Rosa Luxemburg 19130523 Nach 50 Jahren

Rosa Luxemburg: Nach 50 Jahren

[„Leipziger Volkszeitung“ Nr. 116, 23. Mai 1913. Nach Gesammelte Schriften, Band 3, 1973, S. 208-211]

Es handelte sich darum, während die deutschen Möpse à la Schulze-Delitzsch … jeden sozialen Gedanken längst ausgestorben und begraben glaubten — den Sozialismus plötzlich wie durch einen Zauberschlag als politische Partei auftreten zu lassen."1

Lassalle an Moses Heß

Ohne den Verdiensten von Marx und der ,Neuen Rheinischen Zeitung' zu nahe zu treten, glaube ich doch sagen zu können, dass jetzt zum ersten Male eine soziale Partei in Deutschland besteht, die eine politische Bedeutung hat und eine Masse repräsentiert."2

Lassalle

Für die herrschenden Klassen, die das Größte an Leistung, Kampf und Ideal hinter sich haben, sind historische Jubiläen nur ein Mittel, in Selbstzufriedenheit das Vergangene zu preisen und das Bestehende mit einem von der Vergangenheit erborgten Nimbus zu verklären. Für eine revolutionäre Klasse wie das moderne Proletariat, die das Größte noch vor sich hat, sind geschichtliche Erinnerungstage nicht eine Gelegenheit, mit einem Blick auf die eigene Vergangenheit triumphierend zu konstatieren, „wie herrlich weit wir's schon gebracht" haben, sondern vor allem ein Anlass zur Selbstkritik, zur Prüfung des Geleisteten und Verständigung über das zu Leistende.

Als am 23. Mai 1863 der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein gegründet wurde, da wurde damit die Klassenpartei des deutschen Proletariats in der Tat „plötzlich wie durch einen Zauberschlag", aus der Taufe gehoben. Es war ein kühner Entschluss, eine rasche Tat Lassalles, die jenen welthistorischen Moment gezeugt haben, und die Arbeiterklasse Deutschlands ist ihm ewigen Dank schuldig, dass er zu jener unsterblichen Tat ganz allein, ja gegen Marxens Abmahnung die eiserne Energie fand.

Die Entstehung und das Wachstum der Sozialdemokratie als der aufgeklärten, zielbewussten Vorhut des kämpfenden Proletariats ist freilich nicht ein Zufallsprodukt, nicht eine willkürliche Schöpfung genialer Individuen. Sie ist in den kapitalistischen Verhältnissen selbst begründet. Als Lassalle seine feurige Agitation begann, da kamen ihm auch schon die besten Elemente der Arbeiterschaft entgegen. Es war die Leipziger Elite des deutschen Proletariats, die sich von selbst bereits aus der geistigen Vormundschaft der liberalen Bourgeoisie zu befreien suchte und nach dem richtigen Wege tastete. Ihr Ruf an Lassalle bleibt ein unvergänglicher Ruhmestitel der Leipziger Arbeiterschaft.

Wie wenig aber die kapitalistischen Verhältnisse allein zur Entstehung einer lebensfähigen sozialistischen Arbeiterpartei genügen, ist England der beste Beweis. Dort hat die kapitalistische Entwicklung zuerst und in klassischer Weise ihren Triumphzug gefeiert. In England lebte und wirkte Marx jahrzehntelang, und den englischen Verhältnissen war sein wissenschaftliches Hauptwerk viel mehr als den deutschen auf den Leib geschnitten. Trotzdem steckt die englische Arbeiterbewegung bis auf den heutigen Tag ohnmächtig in dem Gegensatz zwischen sozialistischer Sekte, die keiner fruchtbaren aktiven Politik fähig, und reformerischer Arbeiterpolitik, die keines befruchtenden leitenden Gedankens fähig ist. In Deutschland hat Lassalle durch seinen Kaiserschnitt die Arbeiterschaft von der Bourgeoisie ein für allemal losgetrennt und ihr das gegeben, was ihr von nun an als Panzer in allen späteren Kämpfen dienen sollte: eine selbständige politische Parteiorganisation mit einem fruchtbaren, lebendigen politischen Aktionsprogramm. Mochte man in dem leidenschaftlichen Kampf Lassalles gegen die Fortschrittspartei manche Übertreibung peinlich empfinden, mag man heute noch manche überflüssige Annäherung an die feudale Reaktion bedauern, zu der er sich im Kampfe mit der liberalen Bourgeoisie hat hinreißen lassen: Trotz jener Fehler und durch jene Fehler mit hat Lassalle in zwei Jahren verstanden, zwischen der deutschen Arbeiterklasse und der Bourgeoisie einen solchen Abgrund zu graben, dass nichts in der Welt ihn mehr zu überbrücken, nichts mehr die Arbeiter ins politische und geistige Joch des Liberalismus zurückzuführen imstande war.

Erst eine so kräftig auf die eigenen Füße gestellte Klassenpartei des Proletariats konnte nach und nach zur lebendigen Verwirklichung der Marxschen theoretischen Erkenntnis, zu dem werden, was die deutsche Sozialdemokratie heute ist.

Seit fünfzig Jahren dreht sich die Politik und das ganze öffentliche Leben Deutschlands um die Sozialdemokratie. Sie ist das starke Triebrad des sozialen Fortschritts im Reiche, sie ist der Hort der freien wissenschaftlichen Forschung und der Kunst, sie ist der einzige Anwalt der Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts, sie ist die Beschützerin und Weckerin der Volksjugend, sie ist das Bollwerk des Völkerfriedens, sie ist die Verkünderin der Auferstehung von Millionen aus dem tiefen Schacht des materiellen und geistigen Elends, worin sie die kapitalistische Ausbeutung verbannt hat.

All dies ist sie aber nur, weil und solange sie das bleibt, was sie als ihren historischen Geburtsschein mitgebracht hat: eine rücksichtslose Partei des revolutionären Klassenkampfes um die Verwirklichung der Endziele des Sozialismus. „Der Arbeiterstand muss sich als selbständige politische Partei konstituieren"3, schrieb Lassalle im „Offenen Antwortschreiben" an das Leipziger Zentralkomitee.

Groß und mächtig ist in den fünfzig Jahren, die seitdem verflossen, die Organisation der Sozialdemokratie gewachsen. Aus den paar Tausenden, die dem Banner Lassalles folgten, ist ein Heer von einer Million geworden. „Die Vertretung des Arbeiterstandes in den gesetzgebenden Körpern Deutschlands — dies ist es allein, was in politischer Hinsicht seine legitimen Interessen befriedigen kann",4 schrieb weiter Lassalle im „Offenen Antwortschreiben". Heute zählen die Vertreter des Arbeiterstandes in den deutschen Parlamenten nach Hunderten und ihre Wähler nach Millionen. Das Aktionsprogramm Lassalles ist in dem halben Jahrhundert schwerer Mühen und Opfer glänzend ausgeführt worden und hat sich in der heutigen Größe der Partei glänzend bewährt.

Aber das Aktionsprogramm Lassalles war das Produkt einer bestimmten politischen und historischen Situation. Darin lag seine Größe und seine zündende Kraft, darin ist auch seine Vergänglichkeit, seine geschichtliche Schranke gegeben. Zur Zeit Lassalles, vor fünfzig Jahren, in der Kindheitsphase des deutschen Parlamentarismus, in den Flegeljahren des deutschen Kapitalismus waren die Schöpfung und der Ausbau der sozialdemokratischen Parteiorganisation an sich, war der Eintritt der Arbeiterklasse in die gesetzgebenden Vertretungen allein schon ein mächtiger Fortschritt, ein befruchtendes Aktionsprogramm, eine politische Offensive.

Heute, in der imperialistischen Schlussphase der internationalen Kapitalsherrschaft, heute, in der tiefsten Verfallsperiode des bürgerlichen Parlamentarismus, würde das Verharren bei dem Ausbau der Parteiorganisation und bei parlamentarischer Betätigung allein nicht ein Aktionsprogramm der Arbeiterklasse, sondern ein Programm der Passivität, der Indolenz, trotz äußeren, ziffernmässigen Wachstums ein politisches Trippeln auf demselben Fleck sein. Die mächtigste Parteiorganisation kann heute nicht Selbstzweck sein, sie muss sich als Hilfsmittel zur revolutionären Mobilmachung der großen Volksmasse bewähren. Die glänzendsten parlamentarischen Wahlsiege können heute nur als Pfand und als Verpflichtung für die Arbeiterklasse gelten, aus der jahrzehntelangen Defensive herauszutreten und allmählich zu einer kraftvollen Offensive gegen die herrschende Reaktion überzugehen.

Heute gibt es keinen Lassalle, der mit einer Stimme, die wie Erz tönt, und mit kühnem Arm die deutsche Arbeiterklasse zum Sturmlauf auf die Bollwerke der Klassenherrschaft mitreißen würde. Die Zeit der überragenden Individuen, der kühn vorauseilenden Führer ist vorbei, denn heute ist die Masse selbst berufen, ihr eigener Führer, Bannerträger und Stürmer, ihr eigener Lassalle zu sein. „Von den hohen Bergspitzen der Wissenschaft aus sieht man das Morgenrot des neuen Tages früher als unten in dem Gewühle des täglichen Lebens. — Was eine Stunde ist in dem Naturschauspiel eines jeden Tages, das sind ein und zwei Jahrzehnte in dem noch weit imposanteren Schauspiel eines weltgeschichtlichen Sonnenaufgangs." Lassalle und Marx haben die Arbeiterklasse auf die hohen Bergspitzen der Wissenschaft geführt.

Und jetzt, wo schon der beginnende Untergang der kapitalistischen Sonne auf einem blutroten Flammenmeer den Himmel färbt, wo schon im Tale selbst das erste Nahen eines neuen Tages immer vernehmbarer wird, da ist es für die Masse der aufgeklärten Arbeiterschaft an der Zeit, sich dessen bewusst zu werden, dass sie in den fünf Jahrzehnten mündig, stark und reif geworden ist. Kraft und Mündigkeit verpflichtet aber zu einer Politik, die an Kühnheit, Weitblick und Größe jener würdig wäre, aus der vor einem halben Jahrhundert der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein hervorgegangen ist.


1 Brief Ferdinand Lassalles vom 27. August 1863 an Moses Hess. In Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung. Hrsg von Carl Grunberg, Dritter Band, Leipzig 1913, S 131/132

2 a.a.O., S. 132

3 Ferdinand Lasalle: Offenes Antwort-Schreiben an das Central-Komité zur Berufung eines Allgemeinen Deutschen Arbetter-Congresses zu Leipzig, In: Ferd. Lassalles Reden und Schriften. Neue Gesammt-Ausgabe Mit einer biographischen Einleitung herausgegeben von Ed. Bernstein, Zweiter Band, Berlin 1893, S. 413

4 a.a.O.

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