Rosa Luxemburg 19051107 Weltpolitik und Massenstreik

Rosa Luxemburg: Weltpolitik und Massenstreik

[Bericht der „Leipziger Volkszeitung" über eine Rede, gehalten am 7. November 1905 in einer öffentlichen Volksversammlung. Nach Gesammelte Werke Band 4, 1928, S. 398-402]

Es ist eine eigenartige Erscheinung des Parteilebens, die wir in der letzten Zeit beobachten können, nicht nur für die Parteigenossen, sondern auch für den Forscher, dass der politische Massenstreik als Kampfmittel der Arbeiter so schnell anerkannt wurde. Das Merkwürdige besteht aber nicht in der Neuheit dieser Frage, sie ist nichts Neues, im Gegenteil, man diskutiert darüber schon sehr lange Zeit, schon auf internationalen Kongressen vor zwölf Jahren rief diese Frage die heftigsten Meinungskämpfe hervor, man diskutierte sie auch bei uns, und zwar in der Richtung, ob man mit dem Massenstreik etwa das allgemeine Wahlrecht zum preußischen Landtage erkämpfen könne, sondern die Merkwürdigkeit besteht in ihrer plötzlichen Einreihung als Mittel des Klassenkampfes.

Vor noch gar nicht langer Zeit betrachtete man dieses Mittel als etwas dem proletarisch-sozialistischen Klassenkampfe Fremdes, etwas Wesenloses, gar nicht Diskutables, und heute fühlen wir gemeinsam, dass der politische Massenstreik kein lebloses Wesen, sondern ein Stück des lebensvollen Kampfes darstellt. Was hat nun den schnellen Umschwung bewirkt? Die russische Revolution! Auch in Russland ist vor einiger Zeit noch dieselbe Anschauung über den politischen Massenstreik wie bei uns gewesen. Wohl wusste man, dass in Russland eine Revolution ausbrechen und dass diese nur mit Gewalt vor sich gehen würde, aber ihre Form und ihren Inhalt kannte man noch nicht. Jetzt, seit jenem glorreichen 22. Januar, der mit goldenen Lettern in die Geschichte eingetragen ist, sieht man klar, in welcher Form sich der gewaltige Kampf zur Niederwerfung des russischen Absolutismus abspielt. Der in der russischen Revolution mit so großem Erfolge angewendete politische Massenstreik hat den Umschwung in der Anschauung des Massenstreiks bewirkt.

Woher kommt es nun bei uns, dass die Losung des politischen Massenstreiks ein so plötzliches, unmittelbares Interesse in Anspruch nimmt? Es muss eine große Verschiebung in den Klassenverhältnissen sein, dass die Arbeiter instinktiv nach neuen Waffen suchen, um die Kämpfe auszufechten. Zwei gegensätzliche Auffassungen sind es hauptsächlich, die in unserer Partei in letzter Zeit hervorgetreten sind, die eine, personifiziert in Eduard Bernstein, dem eifrigen Propagandisten des politischen demonstrativen Massenstreiks, die andere in Dr. Friedeberg. Bernstein sieht im politischen Massenstreik das Mittel zur Erkämpfung politischer Rechte und Abwehr gegen ihren etwaigen Raub durch die herrschenden Klassen. Die entgegengesetzte Auffassung hat ihren Sitz in den Gewerkschaften und ist auf dem Kölner Kongress zum Ausdruck gekommen, nämlich: dass der Generalstreik etwas für die Arbeiterbewegung sehr Gefährliches, Verderbliches sei.

So sehr es nun scheint, als ob sich die beiden Auffassungen ausschlössen, so unrichtig wäre diese Annahme; sie haben vielmehr beide ein und dieselbe Grundlage, von der sie ausgehen, die anarchistische Anschauung, die die Dinge in der Luft hängend betrachtet. Nach der anarchistischen Anschauung kann man einen Generalstreik – der überhaupt das Allheilmittel der Anarchisten ist – jederzeit machen oder beenden oder ablehnen, ganz wie es die Arbeiter wollen. Nach dieser Auffassung ist der Massenstreik kein Produkt geschichtlicher Entwicklung und Notwendigkeit, sondern ein Mittel, das man zu jeder Zeit beliebig anwenden oder lassen kann. Dieselbe Logik kommt bei den Gewerkschaften und Führern zum Ausdruck, wenn sie erklären, wir wollen den Generalstreik überhaupt nicht, und meinen, sie hätten ihn mit einer zehnzeiligen Resolution aus der Welt geschafft. Es ist dieselbe Auffassung wie etwa die, dass die Taktik, das heißt die Mittel, die im Klassenkampf angewendet werden, mit der Theorie oder den Zielen nicht zusammenhängen, so dass sie beliebig gewechselt oder angewendet werden können; es ist dies die ganze unhistorische bürgerliche Auffassung der Dinge. Unsere opportunistischen Genossen haben ja die gleiche Auffassung, wenn sie sagen, dass wohl die Prinzipien gehütet werden müssten, aber die Taktik hätte sich nicht danach zu richten.

Eine völlig andere Auffassung der Dinge haben die marxistischen Sozialisten. Würde man einen solchen fragen, ob er für den Generalstreik sei, so bekäme man nicht wie von den Anarchisten ein Ja oder Nein, sondern der würde antworten, dass man erst die Verhältnisse kennen lernen müsse, ob diese ein solches Mittel als historische Notwendigkeit geböten. Die Einverleibung eines solchen Mittels in die Waffen des Klassenkampfes hängt also nicht von dem Wollen oder Nichtwollen der Menschen ab, sondern die Entwicklung der Verhältnisse zwingt es der Arbeiterschaft auf.

Wir gehen der höchsten Zuspitzung der gesellschaftlichen Verhältnisse entgegen. Wir dürfen die Auslandspolitik nicht aus den Augen lassen. Der russisch-japanische Krieg hat eine kolossale Verschiebung der Machtverhältnisse gebracht. Die junge Militärmacht Asiens ist durch ihn in den Vordergrund geschoben worden und hat wesentlichen Anteil an dem Sturz des russischen Absolutismus. Seit dem Jahre 1895, wo Japan um die Früchte seines Sieges betrogen wurde1, trat eine Verschärfung der Gegensätze unter den Großmächten in Ostasien ein. Bis dahin war der internationale politische Brennpunkt am Bosporus. Seit 1895 aber lenkten sich alle Blicke nach Ostasien. Das beweist, dass die alte Weltpolitik und Weltwirtschaft, wie es Marx nannte, über die Grenzen Europas hinausgetreten und der Brennpunkt nach Ostasien verlegt worden ist.

Hat Jaurès seine Friedenspropaganda auf die zunehmende Einsicht der Völker gegründet, weil seit 30 Jahren in Europa Frieden herrsche, so zeigt ein Blick auf die politische Weltlage, die zunehmende Schärfe der Großmächte gegeneinander und die wahnsinnigen Rüstungen, wie falsch und kurzsichtig die Jaurèssche Politik und Anschauung ist. Der russisch-japanische Krieg hat gezeigt, dass er nicht das Ende der Kriegskämpfe darstellt, sondern nur den Anfang von neuen. Japan wird wegen seiner Siege und Vormachtstellung ein Gegenstand heftigster Angriffe der alten Mächte sein, bei dem wir, wie die Befestigungen Kiautschous zeigen, nicht mehr bloß Zuschauer, sondern Teilnehmer sein werden. Das bewirkt nun aber wieder das Wachsen der Rüstungen zu Wasser und zu Lande, und bei der inneren Politik neue Zölle und Steuern, schafft einen Zustand der permanenten Hungersnot, wie sie jetzt schon in einigen Gegenden Deutschlands besteht. Diese hungernden Schichten der Bevölkerung, die sich nur von Pilzen nähren müssen, zeigen uns den ungeheuren Abstand von der Lebenslage der Kapitalisten.

Die beiden Wetterwinkel: das Ruhrrevier und die sächsisch-thüringische Textilindustrie mit ihren hungernden, maßlos ausgebeuteten Proletariern, die an die ersten Pioniere des Klassenkampfes: die Seidenweber in Lyon erinnern, zeigen uns, wie die Dinge stehen; sie zeigen aber zugleich die Ohnmacht und Schranken der Gewerkschaftsbewegung.

Zwischen der Lage der Seidenweber von Lyon aus dem ersten Drittel des vorigen Jahrhunderts und der unserer Gegenwart ist gar kein Unterschied. Wir sehen bereits den großen kommenden sozialen Kampf, dazu kommt noch die Rückwirkung der russischen Revolution, wie sich dies ja schon in Österreich zeigt.

Die russische Revolution muss eine Verschärfung der Klassenkämpfe bringen, ob sie siegreich ist oder nicht. Bei einem Siege der Revolution kann sie gewiss kein sozialistisches Paradies schaffen, aber schon, wenn sie einen modernen bürgerlichen Rechtsstaat schafft, werden im Innern die Partei-, d. h. . Klassenkämpfe mit scharfer Wucht einsetzen. Von da an wird aber auch der politische Kampf in allen modernen Ländern mit Sturmschritt vorangehen, wird er eine neue Ära für Europa eröffnen. Nehmen wir nun noch die internationale Verschärfung in Asien dazu, so gehen wir großen politischen Kämpfen entgegen. Der Kampf, wie ihn bisher die deutsche Sozialdemokratie geführt hat, war für alle anderen Länder vorbildlich, wir müssen uns aber bewusst sein, dass er nur auf Parlamentarismus zugeschnitten war, und uns auf diesem Gebiete die Macht sicherte. Mit der Verschärfung des Kampfes und der Abwehr neuer Mittel geht eine Verschiebung der Machtverhältnisse zwischen der Masse draußen und den Vertretern vor sich. Das Bewusstsein der Massen, ihre Rechte auf der Straße erkämpfen zu müssen, macht es zu einer müßigen Frage, ob der Massenstreik für die Massen nützlich oder schädlich sei. Genau so überflüssig wird diese Frage werden, wie die früher diskutierte, ob man sich am parlamentarischen Leben beteiligen wolle. Charakteristisch für die Bekämpfer des politischen Massenstreiks seien die Ausführungen Frohmes in einer Hamburger Versammlung, wo er so eindringlich vor dem Spielen mit dem Feuer warnte, bei dem gegenwärtig so massenhaft angehäuften Zündstoff.

All die Fragen, womit die streikenden Massen gespeist werden sollen usw. seien durch das praktische Beispiel in Russland beantwortet. Auch die Angst der Gewerkschaften, dass durch solche Kämpfe die Organisationen leiden oder gar ruiniert werden könnten, zeugten von der Unkenntnis derartiger historisch notwendig gewordener Kämpfe. Es sei schon ein bedenkliches Zeichen, dass man in der deutschen Gewerkschaftsbewegung die Form für die Hauptsache zu betrachten anfange. Die versteinerten Ungetüme der englischen Trade Unions sollten doch warnende Beispiele sein. Seien nicht die deutschen Gewerkschaften im Kampfe groß geworden? Alle vom Sozialistengesetz bis auf die Buchdruckerorganisation, die sich einer gewissen Klausel fügte, vernichteten Organisationen seien beim Fall desselben zehnfach verstärkt aus dem Kampf hervorgegangen. Die russischen Arbeiter hätten so gut wie keine Organisation beim Ausbruch der Revolution gehabt, und jetzt? Jetzt haben sie die Massen so geschult, dass sie auf einen Augenblick die Arbeit bald in dieser, bald in jener Stadt einstellen. Heute haben sie Organisationen, wenn auch erst im Rohbau, aber der Kern ist gut. Man könnte den deutschen Gewerkschaften etwas von dem Geiste wünschen. (Sehr richtig!)

Aus den Darlegungen geht hervor, dass wir die Dinge nicht einseitig mechanisch auffassen dürfen, und dass wir vor allem nicht nur die Inlandspolitik, sondern die Vorgänge im Ausland beachten müssen.

Wenn heute, aus einem der bekannten plötzlichen Entschlusse heraus, der russische Despotismus mit deutschen Bajonetten gerettet werden sollte, so könnte die deutsche Arbeiterschaft nicht ruhig zusehen, wie man das russische Volk um den Preis seiner Kämpfe betrügt, sie müsste Stellung nehmen, und welches Mittel da angewendet würde, lehrte die Situation.

Der Massenstreik muss nicht unbedingt beim Nehmen des Wahlrechts angewendet werden, es kommt ganz auf die Situation an.

Aber aufgeklärt über die ganzen Vorgänge muss die Arbeiterschaft werden, damit sie dem Wort des Revolutionärs gerecht werden kann: Bereit sein ist alles! (Stürmischer, langanhaltender Beifall.)

1 Nach dem japanisch-chinesischen Kriege hinderten die Großmächte Japan an der Ausnutzung seines Sieges.

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