Rosa Luxemburg 19040300 Lassalle und die Revolution

Rosa Luxemburg: Lassalle und die Revolution

[Festschrift, März 1904, Berlin, S. 7/8. Nach Gesammelte Werke Band 1/2, 1970, S. 417-421]

Die unmittelbare Beziehung Lassalles zur Märzrevolution ist nur eine fragmentarische, fast flüchtige geblieben, teils infolge seines noch verhältnismäßig jugendlichen Alters, vor allem aber infolge der eigentümlichen Verkettung von Umständen in seinem Leben, die ihn an das individuelle Schicksal einer von den herrschenden Feudalmächten schwer misshandelten Frau fast für ein Jahrzehnt gekettet und seine Kraft in dieser Zeitspanne dem Revolutionsdienst in hohem Maße streitig gemacht haben. Erst in der Novemberkrise des Jahres 1848 konnte Lassalle hervorragenden Anteil an den Revolutionskämpfen des Rheinlandes nehmen, alsbald wurde er aber auch schon in der Schlinge der preußischen Justiz gefangen, die ihn erst herausließ, als die Revolution bereits zu Ende war.

Aber der geschichtliche Zusammenhang Lassalles mit der Märzrevolution erschöpft sich nicht entfernt durch sein unmittelbares Wirken während des „tollen Jahres", liegt nicht einmal in der Hauptsache darin. Er lässt sich vielmehr dahin zusammenfassen, dass Lassalle es war, der die wichtigste geschichtliche Konsequenz der Märzrevolution in die Tat umsetzte, indem er fünfzehn Jahre später die deutsche Arbeiterklasse aus dem politischen Heerbann der Bourgeoisie endgültig loslöste und zu einer selbständigen Klassenpartei organisierte.

Die besondere Art und Weise, wie Lassalle dies unsterbliche Werk ausgeführt, hat bekanntlich scharfen und in vielem verdienten Tadel von Marxscher Seite gefunden. „Er beging", schrieb Marx 1868 an Schweitzer über Lassalle, „große Fehler. Er ließ sich zu sehr durch die unmittelbaren Zeitumstände beherrschen. Er machte den kleinen Ausgangspunkt – seinen Gegensatz gegen einen Zwerg wie Schulze-Delitzsch – zum Zentralpunkt seiner Agitation – Staatshilfe gegen Selbsthilfe... Der ,Staat' verwandelte sich daher in den preußischen Staat. So wurde er zu Konzessionen an das preußische Königtum, die preußische Reaktion (Feudalpartei) und selbst die Klerikalen gezwungen."1

Doch die große Tat, die Lassalle trotz und durch diese Fehler vollbracht, verkleinert sich nicht, sondern wächst immer mehr mit der historischen Perspektive, aus der wir sie betrachten. Dass Lassalle es verstanden hat, die ganze innere Misere des bürgerlichen Liberalismus zu durchschauen und vor der Arbeiterklasse rücksichtslos, beinahe brutal zu entlarven – gerade zu einer Zeit, wo dieser Liberalismus immerhin noch so etwas wie einen Kampf mit der Krone und mit der junkerlichen Reaktion wagte –, dieses Verdienst wird in dem Maße immer größer in den Augen des Historikers und des Politikers, als das liberale Bürgertum seitdem das Wunder fertiggebracht hat, auch von jener Tiefe, auf der es damals stand, mit jedem Jahre noch tiefer hinab zu gleiten. Und wenn heute noch, erst vor kurzem, wenn auch ganz vereinzelt und vorübergehend, Illusionen in bezug auf einen neuen Aufschwung, auf einen Altweibersommer des bürgerlichen Liberalismus, auf ein Zusammengehen und -kämpfen, des Proletariats mit ihm überhaupt denkbar waren, um so bahnbrechender wird die kühne Tat Lassalles, der nicht einen Augenblick zauderte, dem deutschen Proletariat durch die Trümmer des über dem heutigen doch turmhoch ragenden Liberalismus der Konfliktszeit den Weg zur selbständigen Klassenpolitik zu weisen.

Lassalle hat Fehler in seiner Kampftaktik begangen, gewiss. Doch ist es nur ein wohlfeiles Vergnügen für Kleinkrämer der Geschichtsforschung, Fehler in einem großen Lebenswerk zu konstatieren. Zur Beurteilung einer Persönlichkeit wie ihres Wirkens ist viel wichtiger die Erkenntnis der eigentlichen Ursache, der besonderen Quelle, aus der ihre Fehler wie ihre Vorzüge sich ergaben. Lassalle sündigte vielfach durch seine Neigung zum „Diplomatisieren", zum „Listen" mit der Idee, so in seinen Verhandlungen mit Bismarck über die Oktroyierung des allgemeinen Wahlrechts, so in seinen Plänen der Produktivassoziationen mit Staatskredit. Er begab sich in seinen politischen Kämpfen mit der bürgerlichen Gesellschaft wie in seinen gerichtlichen Kämpfen mit der preußischen Justiz mit Vorliebe auf den Boden des Gegners, ihm so äußerlich eine Konzession seines Standpunktes gewährend, ein kecker, kühner Akrobat, wie Johann Philipp Becker schrieb, wagte er oft einen Sprung bis auf den äußersten Rand des Abgrunds, der eine revolutionäre Taktik vom Paktieren mit der Reaktion scheidet.

Aber die Ursache, die ihn zu diesen gewagten Sprüngen verleitete, war nicht die innere Unsicherheit, der innere Zweifel an der Kraft und der Realisierbarkeit der revolutionären Sache, die er vertrat, sondern ganz umgekehrt ein Übermaß an selbstsicherem Glauben an die unbezwingbare Macht dieser Sache. Lassalle trat im Kampfe manchmal auf den Boden des Gegners über, nicht um dadurch etwas von seinen revolutionären Zielen preiszugeben, sondern in dem Wahn einer mächtigen Persönlichkeit, dem Gegner, umgekehrt, auf dessen eigenem Boden so viel für seine revolutionären Ziele abtrotzen zu können, dass dabei der Boden selbst dem Gegner unter den Füßen hätte zusammenbrechen müssen. Wenn Lassalle z. B. seine Idee der Produktivassoziationen mit Staatskredit auf eine idealistische, unhistorische Fiktion vom „Staate" aufpropfte, so lag die große Gefahr dieser Fiktion darin, dass er in Wirklichkeit damit doch nur den erbärmlichen preußischen Staat idealisierte. Aber was Lassalle auf Grund seiner Fiktion diesem Staate an Aufgaben und Pflichten der Arbeiterklasse gegenüber alles abfordern und aufoktroyieren wollte, das hätte nicht nur die elende Baracke von einem preußischen Staat, sondern den bürgerlichen Staat überhaupt ins Wanken gebracht.

Das Falsche, man möchte sagen das Opportunistische in der Lassalleschen Taktik lag darin, dass er sich mit seinen Forderungen an eine falsche Adresse wendete, aber seine Forderungen verkleinerten sich deshalb nicht und bröckelten nicht unter seinen Händen ab, sondern sie wuchsen immer mehr. Und wenn er den ganzen Kampf mit Vorliebe auf einige wenige Kampfparolen reduzierte – auf die Parole des allgemeinen Wahlrechts und der Produktivassoziationen –, so war es nicht das Übermaß an Langmut, das ihn etwa geheißen hätte, das Meer der sozialistischen Forderungen durch bürgerliche Reformen löffelweise auszuschöpfen, sondern es war umgekehrt die Ungeduld, die ihn dazu trieb, zur Abkürzung des langen historischen Prozesses alle Kräfte des Ansturmes jeweilig auf einen oder einige wenige Angriffspunkte zu konzentrieren.

So sind denn die Fehler selbst der Lassalleschen Taktik die des Stürmers und nicht des Zauderers, des waghalsigen Revolutionärs und nicht des kleinmütigen Diplomaten gewesen.

Es gab zu jeder Zeit Menschen – und es gibt solche auch heute –, die an die Möglichkeit und das Zeitgemäße einer Revolution erst dann glauben, wenn sie bereits geschehen, Menschen, die der Weltgeschichte ihre Gedanken sozusagen nicht vom Antlitz, sondern vom Rücken ablesen. Lassalle gehörte mit zu jener großen Generation, an deren Spitze Karl Marx leuchtete, in der der Glaube an die Revolution in seiner ganzen Macht lebendig war. Nicht bloß in dem Sinne, dass Lassalle wie Marx und Engels speziell in den 50er Jahren noch ganz fest auf die Rückkehr der revolutionären Märzwelle in Europa rechnete, sondern vor allem in dem Sinne, dass er in dem felsenfesten Glauben an die Berechtigung und die Unvermeidlichkeit der proletarischen Revolution überhaupt lebte. „Den Massenschritt der Arbeiterbataillone" zum weltgeschichtlichen Ansturm auf die bürgerliche Gesellschaftsordnung hörte er beständig, mitten im Alltagskampf und im Guerillakrieg mit der preußischen Justiz und Polizei. Und er wusste ganz genau, dass die einzige, aber ausreichende Bürgschaft für den Eintritt und den siegreichen Verlauf dieser Revolution eben in der proletarischen Masse, in der Volksmasse selbst liegt. Hat er dies auch nicht auf dem Wege der materialistisch-historischen Forschung, wie Marx, sondern vielmehr auf dem Wege der philosophisch-idealistischen Spekulation gefolgert, so gab Lassalle doch in völliger Übereinstimmung mit der Marxschen Lehre der deutschen Arbeiterklasse einen der wichtigsten Wegweiser in ihrem Klassenkampfe, als er, die parlamentarische Reformtätigkeit der revolutionären Massenaktion entgegenstellend, sagte: „Nie hat, nie wird eine (gesetzgebende) Versammlung den bestehenden Zustand umstürzen. Alles, was eine (solche) Versammlung je getan und gekonnt hat, ist, den draußen bestehenden Zustand proklamieren, den draußen schon vollzogenen Umsturz der Gesellschaft sanktionieren und ihn in seine einzelnen Konsequenzen, Gesetze usw. auszuarbeiten." „... realer gesprochen, kann man zuletzt Revolutionen nur mit den Massen und ihrer leidenschaftlichen Hingebung machen."2 [Hervorhebungen – R. L.]

In wenigen Monaten – am 31. August – werden genau vierzig Jahre seit Lassalles Tod verflossen sein. Seine Gestalt wie sein Lebenswerk, lange Zeit hindurch in sehr verschiedener, zum Teil widerspruchsvoller Weise beurteilt, liegen nun vor der deutschen Arbeiterschaft in voller und erschöpfender Klarheit da. Und zwar sowohl nach ihrer sterblichen wie nach ihrer unsterblichen Seite hin – im Kommentar Bernsteins und in den Werken Mehrings.

Ob Lassalle, wenn ihn ein jäher Tod nach kurzer, leuchtender Laufbahn nicht dahingerafft hätte, in der heutigen Bewegung sich zurechtfinden und in der gänzlich geänderten Situation seine Stellung als gewaltiger, führender Geist behaupten würde, mag füglich bezweifelt werden.

Die Ereignisse", schrieb er kurz vor seinem Tode, „werden sich, fürcht' ich, langsam, langsam entwickeln, und meine glühende Seele hat an diesen Kinderkrankheiten und chronischen Prozessen keinen Spaß."3 Es hat aber sicher kaum eine widerlichere Kinderkrankheit der Geschichte gegeben als die gegenwärtige Periode des bürgerlich-feudalen Parlamentarismus, durch die sich zur Umwälzung hindurch zu ringen, hindurch zu waten das moderne Proletariat in Deutschland wie in allen kapitalistischen Ländern verdammt ist. Für diese Periode des Kampfes war Lassalle als Persönlichkeit allerdings nicht geschaffen.

Aber um so mehr tut der heutigen proletarischen Massenbewegung jene „glühende Seele" not, die in Lassalle lebte und in jedem seiner geschriebenen Worte noch atmet, jene glühende Seele, die es allein verstehen wird, nach Lassalles Ausdruck, „die ganze Macht in eine Faust geballt", im entscheidenden Augenblick die bürgerliche Gesellschaft zu überwinden und zu siegen.

1 Karl Marx an Johann Baptist von Schweitzer, 13. Oktober 1868. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Bd. 31, S. 569.

2 Aus dem literarischen Nachlass von Karl Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle. Herausgegeben von Franz Mehring. Bd. IV: Briefe von Ferdinand Lassalle an Karl Marx und Friedrich Engels. Stuttgart 1902, S. 38 u. 135.

3 Ferd. Lassalle's Reden und Schriften. Neue Gesammt-Ausgabe. Mit einer biographischen Einleitung herausgegeben von Ed. Bernstein, Erster Band, Berlin 1892, S. 179.

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