Rosa Luxemburg 18940900 Der Gewerkschaftskongress in Norwich 1894

Rosa Luxemburg: Der Gewerkschaftskongress in Norwich 1894

[Erschienen in der „Sprawa Robotnicza" („Die Arbeitersache"), Paris, September-Oktober 1894. Nach Gesammelte Werke Band 4, 1928, S. 203-208]

Der diesjährige Kongress der englischen Gewerkschaften fand in Norwich vom 3. bis zum 18. September statt. Es waren 378 Delegierte von 179 verschiedenen Fachverbänden, die zusammen 1.100.000 Mitglieder zählen, anwesend. Sowohl durch die Anzahl ihrer Mitglieder, wie auch in bezug auf die organisatorische Macht, finden die englischen Fachverbände nicht ihresgleichen in der Welt. Nirgends gelang es den Fachverbänden, eine derartige Besserung des Daseins zu erlangen, wie in England, und nirgends stellen sie eine derartige, von allen anerkannte Kraft dar. Kein Fabrikant und kein Unternehmerverband wagt es in England, den Arbeiter zum Austritt aus dem Verbande zu zwingen, wie dies in Deutschland, in Frankreich usw. geschieht. Im Gegenteil, in sämtlichen Fällen von Streitigkeiten mit den Arbeitern hat es der Fabrikant mit dem Verbande, nicht aber mit dem einzelnen Arbeiter zu tun. Nicht nur die Fabrikanten, sondern auch die Regierung betrachtet die Fachverbände als eine Macht, die man fürchten muss. Die Regierung hört die Forderungen der Fachverbände aufmerksam an und muss sie, gern oder ungern, erfüllen. Die Beschlüsse und die Forderungen der Verbandstage werden mit der Zeit fast zu Staatsgesetzen. Man kann sagen, dass der Verbandstag ein Arbeiterparlament darstellt, welches dem bürgerlichen Regierungsparlament Gesetze zugunsten der Arbeiterschaft diktiert.

Die englischen Gewerkschaften besitzen ein besonderes Komitee, dessen Pflicht es ist, die Annahme der Forderungen des Verbandstages im Parlament durchzuführen. Es wird das parlamentarische Komitee genannt, alljährlich auf dem Verbandstage aus der Zahl der anwesenden Delegierten gewählt und besteht zum Teil auch aus den Arbeiterabgeordneten des Parlaments. Alljährlich erstattet es vor dem Kongress Bericht über seine Tätigkeit, über die Tätigkeit des Parlaments und der Regierung zugunsten der Arbeiter, über die Fortschritte der Entwicklung der Gewerkschaft usw. Nach dem Bericht auf dem Kongress in Norwich erlangten die Arbeiter im verflossenen Jahr folgende Zugeständnisse von der Regierung: die Zahl der Fabrikinspektoren wurde abermals um 10 vergrößert, von denen 8 Arbeiter und 2 Frauen sind, zur Aufsicht in denjenigen Industriezweigen, wo viele Frauen arbeiten. Die Ernennung von Arbeitern zu Fabrikinspektoren ist ein sehr wichtiges Zugeständnis, das die Regierung den Gewerkschaften gewähren musste. Heutzutage gibt es nur in England Arbeiter im Amte von Fabrikinspektoren*. Auf die Forderung der Arbeiterverbände hin zwingt ferner die Regierung die Unternehmer, von denen öffentliche Arbeiten übernommen werden, den Arbeitern Löhne zu zahlen, die vom Arbeiterverbande des gegebenen Faches festgelegt werden. Endlich haben im Laufe des vorigen Jahres 90.000 Arbeiter den achtstündigen Arbeitstag erkämpft, darunter sämtliche Arbeiter der Staatsunternehmen, wobei die Regierung gleichzeitig den Lohn um den Gesamtbetrag von 300.000 Rubel jährlich erhöht hat.

Die Arbeiterverbände begnügen sich nicht mit der Einführung des achtstündigen Arbeitstages auf dem Wege des Kampfes gegen die Unternehmer. Seit langem fordern sie die Einführung des achtstündigen Arbeitstages für alle Arbeiter auf dem Wege des obligatorischen Gesetzes. Der Kongress in Norwich bestätigte noch einmal diese Forderung. Der achtstündige Arbeitstag ist vor allem für die Bergarbeiter von größter Wichtigkeit. Am Anfang des laufenden Jahres legten die Vertreter der Fachverbände im Parlament ein Gesetz vor, das den achtstündigen Arbeitstag für die Bergarbeiter festsetzte. Die Vorlage wurde angenommen, jedoch fügten die bürgerlichen Abgeordneten des Parlaments, die dort in der Mehrheit sind, die Bedingung hinzu, dass das Gesetz nur in denjenigen Gegenden in Kraft treten solle, wo die Mehrheit der Bergleute sich dafür entscheidet; wenn dagegen die Mehrheit gegen das Gesetz stimmt, bleibt alles beim alten. Auf diese Weise suchten die bürgerlichen Abgeordneten die wichtigste Bestimmung dieses Gesetzes –, die obligatorische Einführung des achtstündigen Arbeitstages für den Bergbau –, zunichte zu machen. Die Unternehmer könnten in der einen oder der anderen Weise die nichtorganisierten Bergleute zur Stimmenabgabe gegen das Gesetz zwingen. Daher zogen es die Vertreter der Fachverbände vor, die Gesetzvorlage zurückzuziehen. Gegenwärtig wurde auf dem Kongress in Norwich beschlossen, das parlamentarische Komitee solle das Gesetz abermals im Parlament einbringen und seine Annahme ohne jegliche Änderung erwirken.

Der wichtigste Beschluss der Norwich-Konferenz war eine Resolution zugunsten des Sozialismus. Bis vor kurzem wollte der weitaus größere Teil der englischen Arbeiterverbände nichts vom Sozialismus hören. Dank den Erleichterungen, die sie im Kampfe gegen die Ausbeuter erlangten, nahmen sie an, die Arbeiter können auch unter der Herrschaft der Kapitalisten bequem leben. Sollen die Kapitalisten ruhig das Land, die Fabriken, die Gruben besitzen, wenn nur die Arbeiter dabei gut verdienen und einen kurzen Arbeitstag haben. So dachte die Mehrzahl der englischen Arbeiter. Im Laufe der Zeit bemerkten sie jedoch, dass die Zahl der Arbeitslosen selbst unter den organisierten Arbeitern, selbst unter den Mitgliedern der Gewerkschaften, ständig zunahm, gar nicht zu reden von der Arbeitslosigkeit unter den übrigen, gewerkschaftlich nicht organisierten Arbeitern. Auf Gnade und Ungnade den Ausbeutern ausgeliefert, den Schutz der Gewerkschaften nicht genießend, erduldeten die unorganisierten Arbeiter eine immer größere Ausbeutung während der Arbeit und immer größeren Hunger und wachsendes Elend während der Arbeitslosigkeit. Die Zunahme der beschäftigungslosen Arbeiter und die langen Perioden der Arbeitslosigkeit sind eine Folge der bestehenden sozialen Verhältnisse. In sämtlichen Ländern, wo es eine Großindustrie gibt, nimmt die Zahl der unbeschäftigten Arbeiter aus folgenden Gründen immer mehr zu: Erstens ruinieren die großen Industrieunternehmen durch die Konkurrenz die selbständigen Handwerker, und die Großgrundbesitzer ruinieren den Kleinbesitzer und den Bauern. Die bankrotten Handwerker und Bauern sind gezwungen, Lohnarbeit zu suchen. Die Zahl der Arbeiter nimmt außerdem zu, weil Frauen, Minderjährige und sogar Kinder in die Fabrik zur Arbeit gehen. Zweitens benötigen die Kapitalisten relativ immer weniger Arbeiter, da sie, um möglichst hohen Profit zu ziehen, Maschinen einführen, durch die sofort Zehn- und Hunderttausende von Arbeitern arbeitslos werden. Dasselbe geht in sämtlichen kapitalistischen Ländern vor sich. Drittens nimmt die Menge der abzusetzenden Waren dank den Maschinen ständig zu, gekauft wird aber relativ immer weniger, da die Bevölkerung verarmt und keine genügende Kaufkraft besitzt. Es zeigt sich also, dass die Zahl der Arbeiter immer mehr zunimmt, während die Kapitalisten immer weniger Arbeiter brauchen. Auf diese Weise gibt es in sämtlichen kapitalistischen Ländern ständige Reservearmeen aus unbeschäftigten Arbeitern, die bereit sind, für ein trockenes Stückchen Brot Arbeit zu leisten, um dem Hungertode zu entgehen. Dieser Umstand hat auch sehr üble Folgen für diejenigen, die Beschäftigung haben. Die Kapitalisten suchen den Arbeitslohn herabzusetzen, da sie wissen, dass sie immer Hungernde finden, die bereit sind, für jeden Lohn zu arbeiten.

Vor 15 bis 20 Jahren war jedoch die Lage der englischen Arbeiter bedeutend besser als die der Arbeiter anderer Länder. England war damals der erste und der wichtigste Industriestaat der Welt. Die englischen Fabrikanten verkauften ihre Erzeugnisse in allen Weltteilen, ohne zu wissen, was Konkurrenz ist. Infolgedessen konnten sie ihre Fabriken ständig erweitern und ununterbrochen produzieren. Die Arbeiter verdienten ständig, und die Mitglieder der Gewerkschaften hatten sogar sehr hohe Löhne. So war es, aber so ist es nicht mehr. Im Laufe der Zeit entwickelte sich die Großindustrie auch in anderen Ländern, in Deutschland, in Frankreich, in Amerika. Nicht nur, dass diese Länder aufhörten, englische Erzeugnisse zu kaufen, sie begannen ihre eigenen Erzeugnisse nach dem Ausland zu bringen. Der Absatz der englischen Produkte wurde dadurch stark eingeschränkt, und die englischen Arbeiter bekamen sämtliche Plagen der kapitalistischen Wirtschaft zu fühlen: Verminderung der Löhne, periodische Arbeitslosigkeit und Hungersnot. Dieses Schicksal verschonte selbst die Gewerkschaften nicht. Auch in ihnen wurde die Zahl der Arbeitslosen immer größer. Es wurde ihnen schwer, jene Vorteile zu sichern, die sie früher erlangt hatten. Es ist eine bekannte Tatsache, dass, wenn die Einkünfte des Kapitalisten um einen Pfennig kleiner werden, er danach trachtet, den Arbeitern eine Mark abzupressen, und so sahen sich manchmal auch die Arbeiterverbände gezwungen, einige ihrer Vorteile preiszugeben und einer Herabsetzung der Löhne zuzustimmen. Da begannen die englischen Arbeiter, sich die Sache zu überlegen. Sie hatten sich überzeugt, dass die Gewerkschaften allein nicht genügen. Sie sahen, dass ihre Lage genau dieselbe ist, wie die aller Arbeiter in den anderen Ländern, und dass sie infolgedessen genau so handeln müssen, wie die organisierten Arbeiter anderswo handeln. Die Gewerkschaftsverbände allein genügen nicht: Es ist ein selbständiger politischer Kampf gegen die Kapitalisten um die Macht im Lande nötig, um Gesetze zugunsten der Arbeiterschaft zu erlangen, hauptsächlich aber, um, wenn die Zeit reif ist, die gesamte heutige Ordnung zu zertrümmern, sämtliche Einrichtungen zugunsten der Arbeiterschaft umzustellen und die Arbeiterschaft vollkommen von der Ausbeutung durch die Bourgeoisie zu befreien. Dies lässt sich nur durch den Sozialismus erlangen, d. h. durch die Übernahme sämtlicher Produktionsmittel des Landes: der Fabriken, der Bergwerke, der Eisenbahnen usw. in den gemeinsamen Besitz aller Werktätigen. Der Sozialismus stellt das endgültige Ziel aller Arbeiter in allen Ländern dar. Der Sozialismus ist auch das Ziel der englischen Arbeiter geworden. Der Kongress in Norwich nahm den Beschluss an, er erachte es für notwendig, dass sämtliche Produktionsmittel und Geräte, Land, Bergwerke, Fabriken usw. in den gemeinsamen Besitz der gesamten Gesellschaft übergingen. Für diesen Beschluss stimmten 219 Delegierte und nur 61 dagegen.

Ein ähnlicher Beschluss zugunsten des Sozialismus wurde zum ersten Mal vom Kongress der Gewerkschaften im vergangenen Jahr angenommen. Damals stimmten jedoch nur 137 Delegierte dafür und 97 dagegen. Im Laufe von einem Jahr gewann der Sozialismus unter den englischen Arbeitern derart an Ausdehnung, dass die Zahl der Stimmen zu seinen Gunsten sich fast verdoppelt hat. Der Kongress in Norwich zeigt, dass die englischen Verbände entschlossen den Weg des Sozialismus betreten haben, dass sie in die Reihen der internationalen proletarischen Armee getreten sind, die für die völlige Befreiung der Arbeiterklasse, für den Sozialismus kämpft. Die Gewerkschaften stellen die Elite der gesamten englischen Arbeiterklasse dar, sind deren bester und stärkster Sturmtrupp. Ihrem Beispiel werden auch die übrigen englischen Arbeiter folgen und sich im klassenbewussten Kampfe um das sozialistische Banner scharen.

Wir wollen noch einige wichtige Beschlüsse dieses Kongresses anführen. Der Kongress beauftragte das parlamentarische Komitee, im Parlament eine Gesetzesvorlage einzubringen für die Zahlung von Diäten an die Mitglieder des englischen Parlaments. Dies liegt im Interesse der Arbeiter, da es ihnen ermöglicht, ihre eigenen Genossen, die keine Mittel zum Leben haben, und daher auf Fabrikarbeit angewiesen sind, ins Parlament zu schicken. Ferner forderte der Kongress, dass sämtliche Arbeiter zur Erfüllung ihrer Bürgerpflichten als Geschworene in den Gerichten herangezogen werden und dafür eine Entschädigung in der Höhe von Pfund Sterling täglich erhalten.

Einen wichtigen Beschluss fasste dieser Kongress auch in Sachen der Arbeitsgesetzgebung. Wir sprachen schon von der Forderung des achtstündigen Arbeitstags. Außerdem forderte der Kongress, dass von der Regierung das bereits einmal verworfene Gesetz der Verantwortlichkeit der Kapitalisten für Unglücksfälle in den Betrieben abermals auf die Tagesordnung gesetzt werde. Dieses Gesetz wurde dahin ergänzt, dass die Verantwortlichkeit der Kapitalisten nicht nur eine pekuniäre, sondern auch eine strafgesetzliche sein müsse. Ferner fasste der Kongress eine Reihe von Beschlüssen, die die Einschränkung der Ausbeutung von Heimarbeitern, die Besserung der sanitären Verhältnisse in Bäckereien, in Kleinbetrieben, die Aufhebung jeglicher Art von Strafen und Lohnabzügen in Gestalt von Beleuchtungskosten, Abnutzung von Maschinen und Geräten usw. bezwecken. Außerdem wurden Beschlüsse gefasst über die Ausdehnung sämtlicher neuer Fabrikgesetze auch auf Wäschereien, auf Seeleute und Hafenarbeiter, auf Lager und Magazine. Endlich forderte der Kongress die Einstellung einer größeren Zahl von Fabrikinspektoren aus der Arbeiterschaft.

Der Kongress dachte auch an die Landarbeiter. Es gibt in England keine Kleingrundbesitzer. Das Land gehört einer geringen Zahl von Großgrundbesitzern; es wird von armen Landarbeitern, die keinen eigenen Grund und Boden besitzen, bearbeitet. Die Landarbeiter beginnen, sich schon in Gewerkschaften zusammenzuschließen, um gegen die Großgrundbesitzer zu kämpfen; das gelingt ihnen jedoch viel schwerer, als den Fabrikarbeitern. Sie wohnen auf dem Grund und Boden des Besitzers, in dessen Hause, und kaum beginnen sie den Kampf gegen die Ausbeuter, so wirft der Besitzer oder der Pächter den Arbeiter mit Frau und Kindern buchstäblich auf die Straße. Daher beauftragte der Kongress das parlamentarische Komitee, ein Gesetz einzubringen, das verbieten soll, die Landarbeiter des Obdaches zu berauben.

Alle diese Beschlüsse und Forderungen des Kongresses sind kein leeres Geschwätz. Die Regierung und das Parlament werden sich gezwungen sehen, alle diese Gesetze zu erlassen, so, wie dies mit früheren Beschlüssen der gewerkschaftlichen Kongresse der Fall war.

Nur einer Forderung wird das Parlament niemals genügen – es wird niemals den Sozialismus einführen; diese Forderung wird erst die Arbeiterklasse selber verwirklichen, wenn die ganze Macht, wenn die gesamte Gesetzgebung sich in den Händen der Arbeiterschaft befinden wird.

* In Frankreich sind erst unlängst aus der Mitte der Arbeiterschaft Inspektionsgehilfen gewählt worden, und auch dies nur im Bergbau; ihre Tätigkeit beschränkt sich jedoch nur auf die Aufsicht über die sanitären Verhältnisse in den Gruben.

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