Rosa Luxemburg 19030314 Stillstand und Fortschritt im Marxismus

Rosa Luxemburg: Stillstand und Fortschritt im Marxismus

[Vorwärts (Berlin), Nr. 62 vom 14. März 1903. Nach Gesammelte Werke Band 1/2, 1970, S. 363-368]

In seinem seichten, aber stellenweise interessanten Geplauder über die sozialen Zustände in Frankreich und Belgien macht Karl Grün1 u. a. die treffende Beobachtung, dass Fouriers und St-Simons Theorien so ganz verschieden auf ihre Anhänger wirkten: Während der letztere der Stammvater einer ganzen Generation glänzender Talente auf verschiedenen Gebieten der Geistestätigkeit wurde, hat der erstere es mit wenigen Ausnahmen nur zu einer starren Sekte von Nachbetern gebracht, die sich in keiner Hinsicht hervorgetan haben. Grün erklärt diesen Unterschied damit, dass Fourier ein fertiges, bis in die Einzelheiten ausgearbeitetes System hervorgebracht, während St-Simon nur ein loses Bündel großer Gedanken seinen Schülern hingeworfen habe. Obwohl uns Grün im gegebenen Fall zu wenig den inneren, inhaltlichen Unterschied zwischen den Theorien der beiden Klassiker des utopistischen Sozialismus berücksichtigt zu haben scheint, so ist die Bemerkung im Allgemeinen richtig. Es unterliegt keinem Zweifel, dass ein nur in den Hauptzügen entworfenes Ideensystem viel anregender wirkt als ein fertiger symmetrischer Bau, an dem nichts mehr auszuführen ist, an dem sich ein reger Geist nicht selbständig versuchen kann.

Sollte dies der Grund sein, weshalb wir in der Marxschen Lehre seit Jahren einen solchen Stillstand verspüren? Denn tatsächlich, rechnet man ein paar selbständige Leistungen ab, die als theoretische Fortschritte betrachtet werden können, so haben wir seit dem Erscheinen der letzten Bände des „Kapitals" und der letzten Engelsschen Arbeiten wohl einige schöne Popularisationen und Ausführungen der Marxschen Theorie gewonnen, aber im Grunde genommen stehen wir theoretisch genausoweit, wie uns die beiden Schöpfer des wissenschaftlichen Sozialismus gelassen haben.

Ist es, weil das Marxsche System die selbständigen Regungen des Geistes in zu feste Rahmen geschlagen hat? Zweifellos lässt sich ein gewisser drückender Einfluss Marxens auf die theoretische Bewegungsfreiheit mancher seiner Schüler nicht leugnen. Haben doch schon Marx und Engels die Verantwortlichkeit für Geistesoffenbarungen eines jeden „Marxisten" abgelehnt, und die peinliche Angst, um beim Denken ja „auf dem Boden des Marxismus" zu bleiben, mag in einzelnen Fällen für die Gedankenarbeit ebenso verhängnisvoll gewesen sein wie das andre Extrem – die peinliche Bemühung, gerade durch die vollkommene Abstreifung der Marxschen Denkweise um jeden Preis die „Selbständigkeit des eignen Denkens" zu beweisen.

Allein, von einem mehr oder weniger ausgearbeiteten Lehrgebäude kann bei Marx nur auf ökonomischem Gebiete die Rede sein. Dagegen, was das Wertvollste seiner Lehre betrifft: die materialistisch-dialektische Geschichtsauffassung, so stellt sie nur eine Forschungsmethode dar, ein paar leitende geniale Gedanken, die den Ausblick in eine ganz neue Welt gestatten, die unendliche Perspektiven der selbständigen Betätigung eröffnen, die den Geist zu kühnsten Ausflügen in unerforschte Gebiete beflügeln.

Und doch – auch auf diesem Gebiete liegt, ausgenommen einige wenige Leistungen, das Erbe Marxens brach, unbenutzt liegt die herrliche Waffe, und die Theorie selbst des geschichtlichen Materialismus ist heute genauso unausgearbeitet und schematisch, wie sie aus der Hand ihrer Schöpfer gekommen ist.

An der Starrheit und Fertigkeit des Marxschen Lehrgebäudes liegt es also nicht, wenn es nicht weiter ausgebaut wird.

Häufig wird über den Mangel an intellektuellen Kräften in unsrer Bewegung geklagt, die das Werk der Weiterführung der Theorien von Marx aufnehmen könnten. Ein solcher Mangel ist tatsächlich seit langem eingetreten, er ist aber selbst eine Erscheinung, die der Erklärung bedarf, und kann jene andre Frage nicht erklären. Denn jede Zeit formt selbst ihr Menschenmaterial, und wo ein wirkliches Bedürfnis der Zeit nach theoretischer Arbeit vorliegt, da werden durch dieses selbst die Kräfte zu seiner Befriedigung geschaffen.

Aber haben wir ein Bedürfnis nach theoretischer Weiterführung der Lehre über Marx hinaus?

In einem Artikel über die Kontroverse zwischen der Marxschen und der Jevonsschen Schule in England höhnt Bernhard Shaw, der geistreiche Vertreter des Fabianischen Halbsozialismus, über Hyndman, weil dieser schon auf Grund des ersten Bandes des „Kapitals" vorgab, seinen Marx „ganz" zu verstehen, und gar keine Lücke in der Marxschen Theorie verspürte, während Friedrich Engels nachher in der Vorrede zum zweiten Bande selbst erklärte, dass der erste Band mit seiner Werttheorie ein grundlegendes ökonomisches Rätsel aufgegeben habe, dessen Lösung erst der dritte Band bringen sollte. Shaw hatte hier Hyndman wirklich in einer recht komischen Lage ertappt, indes, es dürfte wohl Hyndman zum Trost gereicht haben, dass er diese Lage so ziemlich mit der gesamten sozialistischen Welt teilte.

In der Tat! Der dritte Band des „Kapitals" mit der Lösung des Problems der Profitrate – des Grundproblems im Marxschen ökonomischen Gebäude – ist erst im Jahre 1893 erschienen. Und doch wurde in Deutschland wie in allen Ländern bereits mit dem unfertigen Material, das der erste Band lieferte, agitiert, die Marxsche Lehre als Ganzes wurde auf Grund des einen ersten Bandes popularisiert und angenommen, ja diese Agitation mit der teilweisen Marxschen Theorie erzielte glänzende Erfolge, und nirgends wurde eine theoretische Lücke verspürt. Noch mehr. Als der dritte Band endlich erschienen war, da erregte er zuerst in engeren Kreisen der Fachgelehrten einiges Aufsehen, rief einige Kommentare und Randglossen hervor, was jedoch die sozialistische Bewegung im ganzen betrifft, so fand der dritte Band in den weiten Kreisen, wo bereits die Gedankengänge des ersten Bandes herrschten, in Wahrheit gar keinen Widerhall. Während die theoretischen Aufschlüsse dieses Bandes bis jetzt keinen einzigen Versuch der Popularisation hervorgerufen und tatsächlich noch nirgends Eingang in weitere Kreise gefunden haben, konnte man umgekehrt sogar neulich einzelne Stimmen hören, die auf sozialdemokratischer Seite die „Enttäuschung" der bürgerlichen Nationalökonomen über den dritten Band getreulich wiederholten und damit nur dartaten, wie sehr sie mit der „unfertigen" Darstellung der Werttheorie, wie sie der erste Band bietet, verwachsen waren.

Wie ist eine so merkwürdige Erscheinung zu erklären?

Shaw, der, nach eignem Ausdruck, gern über andre „kichert", hätte hier Grund, sich über die gesamte sozialistische Bewegung, soweit sie auf Marx fußt, lustig zu machen. Allein, er würde da „kichern" über eine sehr ernste Erscheinung unsres sozialen Lebens. Die merkwürdige Begebenheit mit dem ersten und dritten Bande scheint uns nämlich ein drastischer Beleg für die Schicksale der theoretischen Forschung in unsrer Bewegung überhaupt zu sein.

Der dritte Band des „Kapitals" ist zweifellos vom wissenschaftlichen Standpunkt erst als die Vollendung der Marxschen Kritik des Kapitalismus zu betrachten. Ohne den dritten Band ist das eigentliche herrschende Gesetz der Profitrate, ist die Spaltung des Mehrwertes in Profit, Zins und Rente, ist die Wirkung des Wertgesetzes innerhalb der Konkurrenz nicht zu verstehen. Aber – und das ist die Hauptsache – alle diese Probleme, so wichtig sie vom theoretischen Standpunkt sind, sind doch ziemlich gleichgültig vom Standpunkte des praktischen Klassenkampfes. Für diesen war das große theoretische Problem: die Entstehung des Mehrwertes, d. h. die wissenschaftliche Erklärung der Ausbeutung, sowie die Tendenz der Vergesellschaftung des Produktionsprozesses, d. h. die wissenschaftliche Erklärung der objektiven Grundlagen der sozialistischen Umwälzung.-

Beide Probleme beantwortet bereits der erste Band, der die „Expropriation der Expropriateure" als unausbleibliches Endergebnis der Produktion des Mehrwertes und der fortschreitenden Kapitalkonzentration folgert. Damit war das eigentliche theoretische Bedürfnis der Arbeiterbewegung im Großen und Ganzen befriedigt. Wie der Mehrwert sich unter die einzelnen Ausbeutergruppen verteilt und welche Verschiebungen die Konkurrenz bei dieser Verteilung in der Produktion hervorruft, das hatte für den Klassenkampf des Proletariats kein unmittelbares Interesse.

Und deshalb ist der dritte Band des „Kapitals" bis jetzt für den Sozialismus im ganzen ein ungelesenes Kapitel geblieben.

Aber wie mit der Marxschen ökonomischen Lehre steht es mit der theoretischen Forschung überhaupt in unsrer Bewegung. Es ist nichts als eine Illusion, zu denken, die aufstrebende Arbeiterklasse könne durch den Inhalt ihres Klassenkampfes aus freien Studien auf theoretischem Gebiete ins unermessliche schöpferisch wirken. Sie ist es heute allein, wie Engels gesagt hat, die den Sinn und das Interesse für die Theorie bewahrt hat. Der Wissensdurst der Arbeiterklasse ist eine der wichtigsten Kulturerscheinungen der Jetztzeit. Und sittlich bedeutet der Arbeiterkampf die kulturelle Erneuerung der Gesellschaft. Aber die aktive Wirkung des proletarischen Kampfes auf den Fortschritt der Wissenschaft ist an ganz bestimmte soziale Bedingungen geknüpft.

In jeder Klassengesellschaft ist die geistige Kultur: Wissenschaft, Kunst, eine Schöpfung der herrschenden Klasse und hat den Zweck, zum Teil direkt die Bedürfnisse des gesellschaftlichen Prozesses, zum Teil die geistigen Bedürfnisse der Angehörigen der herrschenden Klasse zu befriedigen.

In der Geschichte der bisherigen Klassenkämpfe vermochten auch die aufstrebenden Klassen – wie der dritte Stand in der Neuzeit –, ihrer politischen Herrschaft die intellektuelle Herrschaft vorauszuschicken, indem sie der veralteten Kultur der verfallenden Periode noch als unterdrückte Klasse eine eigene, neue Wissenschaft und Kunst entgegenstellten.

Das Proletariat befindet sich darin in einer ganz andren Lage. Als besitzlose Klasse vermag es auch in seinem Aufwärtsstreben keine eigne geistige Kultur aus freien Stücken zu schaffen, solange es im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft bleibt. Innerhalb dieser Gesellschaft und solange ihre wirtschaftlichen Grundlagen bestehen, kann es keine andre Kultur geben als bürgerliche. Die Arbeiterklasse steht als solche, wenngleich verschiedene „soziale" Professoren schon den Gebrauch von Krawatten, Visitenkarten und Fahrrädern bei den Proletariern als hervorragende Teilnahme am Kulturfortschritt bewundern mögen, außerhalb der heutigen Kultur, und, obwohl sie den materiellen Gehalt sowie die ganze soziale Grundlage dieser Kultur mit eignen Händen schafft, wird sie nur insofern zu ihrer Nutznießung zugelassen, als dies zur befriedigenden Ausfüllung ihrer Funktionen im wirtschaftlichen und sozialen Prozess der bürgerlichen Gesellschaft erforderlich ist.

Eine eigne Wissenschaft und Kunst wird die Arbeiterklasse erst nach der vollzogenen Emanzipation von ihrer gegenwärtigen Klassenlage zu schaffen imstande sein.

Alles, was sie heute vermag, ist, die Kultur der Bourgeoisie vor dem Vandalismus der bürgerlichen Reaktion zu schützen und die gesellschaftlichen Bedingungen der freien Kulturentwicklung zu schaffen. Selbst kann sie sich in der heutigen Gesellschaft auf diesem Gebiete nur insofern betätigen, als sie sich die geistigen Waffen zu ihrem Befreiungskampfe schafft.

Damit sind aber von vornherein der Arbeiterklasse, d. h. ihren geistig führenden Ideologen, sehr enge Schranken in der intellektuellen Tätigkeit gewiesen. Das Gebiet ihres schöpferischen Wirkens kann nur ein ganz bestimmter Abschnitt der Wissenschaft – die Gesellschaftswissenschaft sein. Da nämlich durch „den besonderen Zusammenhang der Idee des vierten Standes mit unsrer Geschichtsperiode" die Aufklärung über die Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung für den proletarischen Klassenkampf notwendig war, so hat er in der Sozialwissenschaft befruchtend gewirkt, und das Denkmal dieser proletarischen Geisteskultur ist – die Marxsche Lehre.

Aber auch schon die Schöpfung Marx', die als wissenschaftliche Leistung ein riesenhaftes Ganzes in sich ist, überschreitet die direkten Anforderungen des proletarischen Klassenkampfes, um deswillen sie geschaffen wurde. Sowohl in der ausführlichen und abgeschlossenen Analyse der kapitalistischen Wirtschaft wie in der historischen Forschungsmethode mit ihrem unermesslichen Anwendungsgebiet hat Marx viel mehr geboten, als es für den praktischen Klassenkampf unmittelbar notwendig ist.

Nur in dem Maße, als unsre Bewegung in vorgeschrittenere Stadien tritt und neue praktische Fragen aufrollt, greifen wir wieder in das Marxsche Gedankendepot, um neue einzelne Bruchstücke seiner Lehre auszuarbeiten und zu verwerten. Weil aber unsre Bewegung – wie jeder praktische Kampf – noch lange mit alten leitenden Gedankengängen auskommt, nachdem sie bereits ihre Gültigkeit verloren haben, so schreitet die theoretische Verwertung der Marxschen Anregungen nur äußerst langsam vorwärts.

Wenn wir deshalb jetzt in der Bewegung einen theoretischen Stillstand verspüren, so ist es nicht, weil die Marxsche Theorie, von der wir gezehrt, der Entwicklung unfähig sei oder sich „überlebt" habe, sondern umgekehrt, weil wir die wichtigsten geistigen Waffen, die uns in dem bisherigen Stadium zum Kampfe notwendig waren, der Marxschen Rüstkammer bereits entnommen haben, ohne sie damit zu erschöpfen; nicht, weil wir im praktischen Kampf Marx „überholt" haben, sondern umgekehrt, weil Marx in seiner wissenschaftlichen Schöpfung uns als praktische Kampfespartei im voraus überholt hat; nicht, weil Marx für unsre Bedürfnisse nicht mehr ausreicht, sondern weil unsre Bedürfnisse noch nicht für die Verwertung der Marxschen Gedanken ausreichen.

So rächen sich die von Marx theoretisch aufgedeckten sozialen Daseinsbedingungen des Proletariats in der heutigen Gesellschaft an den Schicksalen der Marxschen Theorie selbst. Ein unvergleichliches Instrument der geistigen Kultur, liegt sie brach, weil sie für die bürgerliche Klassenkultur untauglich ist, die Bedürfnisse der Arbeiterklasse aber nach Kampfeswaffen weit überschreitet. Und erst mit der Befreiung der Arbeiterklasse aus ihren heutigen Daseinsbedingungen wird mit andren Produktionsmitteln auch die Marxsche Forschungsmethode vergesellschaftet, um zum Wohle der ganzen Menschheit zu ihrem vollen Gebrauch, zu ihrer vollen Leistungsfähigkeit entfaltet zu werden.

1 Karl Grün: Die soziale Bewegung in Belgien und Frankreich. Briefe und Studien, Darmstadt 1845.

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