Rosa Luxemburg 18930900 Der Gewerkschaftskongress in Belfast 1893

Rosa Luxemburg: Der Gewerkschaftskongress in Belfast 1893

[Erschienen In der „Sprawa Robotnicza" („Arbeitersache"), Paris, September-Oktober 1893. Nach Gesammelte Werke Band 4, 1928, S. 190-194]

In England fand am 9. September in Belfast (Irland) der sechsundzwanzigste Gewerkschaftskongress statt. Dieser Kongress spielt eine außerordentliche Rolle in der Geschichte des englischen Proletariats und des Proletariats überhaupt. Es versammelten sich 380 Delegierte der verschiedenen Gewerkschaften, die formell 900.000 organisierte Arbeiter repräsentierten+. Aus dem Bericht des sogenannten Parlamentsausschusses, dessen Zweck es ist, im englischen Parlament für die Arbeiter günstige Gesetze zu erwirken, ist ersichtlich, welche Macht die Arbeiter in England heute schon darstellen und welchen Einfluss sie auf die Gesetzgebung ausüben. Wir wollen hier nur einige Gesetze erwähnen, die im Laufe des letzten Jahres von den Arbeiterverbänden erlangt wurden:

1. Das Gesetz über die Wählbarkeit der Arbeiter zu Friedensrichtern (es sind schon 70 gewählt) und zu Mitgliedern der staatlichen Armenfürsorge. 2. Vergrößerung der Fabrikinspektion und die Einführung von Arbeitern und Frauen in diese. 3. Verbesserungen im Arbeitsdepartement des Finanzministeriums. Dieses Departement besitzt gegenwärtig die Aufgabe, Nachrichten über die Arbeiter- und Arbeitsverhältnisse im ganzen Lande einzuziehen und diese den Gewerkschaften zu übermitteln. Zu diesem Zwecke gibt es eine besondere amtliche „Arbeitszeitung", die unentgeltlich sämtlichen Gewerkschaften zugestellt wird. 4. Die Regelung des Arbeitstages für den Eisenbahndienst auf ungefähr zehn Stunden täglich, mit einer Strafbestimmung für die Eisenbahngesellschaften im Falle der Überschreitung dieser Vorschrift bis zu 1000 Rubel täglich.

Einen derartigen Einfluss haben die Arbeiterorganisationen auf die Regierung. Der gegenwärtige Kongress stellte jedoch die englischen Gewerkschaften endgültig auf ein neues Geleise, wodurch ihre Bedeutung verhundertfacht wird. Um die Beschlüsse dieses Kongresses zu begreifen und richtig einzuschätzen, müssen wir einiges über den bisherigen Charakter der Gewerkschaften überhaupt sagen.

Wir erwähnten schon mehrfach die Trade Unions, d. h. die Gewerkschaften in England. Es ist dies die größte Fachorganisation in der Welt. Sie besteht bereits seit ungefähr 70 Jahren, umfasst anderthalb Millionen Arbeiter, besitzt ungeheure Kapitalien in ihren Kassen und konzentriert in sich seit einem halben Jahrhundert fast das gesamte Leben des englischen Proletariats. Die englischen Gewerkschaften unterscheiden sich von den anderen, beispielsweise französischen Gewerkschaften dadurch, dass sie deren sozialistische Ansichten nicht teilen. Die ihnen angehörenden Arbeiter glaubten an die Unvergänglichkeit und Notwendigkeit der kapitalistischen Ordnung und andererseits an die Möglichkeit, in dieser Ordnung ihr Schicksal gründlich zu verbessern. Ferner glaubten sie, dass sie diese Besserung ihrer Lage ausschließlich durch den Kampf gegen die Kapitalisten, ohne jegliche Intervention der Regierung, erlangen werden. Endlich fühlten sie sich gegenüber den Massen der ärmeren Arbeiter in England, als auch gegenüber den Arbeitern aller anderen Länder als eine in sich abgeschlossene kleine Welt, die ohne jene vorzüglich auskommen könne und die nichts Gemeinsames mit jenen hat. Wie wir sehen, sind dies rein bürgerliche Begriffe, da auch die Bourgeoisie fest an die Unvergänglichkeit ihrer Vorherrschaft glaubt und sich der Intervention der Regierung in ihre Beziehungen zu den Arbeitern widersetzt und die internationale Klassenvereinigung des Proletariats wie das Feuer fürchtet. Infolge dieser Geistesverfassung standen die englischen Gewerkschaften in der Politik völlig unter dem Einflusse der Bourgeoisie und dienten einmal dieser, ein andermal jener bürgerlichen Partei. Da sie den Gegensatz der Arbeiter- und Kapitalisteninteressen nicht anerkannten, fanden sie es nicht für nötig, eine besondere Arbeiterpartei zu gründen und einen politischen Kampf gegen die Bourgeoisie zu führen.

Dies war lange Zeit hindurch ein großes Hindernis für die Entwicklung des Sozialismus. Während in Deutschland die Arbeiter zu Hunderttausenden schon unter sozialdemokratischer Fahne standen, während die Gewerkschaften in Frankreich zu Hunderten sozialistische Grundsätze anerkannten, blieb das englische Proletariat hartnäckig an seinen alten bürgerlichen Vorurteilen haften und wollte aus der engen Gasse der Gewerkschaft nicht hinaustreten. Das Leben überzeugt jedoch auch den Hartnäckigsten. In letzter Zeit verlor England, dank der industriellen Entwicklung anderer Länder, seine Vorherrschaft auf dem Weltmarkte. Die Geschäfte der englischen Kapitalisten begannen weniger glänzend zu gehen, und sie wurden viel geiziger mit ihren Zugeständnissen an die Arbeiterschaft. Die Aussicht, eine bedeutende Besserung der Lebenslage auf gewerkschaftlichem Wege zu erlangen, wurde für das englische Proletariat immer schwächer, und so bereitete sich der Boden für eine stärkere Revolutionierung der Arbeiter vor.

Vor allem mussten die Gewerkschaften schon seit langem ihren Widerwillen gegen die Einmischung der Regierung in ihre Angelegenheiten beiseite legen, mussten sogar selbst mit aller Kraft die Einführung verschiedener Gesetze von der Regierung fordern, so Arbeiterversicherungsgesetze, Fabrikgesetzgebung usw., sie betraten damit den Weg des politischen Kampfes. Ferner mussten sie trotz ihres Widerwillens immer häufiger mit Dank die Unterstützung der Arbeiterschaft anderer Länder in Streikfällen annehmen, und oftmals fühlten sie, dass sie ohne diese Hilfe nichts erlangen würden. Das war praktischer Unterricht in internationaler Solidarität. Jedoch auch diese Solidarität wollten die Gewerkschaften bis vor kurzem auf ihre eigene – und nicht sozialistische Weise verstehen. Gezwungen, sich unwillkürlich der Maimanifestation um den achtstündigen Arbeitstag anzuschließen, – einer Manifestation, die von den Sozialisten eingeführt und veranstaltet wurde, – feierten die englischen Arbeiter mit der ganzen Welt nicht den 1. Mai, sondern den ersten Maisonntag. Außerdem widersetzten sie sich hartnäckig jeder Einführung des achtstündigen Arbeitstages auf gesetzlichem und nicht privatem Wege, indem sie ihre Freiheit – ausgebeutet zu werden, zu bewahren suchten.

Da sie wussten, dass der Züricher Sozialistenkongress (1893) unter anderem auch den achtstündigen Arbeitstag und die Mittel zu seiner Erringung besprechen würde, – wollten die Gewerkschaften in demselben Jahre einen besonderen internationalen Kongress in dieser Angelegenheit nach England einberufen. Auf diese Weise wollten sie den Sozialisten die Führung der Agitation um den achtstündigen Arbeitstag entreißen und in ihre Hände nehmen. Hier aber bekamen die eitlen englischen Gewerkschafter zu fühlen, dass der internationale Sozialismus stärker ist als sie, und dass sie sich ihm unterwerfen müssen. Sämtliche sozialistischen Parteien protestierten gegen diesen englischen Kongress und luden die Engländer auf den sozialistischen Kongress nach Zürich ein, wodurch der Plan der Gewerkschafter zunichte gemacht wurde. Das waren die „alten Gewerkschaften" in England, die die am besten situierten und geistig rückständigsten Arbeiter umfassten. Im Jahre 1889 erscheinen unter dem Einflusse der sozialdemokratischen Agitation die „neuen Gewerkschaften", organisiert aus der breitesten Massen der armen, einfachen Arbeiter, wie die Arbeiter der Gaswerke, die Hafenarbeiter, die Eisenbahner. Diese Gewerkschaften sind unvergleichlich fortschrittlicher, fordern von Anfang an die gesetzliche Einführung des Arbeitstages, setzen sich für den politischen Kampf gegen die Bourgeoisie ein, geben viele Beweise für ihre internationale Solidarität und bilden die Hauptmasse der sozialdemokratischen Anhänger. Diese „neuen Gewerkschaften" erlangen einen immer größeren Einfluss auf die alten und führen das englische Proletariat langsam in das sozialistische Lager. Auf dem Züricher Kongress waren schon 65 englische Delegierte anwesend, die in allem übereinstimmend mit den Sozialisten stimmten.

Und nun wurden jetzt am 9. September auf dem Gewerkschaftskongress Beschlüsse gefasst, die in ganz Europa die einstimmige Meinung erweckten, die englischen Fachverbände haben endgültig den Weg des Sozialismus betreten. Dieses sind unter anderem folgende Beschlüsse: 1. Die Fachverbände wählen von nun an besondere und eigene Arbeiterdelegierte ins Parlament (statt wie bisher die Vertreter einer der bürgerlichen Parteien zu wählen). Zu diesem Zweck wird eine besondere Kasse gebildet, aus welcher die Abgeordneten in der Zeit ihrer Parlamentsarbeiten ein Gehalt beziehen werden, damit gerade die ärmsten Arbeiter ihre Zeit darauf verwenden können; 2. Nur ein Sozialist kann Arbeiterabgeordneter werden und sein Gehalt aus dieser Kasse beziehen; 3. Die Gewerkschaften werden die Einführung des achtstündigen Arbeitstages auf gesetzlichem Wege und obligatorisch fordern; 4. Die Maidemonstration wird höchstwahrscheinlich am 1. Mai, gemeinsam mit der ganzen sozialistischen Arbeiterwelt, begangen werden.

Von den anderen weniger wichtigen Beschlüssen des Kongresses erwähnen wir noch die Anordnung, sämtliche Verbände ein und desselben Faches im ganzen Lande zu einer einheitlichen Organisation zu vereinen; ferner die Forderung der Regierungsunterstützung im Falle der Arbeitslosigkeit; ferner den Beschluss, dass gewerkschaftlich organisierte Arbeiter sich gemeinsamer Arbeit mit unorganisierten Arbeitern zu widersetzen haben, um die letzteren auf diese Weise zu veranlassen, in die Reihen der Gewerkschaften zu treten. Der Kongress brachte ebenfalls seine glühende Sympathie für die streikenden englischen Bergarbeiter zum Ausdruck und veranstaltete für diese eine Geldsammlung.

Somit ist – wie wir dies aus den wichtigsten Beschlüssen des Gewerkschaftskongresses ersehen –- auch diese Festung erobert! Der gewaltigen sozialistischen Armee tritt eine neue starke Truppe bei: die englischen Arbeiter. Man darf nicht denken, dieser Umschwung sei plötzlich im letzten Jahre eingetreten. Schon seit drei Jahren zeigen die gewerkschaftlichen Kongresse eine stufenweise und ständige Entwicklung in der Richtung zum Sozialismus*. Ein großes Verdienst haben in dieser Hinsicht, wie gesagt, die „neuen Gewerkschaften" und die energische Agitation der englischen Sozialdemokraten. Der gegenwärtige Kongress formulierte nur und zeigte das, was schon seit langem in den inneren Verhältnissen der Arbeiterschaft in England vor sich ging.

So dringen die Strahlen des Sozialismus mit unwiderstehlicher Kraft in alle Winkel der Arbeiterwelt. Die prächtige Sonne der künftigen Erlösung steigt langsam, aber unaufhaltsam empor.

+ Wir führen die wichtigsten der vertretenen Verbände und die Zahl ihrer Mitglieder an nach den Berichten der Kongressteilnehmer. In Wirklichkeit sind die Verbände bedeutend größer.

Fach

Zahl der Mitglieder

Bergbau

200000

Eisen- und Stahlfabrikation

165000

Textilindustrie

125000

Maschinenfabrikation

115000

Bauarbeiter

106000

Transportarbeiter

90000

Konfektionsarbeiter

81000

Gas und Chemie

65000

Schiffbau

52300

Drucker und Buchbinder

35000

Tischler

13000

* Hier die Zusammenstellung der Ergebnisse der Stimmenabgabe auf drei Kongressen über das Projekt der Einrichtung von Kassen für sozialistische Arbeiterabgeordnete zum Parlament:

Es stimmten

für

gegen

1890 In Liverpool

55

363

1892 in Glasgow

128

153

1893 in Belfast

137

97

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