Rosa Luxemburg 19020604 Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie

Rosa Luxemburg: Arbeiterbewegung und

Sozialdemokratie

[Erschienen in der „Leipziger Volkszeitung" am 4. Juni 1902. Nach Gesammelte Werke Band 4, 1928, S. 218-221, dort war irrtümlich der 4. Juli angegeben)]

Mitte dieses Monats wird der deutsche Gewerkschaftskongress in Stuttgart zusammentreten. Die diesjährige Tagung fällt so ziemlich mit einem äußerlichen Ruhepunkt in der Geschichte der Gewerkschaftsbewegung zusammen; die Krise, die seit Jahresfrist eingetreten ist, hat der Periode des wirtschaftlichen Aufschwungs in Deutschland ein vorläufiges Ende gemacht und damit auch die natürlichen Bedingungen der rapiden Aufwärtsbewegung der Gewerkschaften in den sieben fetten Jahren der industriellen Prosperität verschlechtert. In der gewaltigen Kraftanstrengung der Ausbreitung des gewerkschaftlichen Gedankens und der vielfachen Neubildungen innerhalb der Gewerkschaften ist eine natürliche Ruhepause eingetreten, die zum Rückblick auf die vollbrachte Arbeit, „die größte Leistung der deutschen Arbeiterschaft im vergangenen Jahrzehnt", wie überhaupt zu Betrachtungen allgemeiner Art über das Verhältnis und die Zusammenhänge von Gewerkschaftsbewegung, Sozialdemokratie und Arbeiterbewegung wohl reizen mag. Während nun die notwendige zahlenmäßige Unterlage zu solchen Räsonnements von der Generalkommission der Gewerkschaften mit anerkennenswertem Fleiß und umfassendem Überblick geliefert wird, gefallen sich gewisse Betrachtungen allgemeiner Natur darin, unter souveräner Missachtung des gebotenen Materials, die Begriffe Gewerkschaftsbewegung, Sozialdemokratie und Arbeiterbewegung in Beziehungen zu setzen, die den ganzen Traditionen und der positiven Geschichte der Bewegung schnurstracks zuwiderlaufen. Es handelt sich ja dabei meist um Spielereien mit abstrakten Begriffen, denen jeder –, nach uraltem deutschen Gelehrtenbrauch –, willkürlich einen eigenen Inhalt gibt; allein für die Praxis der Bewegung ist solch einseitiges Philosophieren nicht selten eine bemerkenswerte Fehlerquelle und kann eine nicht unbedenkliche Verwirrung über die Ziele und den Geist der gewerkschaftlichen Bewegung zum tatsächlichen Ergebnis haben.

Die Diskussion über die Zusammenhänge zwischen Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie ist ausgegangen von einem Aufsatz des bürgerlichen Sozialpolitikers Dr. Freund in der „Sozialen Praxis", der sofort von der Gewerkschaftspresse aufgegriffen und in Zusammenhang mit dem älteren „Neutralitätsproblem" der Gewerkschaffen erörtert wurde. Wir können nicht bekennen, dass wir von dem Verlauf der Diskussion besonders befriedigt gewesen wären, und sind es auch nicht von dem Artikel des Genossen Heine im neuesten Heft der „Sozialistischen Monatshefte", wo diese Frage gewissermaßen im Einigungsverfahren friedlich geschlichtet und zu einem Vergleichsabschluss gebracht werden soll. Wir vermissen in der ganzen Diskussion vor allem eine präzise Abgrenzung der Sozialdemokratie gegen die Gewerkschaftsbewegung und eine scharf herausgearbeitete Darstellung des Grundcharakters dieser Partei.

Dass die Arbeiterbewegung nicht notwendig sozialistisch verläuft, lehrt schon ein summarischer Rundblick auf die Bewegung in anderen Ländern. In England sind Sozialismus und Arbeiterbewegung bis zum heutigen Tage nicht recht zusammengekommen; der englische Sozialismus hat seine Stätte vorwiegend in den Kreisen bürgerlicher Ideologen, und die Gewerkschaftsbewegung in England ist nun einmal nicht sozialistisch. In Frankreich ist der Gegensatz von Sozialismus und Arbeiterbewegung in die Arbeiterschaft selbst hinein gedrungen, und das ist die geschichtliche Quelle der tiefen Zerklüftungen innerhalb der französischen Arbeiterbewegung geworden. Das klassische Land der Zusammenschweißung von Arbeiterbewegung und Sozialismus ist Deutschland, wo der Sozialismus in der Sozialdemokratie seine Verkörperung, seine Wirklichkeit erlebt hat.

Darum ist aber die Sozialdemokratie noch lange nicht ohne weiteres eine einseitige Arbeiterpartei. Wo man die Sozialdemokratie in ihren positiven Lebensäußerungen, in ihrer Erscheinung betrachtet, deckt sie sich keineswegs ohne weiteres mit dem Begriffe einer bloßen Arbeiterpartei. Die sozialdemokratische Wählermasse von 2¼ Millionen Stimmen umfasst noch nicht mal das gesamte wahlfähige Industrieproletariat, das, knapp berechnet, immerhin drei Millionen Wähler zur Wahlurne stellt, und enthält zweifellos einen ganz erheblichen Bruchteil von kleinbürgerlichen und kleinbäuerlichen Elementen. Nicht einmal auf ihren Parteitagen, der reinsten Form ihrer Lebensäußerung, tritt die Partei als einseitige Vertreterin der industriellen Lohnarbeiterschaft auf; nicht weniger als zwei Parteitage haben sich mit saurem Schweiß um die Festsetzung eines Agrarprogramms bemüht1, und auf ebenfalls zwei Parteitagen ist ein gewisser Gegensatz zwischen der Sozialdemokratie und der Gewerkschaftsbewegung2, die doch die gegebene Form einer ausschließlichen Arbeiterbewegung sein müsste, zur Sprache und zum Austrag gekommen. Auch die sozialdemokratische Reichstagsfraktion und die Landtagsfraktionen treiben nicht einseitige Arbeiterpolitik, sie stehen der bürgerlichen Sozialreform mit äußerstem Misstrauen gegenüber; sie haben der ganzen Arbeiterschutzgesetzgebung zu Anfang der 90er Jahre ihre Zustimmung verweigert, und sie haben auf der anderen Seite gegen Bestrebungen allgemein politischer Natur, an der die Industriearbeiterschaft zunächst nur unmittelbares Interesse hat – so bei der lex Heinze3 –, die äußersten parlamentarischen Mittel zur Anwendung gebracht. Eine bloße Arbeiterpartei könnte sich begnügen, die sozialen Funktionen des Staates zu vermehren und die übermäßige Belastung der arbeitenden Klasse durch direkte und indirekte Steuern abzuwehren, wie dies beispielsweise die Arbeitervertreter im britischen Parlament – freilich auch nicht immer – tun.

Es ist überhaupt im letzten Jahrzehnt, nicht ohne die Einwirkung der aufsteigenden Gewerkschaftsbewegung, eine Art von Missbrauch geworden, immer einseitig den Industriearbeiter herauszukehren, von der „Hebung der Arbeiterschaft" zu sprechen und darüber das alte Kampfwort von der „Befreiung der Arbeiterklasse" ganz zu vergessen. Unsere geistigen Vorkämpfer haben nicht soviel von der „Arbeiterschaft" geredet, umso mehr vom Proletariat. Zum Proletariat gehört wohl in erster Linie die Lohnarbeiterschaft als die ausgebeutete und unterdrückte Klasse sans phrase; dazu gehören aber auch Bevölkerungsschichten mit ökonomisch zwieschlächtigem Charakter, wie Kleinbürger und Kleinbauern, die, insoweit sie proletarische Interessen gegen ihre Ausbeuter und gegen die Klassenherrschaft des Staates haben, sehr wohl in die Agitation der Sozialdemokratie mit inbegriffen und in der gesetzgeberischen Tätigkeit der Partei vertreten werden können. Der Begriff des Proletariats gibt zugleich in diesem einen Wort die ganze Gesellschaftsanschauung des Sozialismus wieder, der die Sozialdemokratie in den Parlamenten nicht schlechthin „Arbeiterpolitik", sondern nur solche Arbeiterpolitik machen lässt, die sich in der Richtung des Klassenkampfcharakters der Partei bewegt. Von diesem Gesichtspunkt aus finden die verschiedenen Antinomien (Gegensätze) zwischen Sozialdemokratie und Arbeiterpolitik ihre ganz selbstverständliche Lösung.

Wie steht es aber mit der Gewerkschaftsbewegung? Diese ist in Deutschland in geschichtlichem Zusammenhang und geistiger Einheit mit der Sozialdemokratie groß geworden, und die Bestrebungen, sich von der Partei zu emanzipieren, sind verhältnismäßig jüngeren Datums. Sie steht im Großen und Ganzen, soweit sie in den großen Verbänden organisiert ist, auf dem Boden des Klassenkampfes, und der deutsche Polizeistaat sorgt unermüdlich durch gesetzgeberische Attentate, wie das preußische Vereinsgesetz und die Zuchthausvorlage, durch Löbtauer Urteile und sinnige Auslegung des Erpressungsparagraphen dafür, der Gewerkschaftsbewegung diesen Klassenkampfcharakter einzupauken. Immerhin hat das riesige Anwachsen der gewerkschaftlichen Bewegung –, in den Jahren des Aufschwungs haben die Gewerkschaften ihre Mitgliederzahl verdreifacht, ihre Einnahmen fast verzehnfacht und ihre Ausgaben verfünffacht –, den Bestrebungen der „Neutralität" täglich Nahrung gegeben, und die andere Strömung, die auf Emanzipation vom sozialdemokratischen Denken hinzielende Bewegung ist bereits unverkennbar geworden. Weniger der überspannte Machtdusel der Überökonomisten vom Schlage der Kampffmeyer ist den Gewerkschaften zu Kopf gestiegen, als der Gedanke, durch einheitliche Zusammenfassung aller gewerkschaftlichen Bestrebungen die rein wirtschaftlichen Ziele der Bewegung in ungeahnter Weise ihrem Ziele näherzubringen. Zugleich hat sich mit der Füllung der Kassenschränke eine Erscheinung geltend gemacht, für die der Pfarrer Naumann sofort einen feinen Fühler hatte. Er machte die Bemerkung, dass durch die Aufhäufung von großen, aus Arbeitergroschen mühsam zusammengebrachten Geldmitteln das Verantwortlichkeitsgefühl der leitenden Personen in den Gewerkschaften wachse und die Streiklust sogar bei den Organisationen selbst in dem Maße abnehme, je größere Mittel sie bei einem Kampf zu riskieren haben. Naumann empfahl daher die Gewerkschaften dem Schutze einer staatserhaltenden, staatsmännischen Gesetzgebung, um ihre organische Verfettung zu fördern und die also zu Staatstreue gezähmten Organisationen für seine nationalsozialen Zukunftsprojekte verwerten zu können. Das Schlagwort von der „positiven Arbeit" fand auch bei den Gewerkschaftlern zahlreiche Anhänger, und die deutsche Gewerkschaftsbewegung des letzten Jahrzehnts hat in der einseitigen Macht- und Erfolgspolitik viel erheblichere Erscheinungen aufzuweisen als die deutsche Sozialdemokratie, trotzdem der Parlamentarismus bekanntlich die Hochschule der Kompromisse ist und die Politik der Erfolge der natürlichen Lebhaftigkeit der politischen Partei eigentlich näherliegen sollte als. der nüchternen Gewerkschaftsbewegung.

Der bevorstehende Gewerkschaftskongress wird zeigen, wie die „ideelle Rückspiegelung" der Krise in der Gewerkschaftsbewegung aussieht. Wir glauben die deutsche Gewerkschaftsbewegung zutreffend zu beurteilen, wenn wir erwarten, dass die schweren, entscheidungsvollen Zeiten, denen die gesamte Arbeiterbewegung in Deutschland entgegengeht, auch dieser Bewegung die vorbehaltlose Rückkehr zu den guten alten Traditionen nahelegen werden.

1 Frankfurt 1894 und Breslau 1895. Vergleiche Gesammelte Werke, Band III, Seite 12.

2 Köln 1893 und Gotha 1896.

3 Vergleiche Gesammelte Werke, Band III, Seite 478ff.

Kommentare