Rosa Luxemburg 19051126 Eine Haupt- und Staatsaktion

Rosa Luxemburg: Eine Haupt- und Staatsaktion

[Erschienen im „Vorwärts" am 26. November 1905.Nach Gesammelte Werke Band 4, 1928, S. 407-409]

Das „Hamburger Echo" bringt folgende Zuschrift mit der tönenden Überschrift „An die Parteigenossen!", die wir mit den im Druck hervorgehobenen Stellen abdrucken:

Die Unterzeichneten glauben es der Partei und speziell ihrer Wählerschaft schuldig zu sein, folgende Erklärung abzugeben:

In den letzten Wochen ist sowohl in einem Teil unserer Parteipresse wie auch in Parteiversammlungen eine Richtung hervorgetreten, die vorgeblich im Sinne der „Parteimehrheit" Anschauungen propagiert, von denen nach unserer Überzeugung zu sagen ist, dass sie in scharfem Gegensatz zu Wortlaut und Tendenz wichtiger Parteitagsbeschlüsse stehen. Wir meinen in erster Linie die in Jena beschlossene Resolution betreffend den politischen Massenstreik. Genosse Bebel hat in seinem Schlusswort zur Begründung dieser Resolution, um alle aufgekommenen Zweifel über die Tendenz derselben zu zerstreuen, scharf betont, sie besage nicht, „dass in einem bestimmten Falle der Massenstreik unter allen Umständen, koste es, was es wolle, proklamiert werden solle". Diese Befürchtungen seien gegenstandslos, der Parteitag solle sich nur im Prinzip dafür aussprechen, „dass gegebenenfalls unter bestimmten Voraussetzungen" die Parteiführer mit den Führern der Gewerkschaften über die Verwirklichung der Idee des politischen Massenstreiks – dessen Möglichkeit vorausgesetzt – zu beraten haben. Diese Deklarationen haben allgemeine Zustimmung, wenigstens nicht den geringsten Widerspruch erfahren.

Nichtsdestoweniger ist jetzt eine neue Richtung in der Partei mit geradezu fanatischem Eifer bemüht, jene Resolution – unter Hervorkehrung einer höchst bedenklichen, ja für die Partei geradezu verderblichen Revolutionsromantik, die jedes realistische Denken vermissen lässt und in direktem Gegensatz zu der durch Karl Marx wissenschaftlich begründeten materialistischen Geschichtsauffassung steht – dahin zu deuten, als sei die Partei auf den politischen Massenstreik bereits derart festgelegt, dass man sich auf ihn allen Ernstes heute oder morgen schon einzurichten habe und jeden, der ihre Revolutionsromantik nicht mitmacht, als „Flaumacher", als Revisionist, als „Verhöhner des revolutionären Geistes" in der Partei, als „Auch-Sozialist" verdächtigt und ihn dadurch in der Wirksamkeit seiner Tätigkeit in der Arbeiterbewegung lahmzulegen sucht. Die Art und Weise dieser Propaganda unterscheidet sich von der sogenannten „anarchosozialistischen" durchaus nicht; sie hat nichts gemein mit den Voraussetzungen, die zur Annahme der Bebelschen Resolution auf dem Jenaer Parteitage geführt haben; sie wirkt zum größten Schaden der Partei verwirrend und hat zur Folge eine verhängnisvolle Unterschätzung derjenigen agitatorischen und organisatorischen Leistungen, von denen allein ein gesunder Fortschritt der Arbeiterbewegung zu erwarten ist. Jeder unserer Parteitage hat die Notwendigkeit und Bedeutung der gewerkschaftlichen Organisation als wesentlichen Faktor des Emanzipationskampfes der Arbeiterklasse anerkannt, und insbesondere der Jenaer Parteitag hat es jedem Parteigenossen zur Pflicht gemacht, die Ziele und Zwecke der Gewerkschaften zu unterstützen. Trotzdem gilt den Vertretern der neuen Richtung alle gewerkschaftliche Arbeit nur als „Sisyphusarbeit"; sie behaupten, die Gewerkschaften seien „ohnmächtig" und was dergleichen direkt gegen die Interessen der gewerkschaftlichen Organisation und Bewegung gehende Redensarten mehr sind. Auch in der Bewertung der parlamentarischen Tätigkeit dokumentiert diese Richtung dieselbe gegensätzliche Stellung gegen die Beschlüsse der Parteitage der Gesamtpartei, Provinzial- und Landeskonferenzen. Man schreibt und spricht von der „öden Tretmühle des Parlamentarismus", von den „kleinen Gesichtspunkten des täglichen Ringens, des parlamentarischen Sumpfes", erklärt, „dass alle unsere auf den Parlamentarismus gestützten Berechnungen auf Sand gebaut sind" usw.

Gegen diese Richtung, die zu unserem besonderen Bedauern auch in der Provinz Schleswig-Holstein propagiert wird, nehmen wir hiermit in unserer Eigenschaft als Parteigenossen und als Vertreter schleswig-holsteinischer Wahlkreise im Reichstage Stellung, indem wir erklären, dass die von ihr ausgehende, oben skizzierte Propaganda nach unserer Überzeugung unvereinbar mit den Interessen der Partei und der Arbeiterbewegung ist,

Hamburg, den 23. November 1905.

A. v. Elm. K. Frohme. F. Lesche.“

Die obige Philippika richtet sich, wie aus einigen Zitaten hervorgeht, gegen den von der Genossin Luxemburg im zweiten Hamburger Wahlkreise am 14. dieses Monats gehaltenen Vortrag über den politischen Massenstreik. Es ist sehr merkwürdig, dass die drei Genossen, die sämtlich in Hamburg wohnhaft sind, es nicht für angebrachter hielten, in jener Versammlung zu erscheinen und die „verderbliche Revolutionsromantik" da, wo sie sich ihren tödlichen Streichen aus nächster Nähe aussetzte, einmal energisch in den Sand zu strecken. Bei der öffentlichen Diskussion über die staatsgefährliche Auffassung des Massenstreiks im parteigenössischen Kreise zog die „realistische Denkweise" vor, realistisch wie sie ist, sich nicht zum Wort zu melden, was im Bericht des „Hamburger Echo" auch ausdrücklich hervorgehoben wurde.

Durch diese bedauerliche Zurückhaltung ist es auch den drei Gegnern der „Revolutionsromantik" möglich geworden, in ihrem obigen Aufruf wie auch in der ganzen Diskussion über den Massenstreik mit seltsamer Ausdauer offene Türen einzurennen und gegen Windmühlen zu kämpfen. Es ist übrigens überhaupt für die Antimassenstreikler bezeichnend, dass sie, um die Idee des Massenstreiks zu bekämpfen, sich erst eine Vogelscheuche zurechtmachen, um dann an ihr die schönsten Triumphe des kritischen Geistes zu erleben. Die abgeschmacktesten Redensarten über die „Herabsetzung der Gewerkschaften", die Ablehnung der parlamentarischen Arbeit und dergleichen Legenden werden dabei mit Liebe an die Idee des politischen Massenstreiks gekoppelt, um nachher den selbstgebrauten skurrilen Unsinn mit Genuss totzuschlagen.

Eines ist lediglich bei dieser harmlosen Beschäftigung, was Beachtung verdient: es ist dies die Tendenz aus dem unliebsamen Jenaer Beschluss über den Massenstreik, trotz des ganzen Geistes der Diskussion, die mit ihm verbunden war, jetzt hinterdrein jede revolutionäre Bedeutung hinwegzuinterpretieren, ihn zu einer Phrase mit soviel „Wenn und Aber" umzudeuten, dass er überhaupt aufhört, irgend etwas auszudrücken. Die redliche Mühe wird zwar unbelohnt bleiben, denn der schöne Lärm der russischen Revolution ist ein viel wirksamerer Kommentar zu dem Jenaer Beschluss, als die feierlichen Erklärungen einzelner Parteigenossen, dass sie für die etwaigen schrecklichen Folgen dieses Beschlusses bei seiner richtigen Auslegung vor Gott und den Wählern jede Verantwortlichkeit ablehnen.

Apropos. Zusammen mit Frohme wäscht hier auch Genosse von Elm seine Hände in Unschuld, derselbe von Elm, dessen flammende Rede in Jena für den Massenstreik uns noch immer im Banne ihres mächtigen, aufrichtigen revolutionären Pathos hält. Der Parteitag zu Jena hat erst vor zwei Monaten stattgefunden.. Das ist ja eine geradezu „katastrophenartige" geistige Entwicklung, die wir „Revolutionsromantiker" schwer zu fassen vermögen ….

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