Rosa Luxemburg 19130611 Der „Vorwärts" und die Milizforderung

Rosa Luxemburg: Der „Vorwärts" und die Milizforderung

[Leipziger Volkszeitung, Nr. 132 vom 11. Juni 1913. Nach Gesammelte Schriften, Band 3, 1973, S. 238 f.]

In Beantwortung unserer beiden Leitartikel, die in rein sachlicher Weise unter Anführung einer Reihe von Tatsachen die Mängel der Parteiaktion gegen die Militärvorlage zu beleuchten suchten, weiß das Zentralorgan nichts anderes ins Feld zu führen als das billige und verschlissene Argument, die kritischen Artikel lieferten den französischen Chauvinisten den erwünschten Beweis, dass die deutsche Sozialdemokratie „imperialistisch" sei.1 Der „Vorwärts" ist nicht einmal in diesem Falle originell, er wiederholt bloß wörtlich, was Genosse Gradnauer im Dresdner Blatte vor einigen Tagen gegen die Resolution der Stuttgarter Genossen als einziges Argument vorzubringen wusste2: Es ist dies eben das bequemste Mittel, der lästigen Kritik in der Partei den Mund zu verschließen, wenn es um die sachliche Antwort windig steht. In seiner eigenen Sache beruft sich der „Vorwärts" darauf, dass er nicht „auf die Milizforderung überhaupt verzichtet hätte", sondern bloß nach Erscheinen der französischen Heeresvorlage — um den Kampf der französischen Genossen gegen die dreijährige Dienstzeit „nicht unwesentlich zu fördern" — „eine Teilforderung", nämlich die zweijährige Dienstzeit für die berittenen Truppen, vertreten hätte. Es fiel uns nicht ein, dem Zentralorgan einen „Verzicht auf die Milizforderung überhaupt" vorzuwerfen: Hätte es sich diesen zuschulden kommen lassen, dann müsste es als Organ der sozialdemokratischen Partei abdanken. Was ihm in der „Leipziger Volkszeitung" vorgeworfen wurde, war gerade, dass es die Programmforderung der Miliz, die eine Minimalforderung ist, mit jener fortschrittlichen „Teilforderung" vertauschte, just als der Kampf gegen die Militärvorlage aktuell wurde. In welcher Weise diese unangebrachte Bescheidenheit unserseits den französischen Genossen „zugute kommen" sollte, bleibt ein Geheimnis der Redaktion des „Vorwärts". Wer eine möglichst scharfe und konsequente Bekämpfung des deutschen Militarismus fordert, der besorgt die Interessen der französischen Chauvinisten; wer aber die sozialdemokratische Aktion in Deutschland im entscheidenden Moment auf liberale „Teilforderungen" reduzieren will, der fördert die Interessen der französischen Sozialisten! Zu solchen logischen Bocksprüngen kann man wirklich nur in großer Verlegenheit gelangen. Nicht ein Sterbenswort weiß der „Vorwärts" hingegen sachlich zu erwidern auf die Fragen, weshalb er während der preußischen Wahlen mit höchst revolutionären Phrasen den Mund vollnahm, hingegen die Einschläferung des preußischen Wahlrechtskampfes seit 1910 durch die leitenden Instanzen der Partei eifrig unterstützte; weshalb er die Vernachlässigung der Massenaktionen in Anknüpfung an den Baseler Kongress, die den französischen Genossen schon ganz sicher „zugute gekommen" wären, stillschweigend mitmachte; weshalb er die Schmach des Zarenbesuches in Berlin nicht einmal durch einen Leitartikel, der Hand und Fuss hätte, von der Partei abgewehrt hat, vielmehr die Passivität der Partei in offiziösen Redensarten zu „begründen" suchte. Statt dessen produziert der „Vorwärts" zum Schluss einen Sermon über die Notwendigkeit „einer zähen, unablässigen Aufklärungsarbeit in kleinerem Kreise, in unsern Organisationen, um von hier aus weitere Volksmassen zu ergreifen und mitzureißen". Soviel weiß jeder sozialdemokratische Versammlungsleiter im kleinsten Dorfe auch schon. Für das leitende Organ der stärksten Partei des Deutschen Reiches finden wir diese Weisheit in der heutigen politischen Situation etwas dürftig.


1Wir und die Milizforderung“ In: „Vorwärts“ Nr. 143, 10. Juni 1913.

2Ein Stuttgarter Fehlschluss“, in „Dresdner Volkszeitung“ Nr. 120, 28. Mai 1913

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