Rosa Luxemburg 19130606 Unsere Aktion gegen die Militärvorlage

Rosa Luxemburg: Unsere Aktion gegen die Militärvorlage

[„Leipziger Volkszeitung“ Nr. 128 und 129, 6. und 7. Juni 1913. Nach Gesammelte Schriften, Band 3, 1973, S. 225-233]

I

Die Resolution der Generalversammlung des 1. Stuttgarter Wahlkreises1 hat das große Verdienst, einer Stimmung öffentlichen Ausdruck verliehen zu haben, die sicher in weiten Kreisen der Partei heute herrscht. Man kann sich freilich, wie unser Zentralorgan, die Antwort leicht machen, wenn man sich trocken-formalistisch an die in der Resolution erwähnten Mittel einer eventuellen energischen Aktion gegen die Militärvorlage hält. Die parlamentarische Obstruktion ist durch die Geschäftsordnung des Reichstags ausgeschlossen, ein Massenstreik lässt sich nicht künstlich herbeiführen — damit soll die Kritik der Stuttgarter Genossen abgetan, ihre Unzufriedenheit mit der Haltung der Partei als ungerechtfertigt hingestellt werden. Der Kern der Resolution liegt, wie in diesem Blatte schon hervorgehoben, nicht in den erwähnten konkreten Vorschlägen, sondern in dem Geist, aus dem heraus die Resolution gefasst wurde. Ist man aber gewillt, diesem Geist ein wenig ehrliches Verständnis entgegenzubringen, dann muss man offen gestehen, dass die Aktion unserer Partei gegenüber den neuesten unerhörten Provokationen des Militarismus im ganzen und seit längerer Zeit an Großzügigkeit, Wucht und Schärfe manches vermissen lässt. Wenn heute der „Vorwärts" ruhig konstatieren kann, dass sich stürmischere Massenkundgebungen in diesem Moment kaum herbeiführen ließen, wenn Dr. Breitscheid zur Rechtfertigung der Taktik der Fraktion in der Budgetkommission sich in der Chemnitzer „Volksstimme" darauf beruft, dass der bisherige Verlauf und die Stimmung unserer Protestversammlungen gegen die Militärvorlage keine Hoffnung rechtfertigen, als ließe sich jetzt im Sommer noch so etwas wie ein Sturm im Lande entfachen, so ist wohl die ernste Frage am Platze, ob eben die Partei nicht selbst ein gut Teil Schuld daran trägt, ob der ganze Zuschnitt unserer Aktion seit Monaten auch dazu angetan war, das Maximum an Energie und Widerstand in den Massen auszulösen und mobil zu machen. Der Baseler Kongress [der Zweiten Internationale] im November bildete zweifellos den Höhepunkt der internationalen sozialistischen Aktion gegen den Militarismus. Der Eindruck des Kongresses auf die gesamte Öffentlichkeit war ein gewaltiger. Es versteht sich von selbst, dass ein solches Ereignis mit aller Kraft ausgenutzt werden musste, um eine Massenagitation zu entfachen, um die Flamme von Basel in die weitesten Schichten der Arbeiterschaft zu tragen. Der Kongress sollte dem ausdrücklichen Sinne und Wortlaut seines Manifests nach nicht der Abschluss, sondern der Anfang einer umfassenden antimilitaristischen Agitation, ein Signal zur Entfaltung der äußersten Energie nach dieser Richtung sein. Die französischen Genossen, deren Drängen wir auch das Zustandekommen des Baseler Kongresses verdanken, haben ihre Pflicht und Schuldigkeit auch nach dem Kongress vollauf getan. Sie haben das Baseler Manifest zur Tagesordnung zahlreicher Versammlungen im ganzen Lande gemacht, sie ließen jede einzelne Organisation ihren Beitritt zu den Baseler Beschlüssen erklären und veröffentlichten fortlaufend die lange Liste dieser Beitritte, sie veranstalteten in Paris wahre Massendemonstrationen. Es war eine Freude, zu sehen, wie systematisch, zähe und begeistert die französische Bruderpartei das Werk von Basel ausnutzte und fortsetzte. Wenn später die Regierungsvorlage mit der dreijährigen Dienstzeit einen so stürmischen Widerstand in Frankreich bis in die Kasernen fand, so hat darin sicher die kräftige Aufrüttelung der Massen vor und nach dem Baseler Kongress mit ihre Früchte getragen.

Bei uns in Deutschland ist nach Basel zur Ausnutzung des internationalen Kongresses leider so gut wie nichts getan worden: keine Demonstrationen, keine Versammlungen, mit dem Baseler Kongress fand bei uns die besondere Aktion gegen den Krieg ein Ende. Für die Massenagitation ist die ausgezeichnete Gelegenheit eigentlich ungenutzt geblieben.

Dafür erfolgte bald eine parlamentarische Aktion unserseits, die zum Geiste des Baseler Kongresses im schroffen Widerspruch stand und nur geeignet war, verwirrend zu wirken. Wir meinen die Fraktionsrede des Genossen David vom 3. Dezember, worin er öffentlich die deutsche Sozialdemokratie für eine Stütze des Dreibunds erklärte und, mit dem abgebrauchten armseligen Schema vom Angriffskrieg und Verteidigungskrieg arbeitend, die Stellung unserer Partei in der auswärtigen Politik in dem Wunsche kulminieren ließ, der Dreibund solle, nicht seinen realen Macht- und Interessenverhältnissen, sondern seinem papiernen diplomatischen Wortlaut von ehemals getreu, nur ein „Defensivbündnis" sein. Dass eine Stellungnahme für den Dreibund — gemildert nur durch den utopistisch kleinbürgerlichen Versuch, dem Distelstrauch einzureden, dass er eigentlich Feigen tragen sollte —, dass eine solche Kundgebung der Sozialdemokratie, noch dazu im Moment der Erneuerung des Dreibunds, zu der Stellung des Baseler Kongresses wie die Faust aufs Auge passte, lässt sich bei ruhiger Überlegung gar nicht bestreiten.

Zeigte sich schon in diesem Missklang eine gewisse Unklarheit und Unsicherheit unserer Aktion, so sollte diese Unsicherheit angesichts der Militärvorlage leider noch deutlicher zum Vorschein kommen. Es bedarf keiner weiteren Begründung, dass die Partei des Proletariats der ungeheuerlichen Militärvorlage nicht allgemeine Redensarten, sondern…2 Welcher Art diese Forderungen waren, das musste sich nicht etwa aus neuen schlauen Erfindungen, Kombinationen und Improvisationen ergeben, sondern — aus unserm alten, bewährten, offiziellen Parteiprogramm. Die Milizforderung gehört wohlgemerkt zu unsern Minimalforderungen, d. h. zu dem geringsten, was wir im Rahmen des kapitalistischen Staates auf militärischem Gebiet zu fordern haben. Was selbstverständlicher, als dass die Militärvorlage sofort ausgenutzt werden musste, um unsere Programmlosung der Volkswehr mit dem größten Nachdruck in den Mittelpunkt der Kämpfe und der Agitation zu stellen.

Anstatt dessen verfiel unser Zentralorgan auf die unglückliche Idee, neue Losungen auf eigne Faust zu improvisieren. Dabei erwies es sich von einer Bescheidenheit, die selbst das berühmte Vollmarsche „Mindestprogramm" der Eldorado-Reden3 in den Schatten stellte. Der „Vorwärts" machte sich am 12. März plötzlich ein Minimalprogramm eines Minimalprogramms, ein kleines Bröckelchen der Mindestforderungen zurecht, das auf die Beseitigung der dreijährigen Dienstzeit und des Einjährigenprivilegs hinauslief.4 Der ungeheuerlichsten Militärvorlage des Imperialismus gegenüber konzentrierte sich unser Zentralorgan unbegreiflicherweise rückwärts — auf das selige Militärprogramm der Fortschrittspartei aus der preußischen Konfliktzeit vor 50 Jahren! Während unsere Fraktion durch den Mund ihres Berichterstatters schon auf dem Stuttgarter Parteitag im Jahre 1898 die Forderung der einjährigen Dienstzeit als das Mindestmaß an militärischem Fortschritt vertrat, verfiel das Zentralorgan just angesichts der neuesten Militärvorlage auf die zweijährige Dienstzeit für die berittenen Truppen.

Es konnte denn auch nicht ausbleiben, dass unsere Fraktion diese Anregungen auf sich beruhen ließ. Sie vertrat bei den Debatten im Reichstag am 7. und 8. April die Milizforderung und die einjährige Dienstzeit. Wurde zwar die Losung der Volkswehr, die in unserm Programm und in unserer Auffassung durch vielfache Zusammenhänge bestimmt ist, diesmal etwas einseitig auf eine kurze Dienstzeit reduziert, so wurde sie immerhin vertreten, und hebt die einjährige Dienstzeit das System der stehenden Heere durchaus nicht auf, so liegt sie jedenfalls auf der Linie der Entwicklung zur Miliz.

Indem aber die Fraktion so der Forderung des Parteiprogramms in einem so wichtigen Moment zum Ausdruck verhalf und dadurch die „Mindestforderungen" des „Vorwärts" desavouierte, ließ sie zugleich ihre eigne früher wiederholt vertretene Losung fallen: die famose „Abrüstung". Auch diese Improvisation, die ein Jahr lang im Reichstag die Stellung unserer Partei bestimmte, ist im entscheidenden Moment, im Kampfe gegen die größte Militärvorlage, stillschweigend in der Versenkung verschwunden. Haben wir hier nur eine erfreuliche Tatsache zu konstatieren, so kann anderseits nicht verschwiegen werden, dass damit nur noch ein Beweis mehr geliefert ist, wie in unserer Haltung dem Militarismus gegenüber zu viel kurzlebiges Improvisieren und zu wenig wuchtige Sicherheit und Klarheit herrscht. Das Baseler Manifest, das nur in der internationalen Massenaktion des Proletariats, und die Dreibundanhängerschaft, die in der kapitalistischen Diplomatie die Gewähr des Friedens erblickt, das Zentralorgan für die zweijährige Dienstzeit der berittenen Truppen und die Abschaffung des Einjährigenprivilegs und die Fraktion für einjährige Dienstzeit, vor wenigen Monaten Forderung der Abrüstung, heute wieder die alte Forderung der Miliz — man muss gestehen, dass solches Durcheinander nicht geeignet ist, eine kräftige, scharfe und begeisterte Agitation auszulösen, dass es vielmehr eine gewisse Unsicherheit und Schwankung auch in die Massen tragen, zum Teil auf unsere eignen Agitatoren verwirrend und lähmend wirken muss.

II

Noch in einer Beziehung dürften unsere jüngsten Erfahrungen im Kampfe gegen die Militärvorlage für uns eine heilsame Lehre enthalten. Wenn man sich jetzt vielfach in unsern Reihen darauf beruft, dass „ein Sturm im Lande" gegen die Militärvorlage sich kaum hervorrufen ließe — wir haben ja die Äußerung des Stampferschen Büros zitiert5 —, so dürfte dieser Umstand zu einem bedeutenden Teil an der Vorstellung breiter Volkskreise liegen, als sollten die Kosten der neuen Heeresvermehrung nicht von den Arbeitenden, sondern von den Besitzenden getragen werden. Ist dem aber so, dann rächt sich in dieser irrigen Vorstellung der Massen und den irrigen Schlüssen aus ihr unser eigner Fehler, der in der zu einseitigen Betonung des Kostenstandpunkts bei der bisherigen Bekämpfung des Militarismus lag. Wenn man jahrzehntelang in den Vordergrund der Kritik im Reichstag wie auch in Wählerversammlungen die durch den Militarismus verursachten finanziellen Opfer des Volkes stellt, wodurch die politischen Zusammenhänge des deutschen Militarismus seine Verknüpfung mit dem monarchischen Halbabsolutismus, mit dem Verfall des Parlamentarismus, mit der Weltpolitik und den imperialistischen Tendenzen — notgedrungen in den Hintergrund geschoben werden, dann kann sich leicht der bedauerliche Fall ergeben, dass der gewaltigste Vorstoß des Militarismus nicht den genügenden Widerstand in den Massen erweckt, weil sie in dem irrigen Glauben leben, sie hätten gegebenenfalls nicht die materiellen Kosten zu tragen. Auch hier zeigt sich die mangelnde systematische Massenagitation für unsere Programmforderung der Volkswehr, die man den breitesten Volksschichten längst hätte beibringen müssen, dass wir den heutigen Militarismus nicht deshalb bekämpfen, weil er uns viel kostet, sondern weil er das Werkzeug der politischen Klassenherrschaft der Bourgeoisie ist, was er auch bei den höchsten Besitzsteuern bleibt.

Allein, es wäre unseres Erachtens überhaupt verfehlt, unsere Aktion gegen die Militärvorlage für sich allein und getrennt von dem allgemeinen Pulsschlag des Parteilebens zu betrachten. Im politischen Leben und namentlich im Leben der Massen lässt sich keine künstliche Trennung der einzelnen wichtigen Vorgänge und Gebiete durchführen, auf die sich ihr Interesse konzentriert. In einer Periode der politischen Hochflut, des energischen Kampfes reagiert die Masse auf alles mit verdoppelter Intensität. Hat die führende Partei des Proletariats verstanden, durch aufrüttelnde, zielklare Agitation die revolutionäre Energie, den Kampfgeist in der Masse zu wecken, ihr Vertrauen in die eigne Kraft zu steigern, dann entzündet sich eine Flamme an der ändern, dann ergibt sich mühelos und wie selbstverständlich eine Steigerung der Kundgebungen und der Kampfformen. Eine solche Hochflut, eine solche aggressive Kampfperiode, lässt sich freilich nicht künstlich schaffen, nicht beliebig von heute auf morgen aus dem Boden stampfen. Es muss eine günstige politische Situation, eine genügende elektrische Ladung der Atmosphäre gegeben sein, an der sich der bewusste Kampf der Partei entzünden kann. Wenn wir aber von der Situation sprechen, so dürfen wir nicht vergessen, dass eine Partei von 4 Millionen Wählern und mindestens 10 Millionen Anhängern beider Geschlechter doch auch selbst ein wichtiger Faktor der politischen Situation ist. Wir dürfen nicht vergessen, dass eine so mächtige Partei zwar auch nicht künstlich die verschärfte Kampfperiode schaffen kann, wenn dafür objektive Handhaben und Gelegenheiten fehlen, dass sie aber wohl solche Handhaben und Gelegenheiten ungenutzt verpassen, der Verschärfung des Kampfes geflissentlich aus dem Wege gehen und so die Masse selbst für längere Zeit apathisch machen kann.

An Zündstoff fehlt es heute in Deutschland wahrhaftig nicht. Man braucht nur zwei Momente aus ganz verschiedenen Gebieten herauszugreifen. Zunächst das preußische Wahlrecht. Als im Frühjahr 1910 der Wahlrechtskampf endlich die Gestalt einer großartigen Massenaktion angenommen hatte, als es uns gelungen war, den Acheron in Bewegung zu setzen, da wurde die Aktion bewusst von den leitenden Instanzen auf einmal abgebrochen. Die Straßendemonstrationen wurden, kaum dass sie als neues Kampfmittel in Preußen errungen waren, entgegen den elementarsten Anforderungen jeder Kampfstrategie, an den Nagel gehängt, der Acheron wurde nach Hause geschickt mit der Weisung, sich bis zu den Reichstagswahlen hübsch still zu verhalten. Auf die Reichstagswahlen wurden alle Blicke, alle Hoffnungen, alles Interesse zwei Jahre im voraus konzentriert. Nach den Reichstagswahlen wurde „eine ganz neue Situation" verheißen und für den preußischen Wahlrechtskampf in ähnlichen geheimnisvoll-vagen Phrasen ein neues glänzendes Kapitel in Aussicht gestellt.

Nun, die Reichstagswahlen sind längst vorbei, die „ganz neue Situation" hat sich ebenso wie die schnellgebackene Theorie vom „neuen Liberalismus" als ein Windei erwiesen, und der preußische Wahlrechtskampf ist seit 1910, also seit drei vollen Jahren, in Stillstand geraten. In letzter Stunde sollten alle Erwartungen wieder auf die preußischen Landtagswahlen konzentriert werden. Das Ergebnis der Landtagswahlen mit seinen 10 Mandaten hat indes an seinem Teil sowenig die allgemeine Situation und die Aussichten des preußischen Wahlrechts erschüttert wie die Reichstagswahlen mit den 110 Mandaten. Es hat sich noch einmal erwiesen, dass auf dem Wege der parlamentarischen Aktion allein die Hochburg der Reaktion nicht erschüttert werden kann. Und wenn unser Zentralorgan die Wähler zur Pflichterfüllung in Ausdrücken rief, die besser auf den letzten Barrikadenkampf in der Pariser Junischlächterei des Jahres 1848 gepasst hätten als auf den Gang zum preußischen Wahllokal, so vermag dieses Aufgebot von abgeschmackter revolutionärer Phraseologie, von „Schlachten", „Losbrechen des Sturmes", „Aufstehen des Volkes" usw., einen wirklichen Sturm leider nicht zu ersetzen. Nur eins kann diese Vergeudung von Kraftworten bewirken: dass sich die Massen an den Glauben gewöhnen, hinter unsern kräftigsten Worten stehe überhaupt nichts, sie seien nicht ernst zu nehmen. Übrigens gab der „Vorwärts" selbst zu, dass ein preußischer Wahlkampf nicht ein Wahlrechtskampf ist, als er am ändern Tage nach der Wahl schrieb: „Der Wahlkampf kann nur die Einleitung und das Vorspiel des Wahlrechtskampfes sein, der alsbald einzusetzen hat!" Leider deuten alle Zeichen darauf hin, dass der 1910 abgebrochene Wahlrechtskampf sowenig „alsbald" nach den preußischen Wahlen einsetzen wird wie der „alsbald" nach den Reichstagswahlen verheißene eingesetzt hat.

Ein anderes Beispiel, das zu denken gibt, hat ein politisches Ereignis jüngsten Datums geliefert: Es ist der Besuch des russischen Zaren in Berlin. Es ist das erstemal seit der Erdrosselung der Revolution im Zarenreich, dass sich der blutige Henker der russischen Freiheit nach der deutschen Hauptstadt als Gast gewagt hat, nach der Stadt, in der über fünf Wahlkreisen von sechsen die Fahne der Sozialdemokratie weht. Und angesichts einer solchen Provokation hat unsere Partei nicht einen Finger gerührt, nicht den leisesten Protest erhoben. Keine Demonstrationen, keine Volksversammlungen, ja nicht einmal ein würdiger Artikel im Zentralorgan hat die Schmach dieses Besuchs von der deutschen Arbeiterschaft abgewehrt! Ein schüchternes, höchst diplomatisch eingewickeltes Gestammel in einem kleinen Entrefilet des „Vorwärts" — das war alles, was die Viermillionenpartei gegenüber dem Besuch des Zaren aller Reussen in ihrer Hauptstadt geleistet hat! Dabei hat der „Vorwärts" selbst in seiner Notiz erklärt, der Besuch des Zaren sei nicht eine bloße Familienangelegenheit der Hohenzollernschen Braut, sondern eine politische Angelegenheit, bei der die auswärtige Politik sicher mit im Spiel sei. Und darauf schwieg unsere Partei. Es ist dies eine Unterlassung im Kampfe gegen den Militarismus und die Reaktion, eine Unterlassung gegenüber den Pflichten internationaler Solidarität mit den russischen Arbeitern, für die jede Entschuldigung, ja jede halbwegs annehmbare Erklärung fehlt. Wenn unsere Parteiführer im Reichstag versprechen, im Kriegsfall gegen das zarische Russland unter den Fahnen des Dreibunds die Flinte auf den Buckel zu nehmen, und zugleich unterlassen, gegen den Zaren, wo sie ihn bei sich zu Hause zu „Gast" haben, wenigstens Protestversammlungen einzuberufen, so ist das eine Taktik, die alles andere, nur nicht aufrüttelnd und belebend auf die Massen wirken kann.

So fügt sich eins zum ändern, eins greift ins andere über. Es lässt sich sicher kein einzelnes konkretes Mittel nennen, das heute dem Kampfe gegen die Militärvorlage die nötige Schärfe und Wucht verleihen könnte, durch kein spezifisches aus der Tasche gezogenes Rezept kann plötzlich eine Atmosphäre der Leidenschaftlichkeit und Widerstandskraft der Massen aus der Pistole geschossen kommen. Aber wenn die Partei seit Jahr und Tag im preußischen Wahlrechtskampf, in der internationalen Aktion im Anschluss an den Baseler Kongress, in der konsequenten und festen Agitation für die Miliz, in der Wahrnehmung ihrer Pflichten bei solchen Gelegenheiten wie der Zarenbesuch statt des notdürftigsten Minimums das Maximum an aufrüttelnder Arbeit und kühnem Auftreten geleistet hätte, dann würden auch die Massen in diesem Moment auf der Höhe ihrer Aufgaben sein.

1 Die Generalversammlung des sozialdemokratischen Vereins für den ersten württembergischen Wahlkreis Stuttgart-Stadt und -Land verlangte in einer einstimmig angenommenen Resolution von der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion ein schärferes Vorgehen gegen die Rüstungs- und Deckungsvorlage und empfahl das Mittel der Obstruktion. Der Parteivorstand wurde aufgefordert, über eine Versammlungskampagne hinaus eventuell den Massenstreik einzuleiten.

2 Unvollständiger Satz in der Quelle.

3 Georg von Vollmar hatte in zwei Reden, am 1. Juni und am 6. Juli 1891, im „E!dorado"-Palast in München von der Sozialdemokratie die Aufgabe ihrer revolutionären Taktik und die Orientierung auf eine reformistische Umgestaltung der kapitalistischen Gesellschaft gefordert.

4Eine Mindestforderung“. In: Vorwärts Nr. 60, 12. März 1913.

5 Seit September 1903 gab Friedrich Stampfer eine politische Korrespondenz für die sozialdemokratische Presse heraus, die der Verbreitung opportunistischer Ideen diente In den letzten Vorkriegsjahren druckten etwa vier Fünftel aller sozialdemokratischen Presseorgane deren Artikel ab.

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