Rosa Luxemburg 19050621 Die kommenden Männer in Russland

Rosa Luxemburg: Die kommenden Männer in Russland

[Sächsische Arbeiter-Zeitung (Dresden), Nr. 140 vom 21. Juni 1905. Nach Gesammelte Werke Band 1/2, 1970, S. 587-591]

Die letzten Tage haben eine hochinteressante und bedeutsame Kundgebung des russischen Liberalismus gebracht, die sehr geeignet ist, auf die Klassen- und Parteiverhältnisse innerhalb des revolutionären Zarenreiches helles Licht zu werfen. Herr Peter v. Struve, der literarische Vertreter und das geistige Haupt des Liberalismus in Russland, veröffentlicht in der Jaurèsschen „Humanité" einen Offenen Brief an Jaurès, worin er aus Anlass des endgültigen militärischen Zusammenbruchs des Zarismus sozusagen die politische Plattform der russischen liberalen Partei entwickelt.

Was in diesem Augenblick dem russischen Volke vor allem not tut, ist nach dem Leader des russischen Liberalismus – „eine starke Regierung"! Die dringende Notwendigkeit einer starken Regierung glaubt Herr Struve gar nicht genug betonen zu können, er wiederholt sie in verschiedenen Tonarten mehrere Male. Und zwar ist diese Notwendigkeit durch zwei dringende Aufgaben begründet, die gegenwärtig im Zarenreiche ihrer Lösung harren: erstens die Schaffung der Ordnung im Innern und zweitens und vor allem die Schließung eines vorteilhaften Friedens mit Japan sowie Anbahnung einer vorteilhaften, gleichfalls „starken" auswärtigen Politik Russlands. Diesen hehren Aufgaben sind die jetzigen kopflosen und korrupten Tschinowniks des Absolutismus – die nach Herrn Struve überhaupt das Karnickel sind, das das ganze jetzige Unheil angerichtet hat – nicht gewachsen. Dazu bedürfe es einer Regierung aus Männern mit moralischer Autorität, und solche Perlen sind ach so leicht und so nahe zu finden, dass Seine blutige Majestät nur Höchstdero Hand auszustrecken brauchte und – Herr v. Struve macht hier einen ergebenen ehrfurchtsvollen Diener und flüstert bescheiden: „Ich sage nicht, dass ich zu hoffen wage, dass Ihre Majestät mir Dero Vertrauen schenken würden, ich sage bloß: Ihre Majestät brauchte, wenn Sie wollte, nur mit dem kleinen Finger zu winken, und in friedlichster Weise würde Dero gehorsam-liberaler Diener die Portefeuilles der Herren Trepow und Bulygin übernehmen, einen glänzenden Frieden mit Japan schließen, Russland mit England aussöhnen, die revoltierende Kanaille, die ja, wie ich noch im Januar schrieb, gar nicht reif zum politischen Leben ist, zur Ruhe bringen, ich würde…" Aber Herr Struve verspricht so viel und so Schönes als künftiger Minister Nikolaus' II., dass man gar nicht alles hier anführen kann.

Übrigens ist das obige Zitat nicht ganz genau. Herr Struve sagt das alles mit ein bisschen anderen Worten: „Theoretisch und abstrakt gesprochen, steht dem nichts im Wege, dass die Revolution eine Regierung bildet in der friedlichsten Weise, in einer ebenso friedlichen und einfachen Weise, wie Herr Loubet gestern Herrn Rouvier an Stelle des Herrn Combes berief oder wie König Eduard VII. morgen Herrn Campbell-Bannerman auffordern wird, Herrn Balfour zu ersetzen. Nikolaus II. kennt ebenso gut wie wir, oder wenn er nicht kennt, kann er morgen kennenlernen, die Männer, deren Berufung ans Ruder für Russland die Schaffung einer starken, populären, autoritätsvollen Regierung bedeuten würde, einer Regierung radikaler Reformen. Man berufe nur in Moskau einen Kongress von Delegierten der Semstwos ein, analog dem Aprilkongress, dieser Kongress wird Nikolaus II. bald die Männer namhaft machen, die sich des Vertrauens des Landes wie einer moralischen Autorität erfreuen. Männer, die nötig sind, um eine starke (unterstrichen bei Herrn Struve) Regierung zu bilden. Mag Nikolaus II. das Programm dieser Männer akzeptieren und ihnen das Staatssteuer anvertrauen. Denn heute braucht Russland nicht bloß die Freiheit, sondern auch die Bildung einer Regierung, die mit der Freiheit und mit der Ordnung vereinbar ist."

Außer der Betonung der „starken" Regierung und der „Ordnung" ist in dem obigen Erguss namentlich der Vorschlag bemerkenswert, die Regierung der „Revolution" aus dem Semstwokongress zu entnehmen! Seit dem Anfang der offenen revolutionären Gärung in Russland und namentlich seit dem Blutbad in Petersburg ist es ein unaufhörlicher Ruf der Revolutionäre und der oppositionellen Elemente: derjenige nach einer konstituierenden Versammlung aus Erwählten des Volkes in allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlen. Es versteht sich für die kämpfende Arbeiterklasse von selbst, dass aus der Revolution nur eine Regierung hervorgehen kann, die von dieser allgemeinen Volksvertretung geschaffen und von ihr unterstützt wird. Nun stellt es sich heraus, dass nach den Herren Liberalen die Liquidierung der Revolution in der „friedlichen und einfachen" Weise vor sich gehen kann, dass man statt einer Volksvertretung bloß einen Semstwokongress, das heißt, bloß Standesvertreter des grundbesitzenden Adels einzuberufen und aus diesem adeligen Grundbesitz das Ministerium zu bilden brauche. Im Weiteren entwickelt Herr Struve – der sich selbst notabene eingangs des Offenen Briefes nachdrücklich und offiziell als den „Repräsentanten der liberal-demokratischen Partei", also der Partei des erforderlichen Vorrats an „starken Männern" vorstellt – ein ausgedehntes und bis ins kleinste Detail ausgearbeitetes Programm der auswärtigen Politik. Er legt in aller Form ein Examen als künftiger leitender Staatsmann und Diplomat ab und zeigt sich den unverschämten Forderungen der schlitzäugigen gelben Teufel gegenüber fest wie ein Fels, knüpft gleichzeitig weise wie eine Schlange ein Bündnis mit Japan, söhnt sich, schlau wie ein Fuchs, mit dem Erbfeind England aus, und indem er zugleich seinem Freund Jaurès noch eine warme Hand zur Neubefestigung der franko-russischen Allianz darbietet unter Zusicherung von Cochinchina an Frankreich, wendet er diesen neuen Vierbund – Russland, Japan, England, Frankreich – gegen den Dreibund und Deutschland, das ihm in Kleinasien in die Parade fährt, da Herr Struve gerade am Schwarzen Meer die Hauptbasis seiner künftigen Politik schaffen will. Insofern nun der Leader des Semstwo-Liberalismus einen Befähigungsnachweis als kommender Staatsmann hat ablegen wollen, hat er es durch diese weltumspannende politische Kannegießerei unbestreitbar fertiggebracht. Er hat sogar nebenbei schon die erforderliche Dosis staatsmännischer Borniertheit verraten, indem er völlig blind für die internationalen Weltmarkttendenzen, die mit fataler Logik den Schwerpunkt der Weltpolitik und den politischen Krisenherd nach dem Fernen Osten verlegt haben, die russische Diplomatie als „starker Mann" in die ausgetretenen Kinderschuhe der „Orientpolitik" am Bosporus zurückzustecken verspricht.

Das wichtigste jedoch bei der obigen Kannegießerei ist etwas ganz anderes. Das ganze Programm des Herrn Struve dreht sich um die auswärtige Politik, und Herr Struve sagt ausdrücklich, dass es sein Zweck ist, das Augenmerk aller einflussreichen Freiheitskämpfer Russlands jetzt auf all diese Probleme zu richten. Nun gibt es kein sichereres und probateres Mittel, die Opposition im gegenwärtigen Augenblick zu verwirren, zu schwächen und zu demoralisieren, als indem man ihre Blicke von den Problemen der inneren Umwälzung, der inneren Kämpfe mit dem Absolutismus, der inneren Klassen- und Parteientwicklung ab- und den Fragen der auswärtigen Politik, der Interessen des „gemeinsamen Vaterlandes" zuwendet. Hier pfuscht der künftige liberale Staatsmann einfach aus unlauterem Wettbewerb den Staatsmännern der Knute ins Handwerk.

Der Verrat der bürgerlich-liberalen Parteien an der Revolution und dem Liberalismus ist ja in der Geschichte nichts gerade Neues. Jede der modernen Revolutionen in Frankreich, in Deutschland war noch bis jetzt eine Geschichte dieses Verrats der liberalen Mannen am kämpfenden Volke. Aber bis jetzt begann der Verrat doch wenigstens immer erst nach den ersten Siegen der Revolution, erst als die liberale Bourgeoisie bereits die Macht erlangt hatte. Das Neue in der russischen Revolution ist, dass sich der Liberalismus schon am Ruder fühlt, bevor noch die geringste Konzession gemacht worden. Die russischen Liberalen werden zu „starken" Staatsmännern und zu Männern der „Ordnung" nicht einmal in der Paulskirche, sondern bereits im Exil in Paris, während in Petersburg noch Trepow der Herr im Hause ist! Hier äußert sich wieder einmal in bemerkenswerter Weise das eherne materialistische Gesetz der Geschichte und die Windbeutelei aller „Ideologie", die nicht in materiellen Klasseninteressen feste Wurzeln hat. Das jetzige Verhalten der russischen Semstwo-Liberalen steht noch um so viel tiefer unter dem ehemaligen Verhalten der deutschen Liberalen, um wie viel der agrarische, in seinem innersten Wesen ökonomisch-reaktionäre Semstwo-Liberalismus unter dem noch so feigen und halben Liberalismus der kapitalistischen großindustriellen Bourgeoisie steht. Diese letztere Spezies von Liberalismus fehlt in Russland als Klassenerscheinung gänzlich. Dazu kommt die russische Revolution viel zu sehr als verspäteter Nachzügler. Den Letzten beißen die Hunde – auch in der Geschichte.

Aber die deutsche Sozialdemokratie kann aus dem Fall Struve auch noch eine nützliche Lehre für die richtige Beurteilung der russischen Verhältnisse ziehen.

Lange Zeit hindurch war in den Reihen der deutschen Genossen der Glaube an die Macht des russischen Liberalismus vorherrschend, ein Glaube, der auf die gebührende Wertschätzung der revolutionären proletarischen Bewegung Russlands und seiner Taktik sehr benachteiligend wirkte. So war, als im Januar einige sozialistische Fraktionen: die terroristischen Sozialisten-Revolutionäre, die nationalsozialistische Polnische Sozialistische Partei und noch einige kleinere Gruppen, mit der Struve-Partei in Paris einen „Block" gebildet hatten, mancher Genosse – und auch das Zentralorgan darunter – gelinde verwundert und sehr bekümmert, warum die russische, polnische und jüdische Sozialdemokratie die Beteiligung an dieser „Zusammenfassung der Kräfte" kategorisch ablehnte. Die jetzige Wendung des Struveschen Liberalismus wird hoffentlich auch diesen Schwärmern der „Block"politik zeigen, dass gerade die Interessen des Kampfes und der Revolution nicht eine Allianz mit solchen zweideutigen Elementen, sondern eine scharfe, klare, selbständige proletarische Politik geboten, die von Anfang an mit dem Liberalismus nicht auf freundlich-vertrauensduseligem Fuße, sondern auf wachsamstem Quivive bleibt.

Zum Schluss noch eine kleine Bemerkung ad personam: Herr Struve ist ein Exsozialdemokrat und Exmarxist, der in das gelobte Land des Liberalismus über die Eselsbrücke des „revidierten" Marxismus wanderte. Sein jetziger Fall ist ein Exempel mehr, dass es beim Abspringen von der festen prinzipiellen Weltanschauung des Marxismus für einen Sozialisten keinen Halt gibt: Er rutscht gewöhnlich viel tiefer herab als die bürgerlichen Demokraten und Reformer. Herr Struve wird seit geraumer Zeit, wie wir erfahren, von den linksstehenden bürgerlichen Demokraten in Russland als ein unsicherer Kantonist betrachtet, und aus dem Vertreter des Liberalismus schlechthin wird er zum Vertreter bloß dessen äußerster adeliger Rechten. So differenzieren sich in Russland Klassen und Parteien unaufhörlich, und dies ist einer der sichersten und erfreulichsten Beweise, dass das Feuer der Revolution im Zarenreich nicht schlummert, sondern unermüdlich sich ausbreitet und um sich frisst auch in den Momenten, wo keine prasselnde Feuergarbe laut aufzischt, um die Aufmerksamkeit der Welt auf sich zu lenken.

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