Rosa Luxemburg 19140127 Die alte Programmforderung

Rosa Luxemburg: Die alte Programmforderung

[Erschienen in der „Sozialdemokratischen Korrespondenz" am 27. Januar 1914. Nach Gesammelte Werke Band 4, 1928, S. 258-261]

Wie jedes Mal, ist die sozialdemokratische Fraktion auch jetzt wieder auf dem Posten, um bei den Verhandlungen über das Reichsamt des Innern das düstere Bild des sozialen Elends zu entrollen. Hier steigen jedes Mal aus dem dunklen Schacht der kapitalistischen Ausbeutung schwarze Schatten empor, um der bürgerlichen Gesellschaft den unter ihren Füßen gähnenden Abgrund zu zeigen. Vorgänge wie Zabern1 sind die Blüten und Früchte. Hier, bei den Verhandlungen über Sozialpolitik, werden die Wurzeln bloßgelegt, aus denen der Giftbaum der heutigen Klassenherrschaft seine Säfte saugt. Maßlose, zuweilen 36-stündige Arbeitszeit; Millionen Überstunden am physischen und geistigen Leben der Massen gestohlen; Plackerei am Werktag und am Sonntag; das rücksichtslose Abrackern weiblicher und jugendlicher Kräfte bis ins zarte Kindesalter hinab; furchtbare Steigerung der Unfälle, die das Arbeitsfeld jährlich für Hunderttausende in ein Siechenhaus, für Zehntausende in einen Friedhof verwandeln; ein Heer von Antreibern, die jeden Atemzug der gequälten Proletarierbrust mit Basiliskenaugen des profitgierigen Kapitals überwachen; die modernste Technik – der Triumph des Menschen über die Natur – verwandelt in das grausamste Mittel, den Menschen dem toten Fabrikautomaten zu unterjochen und seine Arbeit zur Tortur zu gestalten; Heimarbeit, die die Hölle der kapitalistischen Blutsaugerei mitsamt ihrem Schmutz bis in den armseligen Wohn- und Schlafraum der Proletarierfamilie trägt, mit ihrem ekelhaften Abfall und Staub das bescheidene Mahl auf dem Tische der Erwachsenen besudelt und den Proletariersäugling in der Wiege vergiftet; endlich die moralischen Misshandlungen der Schöpfer allen Reichtums durch diejenigen, die den Reichtum an sich raffen: mit Füßen getretene Landproletarier, geprügelte Bergarbeiter, mit Fäusten bearbeitete Stahlwerksarbeiter! …. Schon in den wenigen Tagen der vergangenen Woche konnten unsere Genossen: Spiegel, Haberland, Bender, Quarck, Robert Schmidt, Kraetzig ein entsetzliches Bild der kapitalistischen Wirtschaft entwerfen.

Sie haben wieder gezeigt, woher jene schimmernde Flut des „nationalen Reichtums", jener Milliardensegen kommt, mit dem das jubiläumstrunkene Deutschland vor der Welt prunkte. Sie haben gezeigt, dass heute noch in Deutschland Wort für Wort gilt, was Karl Marx vor bald 50 Jahren in seinem genialen Hauptwerk schrieb: „Das Kapital kommt vom Kopf bis Zeh blut- und schmutztriefend zur Welt." Ja, als Robert Schmidt den Geheimräten am Regierungstisch die kaum glaubliche Tatsache ins Gesicht schleuderte, dass ihre einzige Verordnung zum Schutze der Gesundheit der Heimarbeiter seit zwei Jahren dahin geht, den Tabakarbeitern den vorgeschriebenen Luftraum um drei Kubikmeter zu schmälern, – konnte er da nicht wie Friedrich Engels 1843 bei der Beschreibung der englischen Kapitalpraktiken ausrufen: „Ich klage die bürgerliche Gesellschaft des Mordes an!"

Der letzte bündige Schluss, der sich aus diesem grauenhaften Gesamtbild für jeden denkfähigen Arbeiter ergibt, ist, dass eine Gesellschaftsordnung, die auf einem solchen Fundament beruht, tausendmal wert ist, dass sie zugrunde geht, und das lieber heute als morgen. Jede Verhandlung über die Sozialpolitik verwandelt sich, dank der rücksichtslosen Kritik unserer Vertreter, in einen unwiderleglichen Nachweis für die historische Notwendigkeit der radikalen Abschaffung des Kapitalismus.

Wir sind aber nicht bloß eine Partei der Propaganda, sondern eine Partei der praktischen Tat. Und als praktische Politiker in des Wortes bestem und einzig wahrem Sinn haben wir in den Forderungen unseres Programms den Wegweiser, um auch innerhalb des bestehenden Jammertals sofort wirksame Abhilfsmittel zur Linderung der Not zu fordern. Das hervorragendste dieser Mittel, gleichsam der Zentralpunkt aller sozialen Abhilfe, ist der gesetzliche Achtstundentag. Die Losung des Achtstundentages, schon an der Wiege der Arbeiterbewegung von der alten Internationale proklamiert, durch bald ein Vierteljahrhundert Maifeier geheiligt, bleibt bis auf den heutigen Tag der Schwerpunkt unseres sozialpolitischen Programms. Ja, sie wird mit der jüngsten Entwicklung und ihren Begleiterscheinungen immer praktischer, d. h. immer dringender notwendig für die Arbeiterklasse.

Wenn der Nationalliberale Böttger gegen den Achtstundentag kein triftigeres Argument vorzuführen weiß, als dass bei seiner Einführung „die Zahl der Arbeiter verdreifacht werden müsste", so ist damit der glänzendste Beweis erbracht, dass der Achtstundentag allein ein wirksames Abhilfsmittel gegen die heutige furchtbare Arbeitslosigkeit wäre.

Wenn es bereits ein Axiom der sozialökonomischen Wissenschaft geworden ist, dass lange Arbeitszeit mit niedrigen Löhnen, kurze Arbeitszeit aber mit hohen Löhnen Hand in Hand gehen, dann ergibt sich mit zwingender Logik, dass der Achtstundentag allein heute im Budget des Proletariers das nötige Gleichgewicht mit der steigenden Lebensmittelteuerung herbeiführen könnte.

Wenn endlich heute ein Giesberts sich im Reichstag genötigt sieht, in Bezug auf einen so führenden Zweig der Produktion wie die Schwereisenindustrie für den Achtstundentag an Stelle des heutigen Zwölfstundentages zu plädieren, so zeigt das, wie fest unsere Agitation für den Achtstundentag seit Jahrzehnten bereits auch in den Massen der Zentrumsarbeiter Wurzel geschlagen hat und wie sehr wir diese Programmforderung jetzt in den Mittelpunkt unserer Aktion stellen müssen.

Unsere Abgeordneten werden wohl auch besonders triftige Gründe gehabt haben, weshalb sie in ihrer Resolution zu der Internationalen Regierungskonferenz in Bern für Arbeiterinnen und Jugendliche zunächst den Zehnstundentag als Maximum der Arbeitszeit fordern. Die Praxis, namentlich in der Textilindustrie, hat die Forderung des Zehnstundentages auch für Frauen längst überholt. Da es zudem Elementarsatz selbst aller bürgerlichen Sozialpolitik seit jeher ist, dass arbeitende Frauen und Jugendliche stärker geschützt werden müssen als erwachsene männliche Arbeiter, so müssten wir, bei einer Forderung des Zehnstundentages für sechzehnjährige Kinder, für Erwachsene zunächst den Elf- oder Zwölfstundentag fordern, was ein offenbarer Widersinn ist. Es läge aber auch eine zu bittere Ironie darin, wenn wir als das Nächsterreichbare auf internationalem Wege im Jahre des Heils 1914 wirklich nur das bescheidene Maß an Frauen- und Kinderschutz fordern sollten, das in England vor 70 Jahren ein Lord Ashley mit seinen torystischen Freunden verfochten und am 8. Juni 1847 als Gesetz durchgedrückt hatten.

Statt für Frauen und halbe Kinder den Zehnstundentag, haben wir allen Anlass, heute mit mehr Nachdruck denn je für die Erwachsenen den gesetzlichen achtstündigen Arbeitstag als das Maximum laut zu fordern. Wenn unsere Abgeordneten irgend etwas davon abhält, diese selbstverständliche Programmforderung in Form eines Gesetzentwurfes oder einer Resolution zu beantragen, so ist es sicher nur die gründliche und freilich auch wohlbegründete Überzeugung, dass von der heutigen Reichstagsmehrheit für diesen elementaren Anspruch der Arbeiter Verständnis erwarten, geradeso viel hieße, wie tauben Ohren predigen. Würde aber der Achtstundentag im Reichstag kein Echo finden, – in den Herzen von Millionen außerhalb des Reichstags muss er bei den heutigen Zeiten des Elends und der Gedrücktheit sicher ein begeistertes Echo finden, als eine Botschaft des ungebrochenen Willens, des unnachgiebigen Trotzes der kampffreudigen Hoffnung – trotz alledem!

Schließlich können wir uns bei unserem trostlosen Amt, an den harten Felsen der bürgerlichen Sozialpolitik um einige lindernde Tropfen zu pochen, von unseren bittersten Feinden, den Junkern, in ermunterndes Beispiel nehmen. Ein Beispiel, nicht bloß, wie man durch die zähe Ausnutzung der eigenen Macht selbst als Minderheit seinen Willen durchzusetzen versteht, sondern auch, wie man eine praktisch ganz aussichtslose Position bis zum Äußersten verteidigt. Ein Muster letzterer Art war sicher seinerzeit die Doppelwährungsaktion der Arendt und Genossen.2 Hatten es doch die Silbermänner fertiggebracht, mit ihrem stockreaktionären Programm fast ein Vierteljahrhundert lang öffentliche Meinung, Regierung und gesetzgebende Körper in Atem zu halten und für eine im Voraus völlig verlorene Sache immer wieder nach jeder Niederlage mit frischem Mute ihre Kraft einzusetzen, bis die letzte Spur einer Chance verschwunden war.

Mit wie viel gutem Recht und gutem Glauben als jene finsteren Narren der junkerlichen Reaktion können wir trotz aller äußeren Aussichtslosigkeit unsere Losung des Achtstundentages, diese Mahnung an eine hellere Zukunft, an Fortschritt, Kultur und Aufwärtsdrang von Millionen, immer wieder unverzagt und laut proklamieren! Wie einst Cato im römischen Senat jede Rede mit seinem ceterum censeo, müssten unsere Abgeordneten im Reichstag jede sozialpolitische Rede mit den Worten schließen: Im Übrigen erklären wir, dass der Achtstundentag eine dringende Notwendigkeit ist!

1 Im Herbst 1913 übte die Garnison Zabern ein Terrorregiment gegen die Zivilbevölkerung aus. Ausführliche Darstellung im Band V der Gesammelten Werke.

2 Die Bewegung zugunsten der Silber- resp. Doppelwährung in den 70er bis 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts versuchte, die Entwertung des Silbers zum Nutzen der großen Schuldner, namentlich der Agrarier, auszubeuten.

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