Rosa Luxemburg 19041214 Die Politik der „Blocks"

Rosa Luxemburg: Die Politik der „Blocks"

[Sächsische Arbeiter-Zeitung (Dresden), Nr. 290 vom 14. Dezember 1904. Nach Gesammelte Werke Band 1/2, 1970, S. 456-461]

Die politische Situation und auch der Reifegrad der Arbeiterbewegung im Zarenreiche drängen unsere russische Bruderpartei immer mehr auf die offene Bühne des politischen Lebens, wo sie mit der verantwortungsvollen Rolle eines revolutionären Faktors ersten Ranges all die Schwierigkeiten übernimmt, die sich der Sozialdemokratie auch in den westeuropäischen Ländern bei der Gestaltung ihrer Taktik bieten. Eins dieser Probleme, das gegenwärtig für die Sozialdemokratie Russlands aktuell geworden ist, während es gleichzeitig zum Beispiel für den französischen Sozialismus eine Lebensfrage darstellt, ist die Stellungnahme zu der Politik der sogenannten oppositionellen „Blocks".

Den äußeren Anlass hat dabei eine jüngst von acht diversen oppositionellen Gruppen Russlands abgehaltene Konferenz1 geboten, über die eine Notiz auch in der deutschen Parteipresse erschienen ist und bei der die russische, polnische, jüdische, lettische und ukrainische Sozialdemokratie ihre Mitwirkung abgelehnt hatten. Mag nun die unter solchen Umständen abgehaltene Konferenz der nationalistischen, terroristischen und liberalen Richtungen an sich von geringer politischer Bedeutung sein, so ist die Haltung der Sozialdemokratie Russlands in diesem Falle von großem allgemeinem Interesse.

Die erwähnten sozialdemokratischen Organisationen Russlands haben auf einer von ihnen abgehaltenen Konferenz eine gleichlautende Erklärung gegen jene kunterbunte Konferenz abgefasst, in der sie ihre Ablehnung der Teilnahme folgendermaßen begründen:

Abgesehen von Beweggründen, die sich nicht für die Öffentlichkeit eignen, lassen wir uns dabei von folgenden Gesichtspunkten leiten:

Wir erachten es als unsere Pflicht, den gegenwärtigen Russisch-Japanischen Krieg2 zur Potenzierung des revolutionären Kampfes gegen den Absolutismus auszunutzen. Unsere sozialdemokratische Überzeugung verpflichtet uns auch, jede wirklich revolutionäre und sogar jede wirklich oppositionelle Bewegung zu unterstützen.

Allein, die Hoffnung, eine fruchtbare politische Aktion vermittelst der vorgeschlagenen Konferenz hervorzurufen, erscheint uns als unrealisierbar, da die Elemente, die auf dieser Konferenz vertreten sein sollen, sowohl in bezug auf ihre politische Grundauffassung wie auch auf ihre Kampfmethoden zu sehr auseinandergehen. Obendrein ist manchem dieser Elemente der Standpunkt des proletarischen Klassenkampfes so fremd, dass sie infolgedessen nicht frei von gewissem politischem Abenteurertum sind, in der Art von Spekulationen auf den Sieg der bürgerlichen japanischen Regierung, Spekulationen, die von unserem sozialdemokratischen Standpunkt ganz unzulässig sind. Der gegenwärtige Krieg erscheint uns vielmehr in allen Fällen als höchst verhängnisvoll für die Interessen der Volksmassen, ob er mit einem Siege oder einer Niederlage des Absolutismus endet.

Wir sind denn auch der Überzeugung, dass eine ersprießliche revolutionäre Aktion in unseren Verhältnissen nur auf dem Boden des Klassenkampfes des ohne Unterschied der Nationalität in Reih und Glied zusammengeschlossenen Proletariats des ganzen russischen Reiches möglich ist; eines Kampfes, dessen unmittelbare Aufgabe, ganz in Übereinstimmung mit dem sozialistischen Proletariat Japans, die baldmöglichste Einstellung des verbrecherischen gegenwärtigen Krieges ist."

Was nun vor allem die tatsächliche Seite der Konferenz betrifft, so musste in der Tat schon der Umstand befremdend wirken, dass als Einberuferin der Konferenz eine ganz unbekannte bürgerliche finnländische „Revolutionäre Partei" auftrat, während ihr z. B. die finnländische Arbeiterpartei fernblieb und, wenn wir nicht irren, gar nicht zur Teilnahme aufgefordert wurde.

Dass ferner bei dem künstlichen Zusammenschließen von ganz verschiedenartigen Elementen nichts herausspringt als eine kurz andauernde Überkleisterung der vorhandenen Gegensätze, bewies überraschend schnell der folgende Umstand: Als neulich von einer Organisation, die an jener Konferenz teilgenommen, eine blutige putschartige Demonstration veranstaltet wurde, trat eine andere jener acht Gruppen gegen ihre eigene Kollegin aus dem soeben abgeschlossenen „Block" öffentlich auf mit denkbar heftigen Angriffen, ja beinahe mit Drohungen, gegen derartige Aktionen künftig die Hilfe der russischen Polizei anzurufen! Dieses tragikomische erste Ergebnis der oppositionellen „Allianz" bildet eine lehrreiche Randglosse zu den auch in unseren Reihen so beliebten und so billigen Phrasen von dem notwendigen Zusammenschluss „aller oppositionellen Kräfte" in dem gegenwärtigen Russland zum gemeinsamen Ansturm gegen den Absolutismus. Leider liegt solchen weisen Ratschlägen nicht bloß die ganz begreifliche und verzeihliche Unkenntnis der tatsächlichen Kräfteverhältnisse im Innern des Zarenreiches zugrunde, sondern auch eine weniger begreifliche und verzeihliche Oberflächlichkeit in der Bewertung der politischen und geschichtlichen Rolle der Sozialdemokratie – in Russland wie überhaupt.

Die Politik der Allianzen, der „Blocks", ist ihrem Wesen nach etwas der Sozialdemokratie Fremdes, vielmehr eine legitime Blüte des bürgerlichen Parlamentarismus. Dieser schafft die Bedingungen sowohl für die Wahlkompromisse wie für die parlamentarischen Koalitionen, indem er sie für die Bourgeoisie zum Mittel der solidarischen Verteilung der politischen Herrschaft auf dem Boden des allgemeinen Wahlrechts macht, genau wie die wirtschaftlichen Koalitionen auf dem Boden der freien Konkurrenz die Verteilung der Profitrate unter verschiedene Kapitalistengruppen verschieben und „ausgleichen" sollen. Historisch ist die Blockpolitik ein Ergebnis des politischen Verfalls der Bourgeoisie. In ihrer Sturm- und Drangperiode, in der Periode ihres jugendlichen Kraftmeiertums, die wir freilich nur in Frankreich erlebt haben, führt die Bourgeoisie keine Allianz-, sondern eine Kampfpolitik. Je mehr die Klassengegensätze im Schoße der bürgerlichen Parteien noch verschleiert waren, umso schroffer und rücksichtsloser traten sich diese Parteien im Kampfe entgegen, wie dies die Periode der Großen Französischen Revolution zeigt. Jetzt, je mehr der Liberalismus auf den Hund kommt und an der eigenen inneren Lebenskraft verzweifelt, um so mehr träumt er von einem „Block" „aller liberalen Parteien". Wie wir aber in Deutschland sehen, kommt an Stelle dieses schönen Traumes als Ergebnis desselben bürgerlichen Verfalles ein anderes Bündnis – dasjenige des Liberalismus mit der Reaktion – zustande. Die politische Geschichte Deutschlands seit Ende der 70er Jahre ist ja nichts anderes als die Herrschaftsgeschichte des „Blocks" des deutschen Bürgertums mit den Agrariern. Und dieses klassische Muster der „Blockpolitik“ zeigt schlagend, genauso wie das Beispiel des zu ganz entgegengesetzten Zwecken geschaffenen Jaurèsschen Blocks, was bei einer solchen Politik allenfalls herauskommt: Es ist stets die Politik der rückständigsten Partei, die bei einem dauernden Bündnis den Ausschlag gibt. Wie bei dem deutschen bürgerlich-agrarischen Bündnis nicht das Bürgertum, sondern die agrarische Reaktion das Heft in den Händen hat, so tanzt heute tatsächlich in Frankreich nicht das radikal-republikanische Kleinbürgertum nach der Pfeife Jaures', sosehr es auch an der parlamentarischen Oberfläche danach aussehen mag, sondern der ministerielle Sozialismus bildet bloß den Steigbügel für die Herrschaft des republikanischen Kleinbürgertums.

Ist somit die Politik der dauernden Allianzen mit rückständigeren Richtungen für jede wirkliche Kampfpartei, für jede – auch bürgerliche Oppositionspartei verhängnisvoll, so ist sie es doppelt für die Sozialdemokratie. Betrachten wir z. B. für einen Augenblick näher die gegenwärtige Situation in Russland.

Als beachtenswerter politischer Faktor bei einem Bündnis käme für die Sozialdemokratie etwa nur der russische Liberalismus in Betracht. Seine jüngste Regung – der Semstwokongress3 und dessen konstitutionelle „Charte" – ist zweifellos von großer politischer Bedeutung, freilich nicht als Äußerung einer lebendigen Kraft im russischen Liberalismus, sondern als typisches Symptom der Verwirrung und Zersetzung im Lager des Absolutismus. Verbindet sich nun etwa die russische Sozialdemokratie mit dieser schwächlichen konstitutionellen Partei des russischen Landadels und der Intelligenz, um ihr „den Rücken zu steifen", so schränkt sie nicht nur ihre politischen Forderungen notwendigerweise auf das Minimum ein, indem sie z. B. auf die Forderung der Republik verzichtet, an die der russische Liberalismus in seinen kühnsten Träumen nicht zu denken wagt, sondern sie begibt sich auch der Möglichkeit, die ganze Politik des Liberalismus als eine Äußerung der zur Herrschaft strebenden besitzenden Klasse auf Schritt und Tritt rücksichtslos zu entlarven. Die Sozialdemokratie ist alsdann gezwungen, entgegen ihrer eigenen gesellschaftlichen Auffassung wie entgegen den Lehren der Geschichte Westeuropas den russischen Liberalismus, um ihn nicht zu schwächen und bloßzustellen, lediglich als reine Ideologie, d. h. als das, wofür sich diese Richtung selbst hält, zu nehmen und in der Arbeiterklasse diese Illusion bewusst zu nähren. Damit wird sie aber ihrer obersten Aufgabe, der Klassenaufklärung und der Klassenorganisation des Proletariats, untreu – einer Aufgabe, die unter keinen Umständen und in keinem Augenblick hintangestellt werden darf, ohne dass die Sozialdemokratie aufhört, „zeitweise" sie selbst zu sein. Es ist vielmehr die Aufgabe der russischen Sozialdemokratie, gerade jetzt durch unumwundene, scharfe Kritik des schwächlichen Liberalismus die russische Arbeiterklasse zum Selbstvertrauen, zur selbständigen politischen Aktion als gesonderte revolutionäre Klasse zu erziehen, statt sie durch zweideutige Allianz mit dem Konstitutionalismus oder durch Zurückhaltung in der Kritik zur Gefolgschaft des unzuverlässigen liberalen Sammelsuriums irrezuleiten.

Auch in diesem Falle wie stets sind durch die grundsätzlich intransigente Haltung der Sozialdemokratie auch ihre unmittelbaren praktischen Interessen am besten besorgt. Behält nämlich die Sozialdemokratie völlig freie Hand gegen den Liberalismus, so kann als Folge ihrer rücksichtslosen, scharfen Kritik dieses letzteren nur eins von beiden eintreten: Entweder gelingt es ihr, die Liberalen durch den Druck der hinter ihnen einher stürmenden revolutionären Arbeiterschaft vorwärts zu treiben – über das Ziel hinaus, das der Liberalismus an sich zu erreichen bestrebt war –, oder aber der Liberalismus bricht unter der Wucht der sozialdemokratischen Kritik und vor Furcht vor der revolutionären Volksbewegung auf halber Strecke zusammen, dann steht eben die von der Sozialdemokratie geführte revolutionäre Volksmasse Auge in Auge mit dem Absolutismus und nimmt den Kampf gegen den Kompromiss des Absolutismus mit den Liberalen am andern Tage mit klarem Bewusstsein auf.

Es ist interessant, zusammenzustellen, in welch entgegengesetzten Bedingungen die Neigung zur Preisgabe der grundsätzlichen Haltung des Sozialismus auftaucht. In Frankreich soll die klare Klassen- und Parteischeidung des Proletariats von der Bourgeoisie geopfert werden, weil es gelte, die „höchste, demokratischste, fortschrittlichste politische Staatsform" – die bürgerliche Republik – zu retten. In Russland soll dieselbe Klassenscheidung und Klassenkampfstellung des Proletariats zurückgestellt werden, weil es gelte, erst die niedrigste, rückständigste, barbarischste Staatsform – den Absolutismus – zu zertrümmern. Am Ende bliebe nach dieser schönen Theorie als die eigentliche geschichtliche Bahnstrecke für den selbständigen sozialistischen Klassenkampf jener politisch nicht zu fixierende, sozusagen „mathematische" Augenblick übrig, der zwischen dem Aufstreben und dem Niedergang der Bourgeoisie liegt!

Demnach können wir die Haltung unserer russischen Bruderpartei vollauf begreifen, wenn sie die Blamage eines praktisch ganz zwecklosen´Bündnisses mit dem adeligen Liberalismus den Sozialisten-Terroristen überließ, die nebenbei wiederum dargetan haben, dass sich der schärfste äußere Bomben- und Knallradikalismus mit der opportunistischsten Kompromisstaktik zu vereinigen pflegt.

1 Im November 1904 fand in Paris eine Konferenz statt, die von der Finnischen Partei des aktiven Widerstandes einberufen worden war. Weiter anwesend waren u. a. Vertreter der russischen Sozialrevolutionäre, der PPS (siehe S. 306, Fußnote 3), der grusinischen und der armenischen bürgerlich-nationalistischen Parteien und der Polnischen Nationalen Liga.

2 Im Januar 1904 hatte Japan einen imperialistischen Krieg gegen Russland um die Vorherrschaft im Fernen Osten begonnen. Die schwere Niederlage der russischen Truppen im Jahre 1905 schwächte den Zarismus und verschärfte die revolutionäre Krise in Russland.

3 Am 17. November 1904 fand in Petersburg eine Konferenz von Mitgliedern der Semstwos statt. Die Vertreter übten keine Kritik am Wesen des Absolutismus selbst, sondern nur an seinen Erscheinungen. Sie forderten lediglich Reformen im Rahmen der bestehenden Ordnung.

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