Rosa Luxemburg 19050303 Eine Probe aufs Exempel

Rosa Luxemburg: Eine Probe aufs Exempel

[Sächsische Arbeiter-Zeitung (Dresden), Nr. 52 vom 3. März 1905. Nach Gesammelte Werke Band 1/2, 1970, S. 528-532]

Der jüngste und immer noch andauernde Generalstreik in Russland ist seinem Umfang und seiner Dauer nach das gewaltigste Beispiel dieser Kampfweise, das je gesehen worden ist. Es gibt förmlich nicht eine Industriestadt des Riesenreichs, in der nicht die gesamte Arbeiterschaft oder wenigstens diejenige einiger wichtigeren Zweige die Arbeit niedergelegt hätte, und in vielen Gegenden, so z. B. in Łódź, in dem Dąbrowaer Kohlenrevier in Polen, dauerte der Streik mehrere Wochen. Von der Industrie hat der Streik auf die Verkehrszweige, Handelszweige, Banken übergegriffen. Täglich kommen, namentlich aus Polen, Nachrichten über neue Branchen des wirtschaftlichen Lebens, die von dem Streikfieber ergriffen werden: sogar Versicherungsanstalten, Apotheken, photographische Ateliers stehen im Streik. Und in manchen Städten, in Moskau, Petersburg und Warschau, drohen selbst die Polizeimannschaften mit dem Streik. Gleichzeitig spielt diese Riesenbewegung in allen Nuancen von reiner politisch-revolutionärer Demonstration bis zu reiner wirtschaftlicher Lohnbewegung, wobei jedoch die politische Forderung der Freiheit und der Achtstundentag, also die wichtigste sozialökonomische Forderung, den Grundton abgeben.

In diesen Dimensionen und der Mannigfaltigkeit der mitspielenden Momente bietet die jetzige Bewegung in Russland eine wahre Fundgrube für das Studium der Natur und der politischen Bedeutung des Generalstreiks.

Am gründlichsten räumen die Erfahrungen der jüngsten Tage mit jener pedantisch-mechanischen Auffassungsweise auf, wonach der Generalstreik gewissermaßen wie ein Reiseunternehmen zu Urgroßmutters Zeiten behandelt wird, zu dem man schon Jahre vorher die Reiseroute bis ins kleinste Detail im Familienrat bespricht und Monate vor dem Termin die Koffer herunterzuholen und zu packen beginnt. Ein wirklicher Generalstreik, der ein ganzes Land, eine ganze Gegend aufrüttelt, lässt sich nicht in der Weise herbeiführen, dass mit der „Idee des Generalstreiks" in abstrakter Form wie mit einem Panazee so lange in Versammlungen und Artikeln hausiert wird, gleichsam wie mit der „Idee" des Konsumvereins, bis die Arbeiterklasse sich von der Vorzüglichkeit dieser „Idee" überzeugt und im gegebenen Moment beschließt, einen Generalstreik zu beginnen. Der Massenausstand als große politische und soziale Klassenbewegung lässt sich ebenso wenig auf Kommando „machen" wie eine Revolution. Ein politischer Generalstreik, der ordnungsmäßig wie ein Schirm aufgespannt und dann wieder sauber zusammengeklappt und in die Ecke gestellt wird, wie seinerzeit in Schweden1, ist nur eine Demonstration, die als eine Revue der organisierten und disziplinierten Kräfte des Proletariats zweifellos ihre große Bedeutung hat, aber nicht ein direktes Kampfesmittel darstellt. Hingegen ist in einer revolutionären Bewegung der Generalstreik nur eine Phase, ein Stadium des direkten Kampfes, und der Übergang vom Generalstreik zum Straßenkampf lässt sich ebenso wenig vermeiden, wie sich die genaue Grenze zwischen dem einen und dem anderen ziehen lässt. Hier ergibt sich auch der Generalstreik nicht aus einem vorgefassten Plan der Sozialdemokratie, nicht, weil er nach langen Disputationen als das „beste" Mittel beschlossen worden ist. In keinem Lande ist über die Frage des Generalstreiks so wenig bis jetzt geschrieben und geredet worden wie in Russland und Russisch-Polen. Er ergab sich hier, wie er sich heutzutage in wirklichen Revolutionsbewegungen überall ergeben muss, von selbst, aus der ökonomischen Lage der Arbeiterklasse. Die Masse der Proletarier ist in gewöhnlichen Zeiten an die Kette des Kapitals geschmiedet, in Fabriken, Werkstätten, Bergwerke gebannt und zugleich isoliert und zersplittert. Will die Arbeiterschaft irgendeine direkte politische Massenaktion vornehmen, so muss sie vor allem die Arbeit ruhen lassen und aus den Fabriken, Werkstätten und Gruben heraustreten. Der Generalstreik ist somit der erste Schritt und die natürliche Anfangsform jeder offenen Massenaktion und allerdings jeder modernen Straßenrevolution. Andererseits aber bleibt der wirtschaftliche und soziale Druck des Kapitals die große Grundlage und Grundtatsache des modernen öffentlichen Lebens, und deshalb muss heutzutage in jede direkte revolutionäre Aktion der Arbeitermasse der wirtschaftliche Kampf mächtig mit hineinspielen, sich also naturgemäß in einer gewaltigen Streikbewegung äußern.

In diesem Sinne ist die gegenwärtige Revolution im Zarenreich eine neue Erscheinung, die für die künftigen revolutionären Kämpfe des europäischen Proletariats viel typischer sein dürfte als die früheren bürgerlichen Revolutionen in Frankreich und Deutschland. Noch in keiner dieser letzteren hat der Massenausstand eine Rolle gespielt. Zwar äußerte sich die Revolution jedes Mal durch das Darniederliegen des wirtschaftlichen Lebens, das sich immer naturgemäß aus der politischen und sozialen Umwälzung ergibt. Doch hatte dieses Darniederliegen stets bisher nur die negative Form der Desorganisation im gewöhnlichen Laufe der Dinge, es ergab sich als passives Resultat der revolutionären Zeit, war aber nicht selbst eine Äußerung, ein aktives Kampfmittel der Revolution. Das hängt mit zweierlei historischen Umständen zusammen. Erstens war weder zur Zeit der Märzrevolution noch viel weniger zur Zeit der Großen Französischen Revolution die Großindustrie so hoch entwickelt und so ausschlaggebend für das wirtschaftliche Leben der Gesellschaft wie gegenwärtig in Russland. Und zweitens war – was mit dem ersteren aufs engste verknüpft ist – noch keine moderne Revolution so ausgesprochen und ausschließlich proletarisch wie die jetzige im Zarenreich. In den früheren Revolutionen gab den Ausschlag nicht bloß politisch, sondern auch ökonomisch das Kleinbürgertum, und es versteht sich von selbst, dass die direkte Aktion dieses letzteren nicht den Charakter eines Generalstreiks annehmen konnte. Die heutige Revolution in Russland ist nicht bloß ein rein politischer Kampf gegen die Alleinherrschaft, sondern – wie jede Arbeiterbewegung gegenwärtig es sein muss – zugleich auch ein mehr oder weniger klassenbewusster Kampf gegen die Kapitalsherrschaft, und die Zusammenfassung dieser beiden Momente findet ihren adäquaten Ausdruck in der gewaltigen Generalstreikkrise, die das russische Riesenreich erschüttert.

Diese Krise ist deshalb eine glänzende Widerlegung auch der entgegengesetzten pedantischen Auffassung, die alle Aussichten auf einen revolutionären Generalstreik mit der trockenen Formel einfach von der Hand weisen zu können glaubt, dass wir, wenn wir erst einmal „so weit" sind, einen wirklichen Generalstreik im ganzen Lande hervorrufen zu können, es gar nicht mehr nötig hätten, dies zu tun, da wir alsdann schon einfach die politische Macht ergreifen und der herrschenden Gesellschaftsordnung den Garaus machen würden. In Russland fehlten sämtliche Bedingungen, die man nach dieser Auffassung als unentbehrlich für das Zustandekommen eines Generalstreiks bezeichnet: der Ausbau und die Ausdehnung der gewerkschaftlichen Organisationen beinahe auf die gesamte Arbeiterklasse, ein vollkommen uneingeschränktes Koalitionsrecht, das Fehlen eines starken, modernen Militarismus, gefüllte Kassen, ausgezeichnete erprobte Disziplin usw. usw. In Russland gab und gibt es, jedenfalls vom Standpunkte der breiten Massen, so gut wie gar keine Gewerkschaften, keine Kassen, kein Koalitionsrecht, keine Schulung und Erfahrung auf dem Boden großer politischer oder auch wirtschaftlicher Kämpfe, dafür einen Militärstaat in brutalsten Formen. Andrerseits ist der Generalstreik trotz all dieser Umstände ein so absoluter, so musterhafter gewesen wie noch nie in einem westeuropäischen Lande, ohne dass man jedoch kraft dieser Tatsache allein schon in diesem Moment in der Lage wäre, die politische Macht zu ergreifen und die sozialistische Umwälzung durchzuführen. Selbst zu der unendlich bescheideneren politischen Umwälzung wird es noch in Russland gewaltiger und angestrengter Kämpfe bedürfen, zu denen die Generalstreikkrise bloß eine Einleitung bildet.

Jedenfalls aber ist eins klar: dass eine so mächtige Massenstreikbewegung im politischen Sinne als eine Erschütterung des gesamten sozialen Lebens in einem Lande nur denkbar ist als ein Moment der Revolution, deshalb als eine Erscheinung, in der genau so viel oder so wenig aktiver Plan und bewusste Leitung der Sozialdemokratie Raum haben wie in einer Straßenrevolution und die selbst nur auf dem Fond einer großen gesellschaftlichen Krise entstehen kann, die tiefste Lebensinteressen der breiten Volksmasse berührt, nicht aber auf dem Boden untergeordneter partieller Fragen, wie etwa das preußische Landtagswahlrecht, die dem spintisierenden Akademiker wohl als eine ungemein wichtige Sache vorkommen mögen, aber das wirtschaftliche und soziale Leben, die Gemüter der Volksmasse nie von Grund aus aufwühlen können. Nicht durch die systematische Propaganda des Generalstreiks als einer wundertätigen Spezies des proletarischen Klassenkampfes für sich und andrerseits auch nicht durch den bloßen bienenartigen Ausbau der gewerkschaftlichen Zellen ins Unendliche, sondern durch die Aufklärung und Aufrüttelung der Masse im Sinne der revolutionären Einsicht, dass sie in allen wichtigeren politischen und sozialen Lebensfragen und Entscheidungen nur auf sich selbst, auf die eigene direkte Aktion angewiesen ist, bereiten wir von selbst den Boden für jene Momente vor, wo die Arbeiterklasse um wirklicher Lebensinteressen willen bereit sein wird, nicht bloß „alle Räder stillstehen" zu lassen, sondern nötigenfalls auch ihr Blut im Straßenkampfe zu verspritzen. Den Eintritt eines solchen Moments herauszufühlen, ihm durch eine kühne Initiative Ausdruck zu geben und die Arbeiterklasse über den Generalstreik tatkräftig und entschlossen zu allen Konsequenzen des Kampfes zu führen und nicht etwa durch strategische Rückzugskünste auf halbem Wege aufzuhalten, das ist dann die eigentliche und große Aufgabe der bewussten Aktion der Sozialdemokratie.

1 In Schweden war auf Beschluss der Sozialdemokratie vom 15. bis 17. Mai 1902 ein politischer Massenstreik durchgeführt worden, um der Forderung nach einer Wahlrechtsreform Nachdruck zu verleihen. Der Streik, an dem sich etwa 116.000 Arbeiter beteiligten, wurde ohne Ergebnis abgebrochen, nachdem beide Kammern des Reichstags in einer Resolution die Regierung aufgefordert hatten, bis 1904 eine neue Wahlrechtsvorlage einzubringen.

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