Rosa Luxemburg 19020606 Ein Problem der Taktik

Rosa Luxemburg: Ein Problem der Taktik

[Erschienen in der „Leipziger Volkszeitung" am 6. Juni 1902. Nach Gesammelte Werke Band 4, 1928, S. 222-224]

Die von dem internationalen Textilarbeiterkongress in Zürich in den letzten Tagen erörterte Frage der Zulassung oder Nichtzulassung der Hirsch-Dunckerschen sowie der christlichen Gewerkvereine zur Teilnahme an seinen Verhandlungen scheint uns von weittragender allgemeiner Bedeutung zu sein. Wenn es sich auch hierbei nur um je einen einzelnen Delegierten handelte, so ist doch klar, dass wir es nicht etwa mit einem vereinzelten Ausnahmefall zu tun haben. Einerseits wird die positive Entscheidung des Textilarbeiterkongresses sicher auf die Arbeiterorganisationen freisinniger und konfessioneller Färbung ermunternd wirken und sie zu ferneren Versuchen anspornen, an den Beratungen der freien Gewerkschaften teilzunehmen. Andererseits hat ein deutscher Delegierter auf dem internationalen Bergarbeiterkongress in Dortmund gleichfalls an den Schluss der Kongressverhandlungen den Wunsch und die Hoffnung geknüpft, künftig die christlichen Bergarbeitervereine an den internationalen Kongressen teilnehmen zu sehen.

Es liegt also zweifellos eine bestimmte Tendenz auch innerhalb unserer Gewerkschaftswelt vor, die außerhalb ihr stehenden Arbeiterorganisationen zu ihren Kongressen heranzuziehen, und diese Tendenz hat sich bereits deutlich genug geäußert, um einer gründlichen Prüfung unterzogen zu werden. Der Frage verleiht noch ein besonderes Interesse ihr augenscheinlicher Zusammenhang mit der Tendenz zur sogenannten „Neutralität der Gewerkschaften". Wenn sich in den Reihen unserer Gewerkschafter Stimmen für die Zulassung der anderen wirtschaftlichen Arbeiterorganisationen zu ihren Kongressen erheben, so ist dabei jedes Mal ohne Zweifel die vielbesprochene gewerkschaftliche „Sammlungspolitik" der wahre Beweggrund, und es scheint uns geboten, gerade an der Hand der vorliegenden konkreten Probe auch die Unhaltbarkeit der ganzen Politik klar zu demonstrieren.

Was vor allem gegen die Zulassung freisinniger und konfessioneller Organisationen zur Teilnahme an unseren Gewerkschaftskongressen spricht, ist die einfache, rein formale und allgemein anerkannte Tatsache, dass an den Beratungen und Beschlüssen irgendeiner Körperschaft nur Mitglieder dieser Körperschaft aktiven Anteil nehmen können. Schon der gesunde Menschenverstand sagt uns, dass auf das Zustandekommen von Beschlüssen irgendeines Kollegiums nur diejenigen Einfluss nehmen können, für die diese Beschlüsse auch maßgebend sein sollen, die sich selbst diesen Beschlüssen fügen müssen. Nun ist es aber klar, dass weder die Hirsch-Dunckerschen noch die christlichen Vereine an die Beschlüsse der internationalen Gewerkschaftskongresse tatsächlich gebunden werden können. Da sie außerhalb der nationalen Zentralverbände stehen, so besitzen die Gewerkschaften gar kein Mittel, sie zur Einhaltung der internationalen Beschlüsse zu zwingen. Das Resultat wäre also nur ein einseitiges Verhältnis zum Nachteil der freien Gewerkschaften; die fremden Arbeiterorganisationen würden auf ihr Tun und Lassen Einfluss nehmen, ohne sich in ihrer eigenen Handlungsweise beeinflussen zu lassen.

Zu dieser allgemeinen Betrachtung kommt aber noch hinzu, was Baudert in Zürich mit vollem Recht hervorgehoben hat: dass die Hirsch-Dunckerschen wie die christlichen Gewerkschaften eigentlich gegnerische Organisationen sind. Wenn wir auch von den unmittelbaren, rein politischen Fragen, von der Stellung den politischen Parteien gegenüber absehen, so steht doch, wie alle Welt weiß, auch die gesamte wirtschaftliche Politik in jenen Vereinen auf einer ganz anderen Basis, als in den gewerkschaftlichen Zentralverbänden. Es ist förmlich unmöglich, irgendeine wichtigere Frage des Gewerkschaftslebens, ob Lohnfragen oder die der Arbeitszeit, Unfallversicherung oder die Frage der Frauen- und Kinderarbeit, herauszugreifen, ohne auf schroffe Gegensätze in der Auffassung zu stoßen.

Angesichts dieser unbestreitbaren Tatsachen können die idyllischen Hoffnungen auf eine Verständigung aller Arbeiterorganisationen auf gemeinsamem Boden lediglich auf dem Wege sachlicher Kompromisse, also sachlicher Konzessionen seitens unserer Gewerkschaften verwirklicht werden. Nur insofern die Zentralverbände von ihrer ausgesprochenen Klassenkampfstellung in dieser oder jener Frage abgehen, vermag eine Verständigung mit den freisinnigen oder christlichen Vereinen erzielt zu werden.

Sieht man davon ab, weist man Konzessionen und Kompromisse von vornherein zurück, dann müssen sich Beratungen mit den gegnerischen Arbeiterorganisationen in plan-, zweck- und endlose Auseinandersetzungen verwandeln, die ebenso unfruchtbar und demoralisierend wirken würden, wie die internationalen Beratungen der Sozialisten mit Anarchisten. Wie hier in der Politik, trotz des in allgemeiner Form ganz gleichlautenden Endziels jede Verständigung ausgeschlossen ist, so ist auch die gemeinsame gewerkschaftliche Aktion aller Arbeiterorganisationen ohne Unterschied des Charakters und der Basis eine Utopie.

Freilich handelt es sich für die Anhänger der „Sammlungs-Politik" darum, die unklaren, unbewussten Arbeitermassen, die in den gegnerischen Organisationen irregeführt werden, über den wirtschaftlichen Klassenkampf aufzuklären und sie zu uns heranzuziehen. Allein gerade von diesem Standpunkte hieße es unseres Erachtens die Sache von einem ganz falschen Ende anfassen, wollte man die verdummten Arbeiter durch aktive Teilnahme an den internationalen Kongressen erziehen.

Die internationalen Gewerkschaftskongresse zeigen, wie jeder einzelne davon ein Beweis ist, selbst noch in so hohem Maße die Konfusion in wichtigsten Fragen, die internationale gewerkschaftliche Aktion ist noch so wenig in sich gefestigt, dass sie als sozusagen erste Erziehungsschule für irregeführte und konfuse Arbeiter nur noch mehr verwirrend wirken kann. Und umgekehrt. – Gerade hier, wo die deutschen Zentralverbände mit aller Kraft die klare und scharfe Politik der modernen Arbeiterbewegung in die Gewerkschaften aller Länder erst einzuführen berufen sind, ist die Mitarbeiterschaft freisinnig oder pfäffisch abgerichteter Organisationen höchst verkehrt. Sowohl die Rückwirkung der internationalen Kongresse auf die gegnerischen Vereine, wie diese auf jene, muss den eigenen Absichten der „Sammlungspolitiker" direkt zuwiderlaufen.

Und endlich noch eine unabweisbare Konsequenz: lässt man die Hirsch-Dunckerschen und die Christlichen an internationalen Gewerkschaftskongressen teilnehmen, dann haben sie vollen Anspruch darauf, auch auf den nationalen Verbandstagen unserer Gewerkschaften mit Sitz und Stimme vertreten zu sein. Wenn der Deutsche Textilarbeiterverband in Zürich mit dem freisinnigen Gewerkverein gemeinsam beraten kann, so kann er es ebenso gut in Berlin und in Stuttgart. Es genügt aber diese Eventualität bloß zu formulieren, um ihre Undenkbarkeit einzusehen und alle Apostel der „Sammlungspolitik" abzuschrecken.

Es scheint uns geboten, dass angesichts all dieser Gesichtspunkte die deutschen Gewerkschaften mit aller Entschiedenheit die aktive Teilnahme bürgerlicher Arbeiterorganisationen an den internationalen Kongressen zurückweisen. Wollen sie von uns lernen –, als Zuschauer und Gäste haben sie dazu Gelegenheit in Hülle und Fülle. Wollen sie dagegen mit raten und mittaten, dann müssen sie sich erst auf unseren Boden, in Reih und Glied mit uns stellen.

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