Rosa Luxemburg 19031107 Der Sklaventanz in Frankfurt

Rosa Luxemburg: Der Sklaventanz in Frankfurt

[Erschienen in der „Neuen Zeit" am 7. November 1903. Nach Gesammelte Werke Band 4, 1928, S. 235-240]

Erscheinungen, wie der neuliche antisozialistische „Arbeiterkongress", können immer erst aus einiger Perspektive in ihrem Kern richtig erfasst werden, und wenn unsere Parteipresse in der Beurteilung dieses Ereignisses anfangs etwas schwankte unter dem unmittelbaren Eindruck des wirren Durcheinanders scharfmacherischer und halbsozialistenfreundlicher, urreaktionärer und schroff radikaler Töne der bunten Versammlung zu Frankfurt, so liegt der eigentliche Charakter der Veranstaltung heute, nachdem sie sich im Geiste der gesamten bürgerlichen Presse bespiegelt hat, klar zutage.

Das Seltsamste wohl, das jener seltsamen Gesellschaft im Frankfurter katholischen Vereinshaus passierte, ist, dass diejenigen, deren Lieblingsträume sie bruchstückweise in Erfüllung brachte, sie offenbar gar nicht erkannt und anerkannt haben.

In der Tat fanden hier verschiedene himmelstürmende Ideen des Antimarxismus ihre Rechnung: die Tarifgemeinschaft, die in Hannover für ein Stück Sozialismus erklärt worden war, und die politische Neutralität nach dem Geschmack des Korrespondenzblatts der Buchdrucker, die treuherzig offene Hand für den sozialpolitischen guten Willen der Posadowsky-Regierung und die nüchterne Realpolitik, die streng mit dem Möglichen rechnet, Huldigungstelegramme nach den Reden von Essen und Breslau schickt1, das grinsende Gespenst aber der Diktatur des Proletariats mit Abscheu und Weihwasser verscheucht. Und endlich auch das holde Ideal der Verachtung der Theorie feierte in Frankfurt seine Fleischwerdung: nicht der geringste Schatten der theoretischen Erkenntnis trübte die heitere Borniertheit und Stupidität der Zöglinge Stöckers und des Zentrums, nicht der leiseste Hauch des Idealismus störte das Geschäftsmäßige dieser biederen proletarischen „Interessenvertretung" mit Gott für König und Vaterland.

Und doch war es kein Missverständnis, wenn über diese schönen Dinge, die das probateste Mittel zur Aushöhlung der bestehenden Ordnung und zu ihrer Plombierung mit lauterem sozialistischen Golde darstellen sollten, ein Gratulationstelegramm des Bundes der Landwirte quittierte! Es war vielmehr der frische Klasseninstinkt, es war die Stimme der Blutsverwandtschaft einer „Interessengruppe" mit der anderen, die aus der so gut gemeinten und so undankbar aufgenommenen Depesche sprach.

Proletarische „Interessenvertretung" statt proletarischer Klassenkampf, darin gipfelt der ganze Gegensatz zwischen der bürgerlichen Sozialreform und der Sozialdemokratie, wie in letzter Konsequenz auch zwischen der Tendenz des Revisionismus und der marxistischen hergebrachten Auffassung innerhalb der Sozialdemokratie.

Die Bekämpfung der Sozialdemokratie hat seit jeher zwei verschiedene Formen angenommen. Die eine, primitive Puttkamersche Schule sieht in jeder Tarifgemeinschaft, in jeder harmlosen Genossenschaft bereits „ein Stück Sozialismus" und wittert deshalb hinter der einfachsten wirtschaftlichen Organisation der Arbeiter den Umsturz. Die andere, moderne Schule, in der auch Sombart2 nach zwanzig Vorbildern sich die Sporen verdienen wollte, sucht gerade in der Heraushebung und Förderung der wirtschaftlichen Tagesinteressen der Arbeiter das Mittel zur Bekämpfung ihrer politischen Klassenbestrebungen.

Mit dürren Worten spricht es ein Freisinnsblatt aus: „Die Freiheit, zur Erreichung gemeinsamer Ziele sich zu verbinden, ist ein Interesse jeder Klasse der Gesellschaft. Jede macht von dieser Freiheit Gebrauch, soweit sie sie besitzt. Der Bund der Landwirte, der Zentralverband der Industriellen, viele Hunderte von Ringen, Kartellen und Syndikaten liefern dafür beredtes Zeugnis. Wir wünschen und halten es für ein Erfordernis des öffentlichen Wohles, dass der Arbeiterklasse diese Freiheit in demselben Maße zuteil werde, wie jeder anderen." Die Organisation der Arbeiter auf den gleichen Boden mit dem Bunde der Landwirte oder dem Zentralverband der Scharfmacher – nicht mit den politischen Parteien, sondern mit den ökonomischen Interessenverbänden der Bourgeoisie zu stellen, das ist das einzige Mittel zur Bekämpfung der Sozialdemokratie, das den herrschenden Klassen nach dem gänzlichen Fiasko des Puttkamerschen Systems übrig geblieben ist und das ist auch der Gedankengang, aus dem heraus die Frankfurter Veranstaltung unter dem frischen Eindruck des Dreimillionensiegs der Sozialdemokratie geboren wurde.

Und was hat diese Probe aufs Exempel wieder bewiesen?

Politische Neutralität – das ist die schön klingende unverfängliche Losung, unter der die Schwenkung vom proletarischen Klassenstandpunkt zum Standpunkt der „Berufsinteressen" in Frankfurt, wie bei jedem dergleichen Versuche, vollzogen werden sollte. In der Praxis erwies sich diese Neutralität sofort als eine zweifellose Tatsache – gegenüber den verschiedenen bürgerlichen Parteien. Wie die englischen Tradesunionisten nicht bloß in ihrer Mehrheit den Liberalen, sondern in einem gewissen Teile mit souveränem Gleichmut auch den Torys politischen Heerbann leisten, ebenso hat sich die Versammlung in Frankfurt zu gleicher Zeit die huldvolle Anerkennung des Freisinns wie der Nationalliberalen, des Zentrums wie der Agrarier – und, wir müssen gestehen, aller mit gleicher Berechtigung – zugezogen.

Die einzige politische Partei, der gegenüber sich diese Neutralität, trotz der vereinzelten Verschleierungsversuche, deutlich in direkte Gegnerschaft verkehrt hat, war die Sozialdemokratie. Der Antisozialismus war hier offen, wie er stets versteckt ist, lediglich die andere Seite der Neutralität gegenüber den einzelnen bürgerlichen Parteischattierungen, wie das Unterschiedslos-Bürgerliche, das Stehen auf dem Boden der kapitalistischen Gesellschaft stets der wahre Kern und der einzige politische Inhalt der sogenannten „Neutralität" ist.

Vom Standpunkt einer aufs äußerste bedrängten Bourgeoisie kann man auch dieser Spekulation eine gewisse Pfiffigkeit nicht versagen. In der Tat ist es gerade dem Proletariat infolge seiner besonderen historischen Existenzbedingungen ganz unmöglich, reine Interessenpolitik nach dem leuchtenden Beispiel des Bundes der Landwirte zu treiben. Sofern es dies versucht, besorgt es im Grunde genommen, so paradox das klingen mag, nicht seine eigenen, sondern stets die Geschäfte seiner Gegner, der herrschenden Klassen.

Die Sache ist eigentlich so einfach wie das Einmaleins. Im Unterschied vom bürgerlichen Privatinteresse beruht das Interesse des Proletariats nicht auf dem Gegensatz zum Einzelkapitalisten oder einer Gruppe von Kapitalisten, sondern auf dem Gegensatz zum Kapitalismus als einer Gesellschaftsform, zum Staate als der politischen Organisation der Bourgeoisie. Praktisch äußert sich dies schon in der trivialen Erkenntnis, die jeder Gewerkschafter sich längst an den Sohlen abgelaufen hat, dass es eine Sisyphusarbeit ist, die materielle Lage der Arbeiter durch Lohnkämpfe und Arbeiterschutzgesetze bessern zu wollen, ohne gleichzeitig gegen die Zollpolitik, den Militarismus, die indirekten Steuern, gegen das ganze Wesen der herrschenden Klassen zu kämpfen.

Wenn deshalb unsere Gewerkschaften auch spezielle Organisationen zur Wahrnehmung der ökonomischen Gegenwartsinteressen darstellen, so ist ihre Politik auch in diesen Grenzen – und darin liegt das Geheimnis ihrer Macht wie ihrer glänzenden organisatorischen Erfolge – von der Einsicht in die historischen Bedingungen des Proletariats, vom Geiste des Klassenkampfes getragen, so wie ihre ganze Existenz auf die gleichzeitige Existenz der Sozialdemokratie zugeschnitten ist, mit der zusammen sie erst ein harmonisches Ganze bilden.

Tritt hingegen die wirtschaftliche Interessenvertretung der Arbeiter in Gegensatz zur Sozialdemokratie und an ihre Stelle, dann kann sie im besten Falle nur den Zweck erreichen, die kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse aus primitiven in geordnete zu verwandeln, also zu konsolidieren, und als solche Werkzeuge der Konsolidierung der Lohnsklaverei sind eben die konfessionellen Arbeitervereine und Gewerkschaften zusammengetreten.

Zum Glück finden die reaktionären Experimente mit der Arbeiterbewegung, so pfiffig sie auch ausgeklügelt werden mögen, darin ihre Korrektur, dass sie von Hause aus reine Utopien sind. Und die lustige Sinfonie schriller Misstöne, die zum Schluss der frommen Versammlung zu Frankfurt die einzelnen Chöre mit ihren christlichen, evangelischen und katholischen Strophen und Antistrophen gegeneinander zum besten gaben, hat auch diesmal gezeigt, dass alle Versuche, die Arbeiterschaft im Gegensatz zur Sozialdemokratie auf dem Boden der „berechtigten", das heißt vom Standpunkt der Kapitalherrschaft berechtigten Interessen zu einer kompakten, dauernden Berufsvertretung zu organisieren, ebenso viel Versuche sind, die Rechnung ohne den Wirt zu machen.

Die geschichtliche Entwicklung der Arbeiterklasse verläuft hier nämlich nach einer gerade entgegengesetzten Richtung, wie die der bürgerlichen Klassen. In der Bourgeoisie finden wir im Anfang ihrer historischen Laufbahn die Gruppierung nach großen politischen Gesichtspunkten und Idealen. Liberalismus, Demokratie, Republikanismus, die nationale Idee, das sind die Fahnen, um die sich das Bürgertum in seiner Jugend in politische Kaders ordnet. Sobald die Bourgeoisie zur Herrschaft gelangt ist und den alten Feind Feudalismus besiegt oder sich mit ihm abgefunden hat, beginnt die Durchlöcherung der parteipolitischen Zeltwände durch einzelne Gruppeninteressen, die sich auf dem üppigen Boden der überreifen bürgerlichen Klassenherrschaft herausbilden. Anderseits tritt aus dem Gehalt der Parteiprogramme gegenüber der kämpfenden Arbeiterklasse das Spezifische, Trennende immer mehr zurück. Parteien, wie die Nationalliberalen, der Freisinn, zerfallen und zerfließen mit den Konservativen im reaktionären Brei, dafür recken sich der Zentralverband der Industriellen, der Bund der Landwirte aus den Parteien mächtig empor.

Umgekehrt bei dem Proletariat. Erst die Erkenntnis der Klassenlage und der Klassenaufgaben, erst das politische, historische Moment, der Sozialismus, vermag auf einem bestimmten Reifegrad die zersplitterte Arbeiterklasse zu einer höheren Einheit zusammenzufassen. Vor dieser Einsicht wird die Arbeiterschaft durch den Konkurrenzkampf der kapitalistischen Wirtschaft in Berufs- und Interessengruppen zerklüftet, die vom Standpunkt des unmittelbaren Tagesinteresses, vom Standpunkt der Marktlage zur Solidarität mit dem Kapital und zum Gegensatz zueinander getrieben werden.

Diese heterogenen Elemente gerade dadurch zusammenfassen wollen, dass man sie auf ihre Tagesinteressen konzentriert, welche sie auseinanderbringen, und ihnen das Klassenbewusstsein abspricht, das sie aneinander kittet, dies Streben heißt ebenso viel, wie aus Flugsand feste Formen bilden zu wollen: sie zerrinnen unter der Hand. Gebilde, wie das im katholischen Haus zu Frankfurt soeben geborene, bleiben deshalb naturgemäß Eintagsfliegen, und mögen sie sich des Segens sämtlicher katholischer und evangelischer Hohepriester des Kapitals, mitsamt Bürgertum, Junkertum, Kaiser und Reich, erfreuen.

Es war lediglich der Gegensatz zur Sozialdemokratie, das Antisozialistische, das die gemischte Gesellschaft der Giesberts, Bärrn, Kloß und Molz, der gewandten katholischen Demagogen, der plumpen evangelischen Byzantiner und der antisemitischen Jünglinge vom Handlungsgehilfenverband zusammenbrachte. Aber die Negation einer Weltanschauung ist selbst noch keine Weltanschauung. Es gab auch keine einzige Frage, in der ein halbwegs konsequenter, einheitlicher Gesichtspunkt sich in der Versammlung durchgerungen hätte. Und als die zusammengetrommelten Antisozialisten der verschiedenen Observanzen auseinandergingen, waren sie über Mittel und Wege, Aufgaben und Ursachen der Arbeiterbewegung, über das A und O ihrer eigenen Lage genau so unklar und uneinig, wie sie gekommen waren.

Und so wird der Frankfurter Kongress in der Geschichte der Arbeiterbewegung eine Episode bleiben. Eine klägliche und widerliche Episode freilich.

Ist schon jede bürgerliche „Interessenvertretung" eine Erscheinung von zweifelhafter Anmut und gehört schon eine starke Dosis freisinnigen Geschmacks dazu, um Gebilde wie den Zentralverband der Industrieritter oder den ostelbischen Junkerbund, der den Thron und Altar stützt „und beträchtlich riecht nach Mist", für Erfordernisse des öffentlichen Wohles zu halten, so wirkt die brutale Beutepolitik dieser Organe in großem Sinne dadurch wenigstens versöhnend, dass sie den entsprechenden Ausdruck der tatsächlichen Interessen der entsprechenden Klassen bildet, wobei es nicht ihre Schuld, sondern eine Fügung der Geschichte ist, dass diese Interessen selbst nicht um ein Jota besser „riechen", als ihre berufene Vertretung. Aber unendlich tiefer steht eine „Arbeitervertretung", die aus der Maulwurfsperspektive ihrer platten und platt aufgefassten Tagesinteressen sich dem großen Befreiungszug ihrer eigenen Klasse entgegenwirft und sich zu Nutznießern des Verrats an der eigenen historischen Aufgabe konstituieren will.

Nichts Kläglicheres und Verächtlicheres als das Schauspiel einer Schar von Sklaven, die sich freiwillig zu Schutztruppen ihrer Herren gegen kämpfende Leidensgefährten formieren, die freiwillig mit fröhlichem Kettengeklirr den Tanz nach der Musik ihrer Treiber vollführen.

Wenn etwas von dieser Episode als positiver Gewinn für den Befreiungskampf des Proletariats zurückbleibt, so ist es der Umstand, dass sie noch einmal drastisch vordemonstriert hat: erhebend, versittlichend, kulturfördernd ist in der modernen Arbeiterbewegung nicht der auf den nackten Lohngewinn, auf die Züchtung von zufriedenen und satten Lohnsklaven gerichtete Sinn, sondern nur der Zusammenhang mit der Befreiungsbewegung der Arbeiter im Ganzen, mit des Klassenkampfes großem Endziel, das all das sittliche und geistige Licht ausstrahlt, das den proletarischen Interessenkampf mit der Glorie eines kulturhistorischen Prozesses umgibt.

1 Reden Wilhelms II. vom 15. November und 6. Dezember 1902. in denen er gegen die Sozialdemokratie hetzte und die Arbeiter aufforderte, zwischen sich und der Partei das Tischtuch zu zerschneiden.

2 Vergleiche Gesammelte Werke, Band III, Seite 221 ff.

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