Rosa Luxemburg 19140514 Zwischen Hammer und Amboss

Rosa Luxemburg: Zwischen Hammer und Amboss

[Erschienen in der „Sozialdemokratischen Korrespondenz" vom 14. Mai 1914. Nach Gesammelte Werke Band 3, 1925, S. 252-254]

Die jüngste Kundgebung der Gesellschaft für soziale Reform in Berlin ist ein kleines Ereignis von historischem Interesse. Entsetzt über die brausende Flut der Scharfmacherei wagte sich da ein Dutzend guter Leute und schlechter Musikanten in die Öffentlichkeit, um in einem ziemlich disharmonischen Konzert, in dem sich Lobgesänge auf die Sozialreform mit Hymnen auf die „patriarchalische" Sklavenpeitsche des Unternehmertums und auf die gelben Vereine mischen, ihre Stimme für die „Fortführung" der glorreichen deutschen Sozialpolitik zu erheben. Die rührendste Gestalt unter diesen wackeren und unentwegten Rittern von La Mancha, die ihr Schwert aus Pappe gegen den eisernen Panzer der Scharfmacherei schwangen, war der greise Professor Schmoller. Derselbe Schmoller war es, der am 6. und 7. Oktober 1872 jene berühmte Versammlung in Eisenach zusammenberufen hatte, in der die illustresten Vertreter der deutschen Professorenwelt ein neues Evangelium der erstaunten Mitwelt verkündeten: den Schutz des wirtschaftlich Schwachen, die friedliche Sozialreform, „ein breites Gebiet des sozialen Gottesfriedens", das sie in den erbitterten Partei- und Klassenkämpfen mit ihrer gelehrten, gottesfürchtigen und königstreuen Brust nach rechts und links zu verteidigen gelobten. Der damals gegründete „Verein für Sozialpolitik" war der Fels, auf dem mitten in den brandenden Wogen der sozialen Gegensätze die lilienweiße Fahne des sozialen Friedens und der Ethik einem aufgehenden Zeitalter der Sozialreformen entgegen flattern sollte.

Die neckische Geschichte hat jene Gründung symbolisch zwischen zwei andere Geburtsdaten just in die Mitte gestellt. Genau drei Jahre vor der Eisenacher Offenbarung der mit sozialem Öl gesalbten Kathedergelehrten wurde in einer gleichfalls in Eisenach abgehaltenen ungebärdigen Versammlung deutscher Proletarier die Fahne des sozialen Klassenkampfes kühn und trotzig erhoben: es war dies die von Bebel gegründete Sozialdemokratische Arbeiterpartei. Und genau drei Jahre nach Entstehen des Vereins für Sozialreform schloss sich die Kerntruppe des deutschen Ausbeutertums, die schwere Industrie des Rheinlands zu dem Bueckschen „Verband deutscher Industrieller" zusammen, der offen die Schutzzollpolitik und die Scharfmacherei als Programm auf den Schild erhob. Dieser dreigliedrige Plan: rechts die brutale Trutzburg des rücksichtslosen koalierten Kapitals, links der frische, erst halbwegs aufgeworfene Wall des revolutionären Proletariats und dazwischen das Fähnlein der sieben aufrechten Friedensapostel auf dem Katheder mit dem sanften Palmwedel der Sozialreform in der Hand – das war das genaue Sinnbild der Kräfteverhältnisse wie der weiteren Schicksale des jungen deutschen Reichs von Bismarcks Gnaden.

Mit Sturm und Braus schlugen alsbald die wilden Wogen des Klassenkampfes über den professoralen Grenzmarken des „sozialen Gottesfriedens" zusammen. Die Ära Tessendorf, das Sozialistengesetz, die schroffe Umkehr zum Hochschutzzoll, Bismarcksche Militärvorlagen und immer krampfhaftere Windungen der indirekten Steuerschraube, die Peitsche der politischen Entrechtung und der Schmachtriemen der wirtschaftlichen Auspowerung für die Massen – das war das Ergebnis der nächsten fünfzehn Jahre nach der Entstehung des „Vereins für Sozialreform'". Der deutsche Professor ist ein Mann von heroischer Standhaftigkeit. Er überdauert alles. Er tauchte während der Zeit der härtesten Kämpfe unter und kauerte geduldig im klirrenden Waffenlärm unter seinem bescheidenen, von der Welt vergessenen Sträuchlein der „Sozialreform". Das Sozialistengesetz und alle Streiche der Reaktion gegen die Arbeiterklasse ertrug er mit philosophischer Sanftmut ohne Protest, ja, zum Teil erteilte er ihnen seinen Segen.

Als aber nach dem Sturm des Sozialistengesetzes die Arbeiterklasse siegreich dastand, pulvergeschwärzt, aus mancher Wunde blutend, aber kräftig und zum weiteren Kampfe bereit, als die Monarchie sich anschickte, den rauen Gesellen, an dem die Peitsche zerschlagen war, mit dem Zuckerbrot der Sozialreform zu ködern, da tauchte auch wieder der sozialreformerische Professor strahlend an die Oberfläche. Mit dem sozialpolitischen Evangelium des Kaisers hielt er seine Zeit für gekommen. Doch kurz währte auch dieser Traum. Die neunziger Jahre leiteten nur nach einer knappen Pause von wenigen Jahren zu noch schrofferen und gewaltigeren Klassenkämpfen hinüber, an deren Anfang die Zuchthausvorlage stand und an deren Ende die heutige Hetzjagd gegen das Koalitionsrecht der Arbeiter steht. Zwischen den zwei feindlichen Großmächten der Gegenwart: dem koalierten Kapital und der geschlossenen Front der Sozialdemokratie, zwischen Hammer und Amboss konnte der Verein für Sozialreform heute nur als ein moderiges Gespenst wieder auftauchen, um sich die eigene Grabstätte zu besehen.

Die tragikomische Gestalt des Don Quichotte, des ehrlichen Kämpfers um historisch verwirkte Ideale verdient stets Sympathie und Achtung, trotz aller Lächerlichkeit seiner Waffen und Feldzüge. Die deutschen Professoren der Sozialreform jedoch haben auf beides – Sympathie wie Achtung – ihr Anrecht verwirkt. Und das schon vor 15 Jahren. Es war im Winter von 1899 auf 1900, als Deutschland sich anschickte, durch das denkwürdige große Flottengesetz, durch die Verdoppelung der Schlachtflotte den entscheidenden Sprung zur imperialistischen Abenteurerpolitik zu vollführen. Die Kaiserreden von dem Dreizack, der in unsere Faust gehöre, und der Zukunft, die auf dem Wasser liege, waren das Signal zu einer flottenpatriotischen Orgie im ganzen Lande. Und in jener Schicksalsstunde, in der die Würfel über die weitere soziale und politische Entwicklung Deutschlands fallen sollten, stiegen plötzlich auf Kommando des Kaisers alle sozialreformerischen Professoren von ihrem Katheder herab. Sie begaben sich in ihrer ganzen Gelehrtenwürde – eine in Deutschland unerhörte Sache – in öffentliche Volksversammlungen. Der greise Schmoller trug sein silbernes Haar und der junge Sombart seine duftenden Locken in qualmige Berliner Versammlungslokale, um – für die große Flottenvorlage Agitation zu treiben! Die Apostel des „sozialen Gottesfriedens" vertauschten den sanften Palmwedel der Sozialreform mit dem blanken Schwert des Militarismus und stellten sich als freiwillige Eintreiber in den Dienst des Molochs, der das Mark aus den Knochen des Volkes saugt, der jede Sozialreform mit seinem eisernen Tritt zerstampft. Professor Schmoller aber schrieb schwarz auf weiß in seinem Jahrbuch, für Deutschland erwachse als erste Pflicht für „die Ziele aller höheren, geistigen, sittlichen und ästhetischen Kultur" sowie auch des sozialen Fortschritts – „sich eine starke Flotte zu schaffen ."

Damals, vor fünfzehn Jahren, hatte die bürgerliche Sozialreform auch ihre Schicksalsstunde erlebt. Sie hat sich damals als verächtliche Magd des Imperialismus mit eigenen Händen entleibt. Und wenn sie jetzt, ihrer Schmach nicht gewahr, vor das Licht der Öffentlichkeit trat, um für die verfolgten Arbeiterkoalitionen ein Wörtlein einzulegen, so kann die Arbeiterschaft nur mit geringschätzigem Lächeln dieser Gespensterversammlung nachblicken. Sie hat gerade auch aus den Schicksalen des „Vereins für Sozialreform" zur Genüge lernen können, dass sozialpolitischer Fortschritt wie jede Kulturerrungenschaft heute nur von dem rücksichtslosen Klassenkampf geboren wird und dass die soziale Rücksicht auf Millionen nur dann zur Tat wird, wenn diese Millionen aus dem geduldigen Amboss, der sie allzu lang gewesen sind, selbst zum Hammer werden und mit der ganzen Wucht des revolutionären Willens auf ihre Ketten schlagen.

Kommentare