes und der Größe ihrer Aufgaben voll bewusst, es zeugt davon schon die Tagesordnung des Parteitages und namentlich die bis jetzt von allen Seiten aus der Partei gestellten Anträge. Mit großer Genugtuung konstatieren wir, dass diesmal nichtige und kleinliche oder mit der eigentlichen Arbeit der Sache nicht viel gemein habende Anträge, wie sie bis jetzt zu den Parteitagen hier und da gestellt waren, — z. B. über den Impfzwang, über den Austritt aus der Landeskirche usw. — diesmal gänzlich unterblieben sind. Die einzigen Fragen, auf die sich alle bis jetzt gestellten Anträge beziehen, sind: Landtagswahlen, Militarismus, Zoll- und Kolonialpolitik, allgemeine Taktik, Koalitionsrecht, Agrarfrage, Arbeiterschutz, der 1. Mai. Die Partei hat sich bei der Aufstellung ihrer Wünsche an den Parteitag nur mit ernsten Fragen befasst und nur von großen Gesichtspunkten leiten lassen. Andererseits lässt die Liste der Fragen, auf die sich die gestellten Anträge beziehen, nichts an Vollständigkeit zu wünschen übrig, — kein Gegenstand, welcher für das Wohl und Wehe der Arbeiterklasse von Bedeutung ist, der nicht in die Beratungen des Parteitages mit hinein bezogen wäre.

Im Vordergrund der Diskussionsgegenstände stehen zweifellos drei Fragen: Die Beteiligung der Sozialdemokratie an den preußischen Landtagswahlen, der Kampf um das Koalitionsrecht und die allgemeine Taktik der Sozialdemokratie im Zusammenhang mit ihrer Stellung zum Militarismus und zur Zoll- und Kolonialpolitik. Was die erste Frage betrifft, so dürften die Auseinandersetzungen darüber auf dem Parteitag nicht allzu lange dauern. Der Gegenstand ist seit dem Hamburger Parteitag in der Presse so lebhaft diskutiert und alle Argumente für und wider in so reichlichem Maße ausgetauscht worden, dass eine Debatte in Stuttgart schwerlich neue Gesichtspunkte zutage fördern könnte; es kommt bloß auf eine klipp und klare Stellungnahme des Parteitages an, die den Missverständnissen und dem Herumtappen ein Ende machen würde.

Die Debatte über das gefährdete Koalitionsrecht muss sich zu einem Feldzugsplan zur Verteidigung dieses politischen Augapfels der Arbeiterklasse gestalten. Wir glauben, wenn man sich mit einer oder einigen Protestreden gegen die Pläne der Reaktion nicht begnügen, sondern wirklich einen praktischen Plan fortgesetzter Aktion zur Wahrung des Koalitionsrechtes entwerfen will, so muss dieser Punkt der Tagesordnung im Zusammenhang mit zwei anderen Fragen behandelt werden: mit dem Arbeiterschutz im allgemeinen und der Maifeier. Es ist von vornherein klar, dass eine eventuelle Aktion, die den drohenden Anschlag auf das Koalitionsrecht abwehren soll, vor allem auf dem Gebiet des Arbeiterschutzes liegen muss und in der Umkehrung des Spießes, in dem Übergang von der Defensive in die energischste Offensive zur Verbesserung des gesetzlichen Arbeiterschutzes bestehen kann. Andererseits muss die Gefahr, in der sich die wichtigste Waffe zur Erringung des achtstündigen Arbeitstages, das Koalitionsrecht, befindet, der Maifeier einen neuen kräftigen Anstoß geben. Da das kommende Jahr gewaltige Kämpfe um den Arbeiterschutz und das Koalitionsrecht bringen wird, so muss u. a. jetzt schon ein entsprechender Beschluss über die Veranstaltung der Maifeier die Antwort auf die Kriegstrommeln der Reaktion sein.

Am lebhaftesten dürfte allem Anschein nach die Debatte über den dritten wichtigsten Gegenstand werden — über unsere Taktik im allgemeinen und speziell dem Militarismus, der Zoll- und Kolonialpolitik gegenüber. Es werden sich gewiss Genossen finden, die eine Auseinandersetzung über die allgemeinen Grundlagen unserer Taktik auf dem Parteitag für unzulässig, unausführbar, vielleicht für schädlich halten werden. Wir glauben im Gegenteil, dass eine Debatte über die taktischen Grundsätze der Partei notwendig, möglich und nützlich ist und dass die gegen die Diskussion angeführten Gründe nur Scheingründe sind.

Wird es vor allem heißen, der Parteitag sei kein Konzil, der Kirchenväter, um sich mit abstrakten Fragen zu befassen, sondern eine Beratung über praktische Fragen des Kampfes, so müssen wir daran erinnern, dass wir schon mehrmals von dieser engen Auffassung der Aufgaben des Parteitages abgegangen sind und rein prinzipielle Debatten gepflogen haben. Hat doch der sozialdemokratische Parteitag sogar für eine lange Kunstdebatte Zeit gefunden. Es wäre seltsam, wenn er sie nicht für eine Auseinandersetzung über die Grundfragen der Taktik finden sollte. Wir halten aber eine solche Auseinandersetzung sogar direkt für notwendig. Nicht als ob wir unsere altbewährten Prinzipien in ernster Gefahr wähnten, nicht als ob wir für unsere Bewegung irgendwie Befürchtungen hegten. Die Bewegung im Ganzen wird ihre alten richtigen Bahnen wandeln „trotz Sturm und Wind und Schneidergeschwätz". Aber es lässt sich nicht leugnen, dass die in der letzten Zeit gefallenen Äußerungen einiger hervorragender Genossen eine gewisse Verwirrung angerichtet haben. Eine Diskussion in der Presse genügt im gegebenen Falle nicht, da sie doch nur jedes Mal die individuelle Meinung der Schreibenden zum Ausdruck bringt.

In so fundamentalen Fragen des Parteilebens jedoch, wie sie diesmal zur Diskussion stehen, muss die Partei in ihrer Gesamtheit Stellung nehmen, sie muss der richtigen Auffassung ihre Sanktion verleihen und dafür bietet der Parteitag die einzige Gelegenheit. Wir übersehen und überschätzen durchaus nicht die technischen Schwierigkeiten einer solchen Debatte. Aber technische Schwierigkeiten haben uns bis jetzt noch nie von der Erörterung eines für die Partei wichtigen Gegenstandes abgehalten, sie dürfen es auch diesmal nicht tun.

Andererseits versprechen wir uns von einer offenen und ernsten Debatte über die Grundprinzipien unserer Taktik die besten Folgen für die bevorstehende Kampfperiode. Es ist immer und immer wieder die feste Basis unserer allgemeinen revolutionären Weltanschauung, die uns jederzeit und inmitten des unaufhörlichen, manchmal den Blick einengenden, alltäglichen Kampfes die belebenden Säfte zuführt, den Blick klärt und den Sinn erhebt. Ein Zurückgehen auf die Grundlagen unseres Programms wird auch diesmal die Gelegenheit geben, in die Reihen der Partei einen frischen, kräftigen Zug der Zielsicherheit, der Siegesgewissheit, der Kampfesfreude hineinzubringen. Nach einer Erörterung unserer allgemeinen Prinzipien unserer Taktik wird es wieder heißen: Der Riese hat wieder die Mutter berührt und es wachsen ihm neu die Kräfte.

Wie übrigens der Parteitag über seine Tagesordnung auch entscheiden wird, seine Beratungen werden gewiss zum Wohl und Nutzen der Arbeiterklasse ausfallen. Ernste Arbeit harrt seiner in Hülle und Fülle, er wird sich der Aufgabe gewachsen zeigen. Er wird wieder eine Etappe in dem großen Vormarsch der Arbeitermassen zu ihrer endgültigen Befreiung bilden, er wird ihr die Wege zeigen und die Parole geben zu neuen Kämpfen, zu neuen Siegen.

1 Im Anschluss an das Attentat auf die Kaiserin Elisabeth von Österreich am 10. September 1898. Bemerkenswert ist, dass damals die „Rheinisch-Westfälische Arbeiterzeitung" in Dortmund die Prügelstrafe gegen anarchistische Attentäter verlangte. Der Parteivorstand rückte zwar davon ab, hieb aber mit kleinbürgerlichen Argumenten auf die Anarchisten ein.

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