Rosa Luxemburg 19050623 Russische Parteistreitigkeiten

Rosa Luxemburg: Russische Parteistreitigkeiten

[Sächsische Arbeiter-Zeitung (Dresden), Nr. 142 vom 23. Juni 1905. Nach Gesammelte Werke Band 1/2, 1970, S. 592-594]

Vor kurzem hat unter dem Namen des III. Parteitags der russischen Sozialdemokratie1 eine der beiden Fraktionen, in die unsere russische Bruderpartei leider seit zirka zwei Jahren gespalten ist, ihren Kongress abgehalten. Die andere, um Axelrod, Plechanow und Sassulitsch gruppierte Fraktion, deren Organ die bekannte „Iskra" bildet, hat an jenem quasi allgemeinen Parteitag nicht teilgenommen, wie sie erklärt, aus dem Grunde, weil der Parteitag nicht alle tätigen Lokalkomitees der russischen Sozialdemokratie zur Teilnahme zuließ, was offenbar von einem Einigungsparteitag jedenfalls erwartet werden musste, sondern gerade am Buchstaben des Organisationsstatuts festhaltend2, um den der Parteizwist entbrannt war und den ein großer Teil der Organisationen nicht anerkennen wollte, diese letzteren von aktiver Mitwirkung am Parteitag ausschloss.

Diese Fraktion hielt nun, nachdem Versuche, mit den Veranstaltern und Teilnehmern des Parteitags eine Verständigung und irgendeine Art gemeinsamer Beratung herbeizuführen, sich zerschlagen hatten, eine Konferenz3 für sich ab, in der sie gleichfalls Beschlüsse und Resolutionen über Fragen der Taktik und der Organisation gefasst hat. Wir stehen nun somit der Tatsache gegenüber, dass die russische Partei nach wie vor in zwei Lager gespalten ist, die selbstverständlich, da beide Teile auf dem Boden desselben Programms und im großen und ganzen derselben Taktik stehen, zusammengehören. Und mögen wir diese Tatsache noch so bedauern, über sie noch so tiefen Groll empfinden, so ist es doch notwendig, jedenfalls mit der Spaltung als mit einer Tatsache zu rechnen. Am allerwenigsten wird der bedauerliche und tieftraurige Streit in der Weise aus der Welt geschafft, dass eine der beiden Fraktionen sich partout als die Partei, als die einzige offizielle Vertreterin der russischen Sozialdemokratie auszugeben und die andere als bloß ein Häuflein von unverbesserlichen Krakeelern hinzustellen sucht.

In dieser Weise ist nämlich die Kongressfraktion (die sogenannte Leninsche) verfahren, indem sie ihre Beschlüsse und Resolutionen als Ergebnisse des offiziellen III. Parteitags der russischen Sozialdemokratie in deutscher Sprache herausgegeben und dem deutschen Publikum vorgelegt hat. Wie, nebenbei gesagt, unser Parteiverlag in München dazu kam, sich hierbei in den Dienst einer der streitenden Fraktionen zu stellen, ist uns eigentlich unklar, beruht aber wohl auf ungenauer Orientierung über die Situation im russischen Lager. Doch wie dem auch sei, sucht auf diese Weise eine der beiden Gruppen der russischen Bruderpartei so ziemlich das Unklügste zu unternehmen, was sie in der gegebenen Lage tun könnte, nämlich sich gewaltsam unter Beiseiteschiebung ihrer Rivalin sozusagen den Platz und die Anerkennung in der Internationale zu erzwingen. Dass diese etwas kosakische Art, einen Parteizwist zu lösen, wie sie ein wenig überhaupt das Verfahren und die Auffassung der betreffenden Fraktion leider kennzeichnet, nicht geeignet ist, die russischen Parteiverhältnisse zu sanieren, sondern umgekehrt, bloß das Feuer noch zu schüren, ist ja für jedermann klar. Es war deshalb u. E. ein kluges und anerkennenswertes Wort von Kautsky, als er neulich in der „Leipziger Volkszeitung"4 auf Grund seiner Kenntnis der Personen und der Dinge in der russischen Sozialdemokratie die Parteipresse warnte, durch Übernahme und unwillkürlich verkehrte Glossierung der quasi offiziellen Beschlüsse des russischen Fraktionskongresses die Situation in den Reihen unserer russischen Genossen wider Willen zu komplizieren und zu erschweren.

Nun passiert aber ein drolliges Quiproquo. In der „Frankfurter Volksstimme" vom 17. Juni tritt ein Genosse „gr." hervor, um die deutschen mit den Beschlüssen des quasi allgemeinen russischen Parteitags bekannt zu machen, wobei er das Ansinnen Kautskys entrüstet von sich weist, indem er nachweist, dass es sich gar nicht um zwei Fraktionen handle, sondern einerseits um die Partei im ganzen und auf der anderen Seite bloß um drei Querköpfe – Plechanow, Axelrod und Martow –, die Späne machen. Dies alles beweist „gr." unumstößlich – aus eben dem Bericht der einen Fraktion, die die Existenz der anderen einfach negiert. Da liegt ja aber der Hase im Pfeffer! Es handelte sich für Kautsky gerade darum, die deutschen Genossen davor zu warnen, dass sie die fraktionelle Darstellung der Lage ohne Vorbehalt für bare Münze nehmen. Damit wollte Kautsky sicher nicht sagen – und auch uns fällt es nicht ein, dies zu behaupten –, dass die Angaben der bei Birk in München erschienenen Broschüre etwa absichtliche oder bewusste Verdrehungen der Tatsachen wären. Auf die tatsächliche Einschätzung des Streits wollen wir überhaupt gar nicht eingehen. Aber es ist ja die bekannte in jedem heftigen Parteistreit aufkommende besondere psychologische Erscheinung, dass jede der streitenden Parteien die Dinge in ihrem subjektiven Lichte sieht und darstellt, wobei sie bei voller innerer Ehrlichkeit und im besten Glauben die größten objektiven Verkehrtheiten an den Tag legen kann. Es handelt sich denn auch nicht etwa darum, nur die Darstellungsweise und die Auffassung der einen Fraktion zu verpönen, sondern darum, keiner von ihnen bei der einseitigen Darstellung der tatsächlichen Kräfteverhältnisse Vorschub zu leisten, um die Erbitterung nicht zu schüren. Wer zwei Streitende aussöhnen will, kann offenbar nicht damit beginnen, vor allem zu erklären, der eine von den beiden existiere überhaupt nicht. Den russischen Fraktionen5 aber zur Aussöhnung zu verhelfen ist zweifellos ein Ziel, dem die deutsche Partei in kräftigster Weise ihre Hand bieten muss. Und Genosse „gr." in der „Frankfurter Volksstimme", der auch in diesem Punkt gegen Kautsky polemisiert, indem er eine eventuelle Vermittlung der deutschen Genossen für völlig überflüssig hält, wird vielleicht angenehm überrascht sein, zu erfahren, dass selbst leitende Genossen jener russischen Parteifraktion, die er für die einzige hält, diese eventuelle Vermittlung auch nicht für überflüssig halten, und zwar nach ihrem Kongress.

1 Der III. Parteitag der SDAPR fand vom 25. April bis 10. Mai 1905 in London statt. Es war der erste Parteitag der Bolschewiki.

2 Nach dem Organisationsstatut der SDAPR hatte der Rat der Partei, dessen Vorsitzender G. W. Plechanow war, das Recht, einen Parteitag einzuberufen. Da Plechanow jedoch die Einberufung eines Parteitages ablehnte, ergriffen die Bolschewiki die Initiative. Eine Beratung von 22 Vertretern bolschewistischer Komitees erließ einen Aufruf „An die Partei", sich in Resolutionen für einen Parteitag auszusprechen. Da bis April 1905 die überwiegende Mehrheit der Organisationen der Einberufung eines Parteitages zugestimmt hatte, wurde der III. Parteitag einberufen, obwohl sich der Rat der Partei weiterhin dagegen aussprach.

3 Die Menschewiki, die zum Parteitag der SDAPR eingeladen waren, hatten eine Teilnahme abgelehnt und traten gesondert zusammen. Wegen der geringen Teilnehmerzahl – von nur 9 Komitees waren Delegierte erschienen – bezeichneten sie die Zusammenkunft als Funktionärskonferenz.

4 Karl Kautsky: Die Spaltung der russischen Sozialdemokratie. In: Leipziger Volkszeitung, Nr. 135 vom 15. Juni 1905.

5 In der Quelle: Traditionen.

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