Rosa Luxemburg 19120315 Eine Verteidigung oder eine Anklage

Rosa Luxemburg: Eine Verteidigung oder eine Anklage?

[Erschienen in der „Leipziger Volkszeitung" vom 15. und 16. März. 1912. Nach Gesammelte Werke, Band 3, 1925, S. 514-522]

I.

In einer Zeit, die uns Erscheinungen von dem Maßstab des internationalen Bergarbeiterstreiks1 bringt, fällt es eigentlich etwas schwer sich auf Auseinandersetzungen über eine Materie einzulassen, die mit der Größe der Zeit recht wenig im Einklang steht. Doch müssen gerade aus Rücksicht auf die großen Anforderungen, die der Gang der Entwicklung mit jedem Tage mehr an die Auffassung und die geistigen Horizonte der Partei stellt, auch die taktischen Differenzen in unseren Reihen ausgefochten und zur Klärung gebracht werden. So soll wenigstens in den wichtigsten Punkten die Verteidigung unseres Stichwahlabkommens mit den Fortschrittlern, die im „Vorwärts" vom 5., 6. und 7. März in einer langen Artikelserie2 veröffentlicht worden ist, einer Prüfung unterzogen werden.

Die Verteidigung legt ihr Hauptgewicht auf die allgemeine Situation, aus der das Abkommen entstanden ist. Der Vorstand trieb – wie wir auch annehmen – nicht etwa simple Mandatgeschäfte, er verfolgte vielmehr gewisse politische Zwecke von allgemeiner Bedeutung, er handelte aus einer gewissen Auffassung der politischen Konstellation in Deutschland heraus, und mit dieser Auffassung steht und fällt das Stichwahlabkommen selbst. Sehen wir zu, wie der offizielle Verteidiger des Vorstandes dessen allgemeine Erwägungen schildert:

Welche Möglichkeiten bot uns das Abkommen? Es winkte uns die Aussicht, den schwarz-blauen Block in die Minderheit zu drängen, eine entschieden liberale Mehrheit auch ohne den rechten Flügel der Nationalliberalen zu schaffen und eine Regierung gegen die Linke unmöglich zu machen. Innerhalb dieser Linken musste aber unser Einfluss dominieren. Wir mussten die weitaus stärkste Partei werden, konnten 120 und mehr Mandate gewinnen, und der Liberalismus war ohne uns ohnmächtig, die Fortschrittler durch ihr Stichwahlabkommen mit dem schwarz-blauen Block aufs Tiefste verfeindet, so dass ihnen nichts übrig blieb, als im Reichstag mit uns einen energischen Kampf gegen die Rechte und jedes junkerliche Regime zu führen. Jeder Versuch, zur bürgerlichen Sammelpolitik zurückzukehren, musste ihnen mit einem Schlag ihre besten Elemente abwendig machenm musste ihre Partei selbst unmöglich machen.

Das war die Situation, deren Möglichkeit erstand, wenn es zu einem Stichwahlabkommen zwischen uns und den Fortschrittlern kam."

Hier haben wir den Schlüssel zum Verständnis der Taktik des Parteivorstandes, auf diese allgemeine Auffassung muss sich deshalb die größte Aufmerksamkeit der Partei konzentrieren. Demnach hat der Vorstand gleich nach der Hauptwahl folgende politische Ansichten verfolgt:

Nr. 1. Es bildet sich in Deutschland eine bürgerliche Linke, unter Ausschluss der rechtsstehenden Elemente des Nationalliberalismus, also von entschiedener liberaler Couleur.

Nr. 2. Die bürgerliche Linke verfeindet sich aufs Tiefste mit der Reaktion.

Nr. 3. Dieselbe bürgerliche radikale Linke bildet mit uns zusammen eine entschiedene Mehrheit des Deutschen Reichstages.

Nr. 4. Innerhalb dieser entschiedenen linken Mehrheit des Reichstags bilden wir Sozialdemokraten unsererseits die entschiedene, tonangebende Mehrheit und lenken so, wie Apoll, stehend den Wagen der deutschen Politik der rosenfingrigen Morgenröte entgegen, während die Kopsch und Wiemer als schnaubende Rosse den Wagen ziehen, die Bassermann aber und Schönaich-Carolath ihn als holde Musen umflattern. Dies waren, nach dem Verteidiger des Stichwahlabkommens, die Perspektiven, die der Vorstand im Geiste sich öffnen sah.

Das Bild ist von beklemmender Schönheit, und es ist schon begreiflich, dass es auch wetterharte Gemüter verlocken konnte. Es fragt sich bloß, welche Circe hat unseren Parteivorstand mitsamt seinem Verteidiger behext, dass sie mitten am hellichten Tage so seltsame Bilder erblicken konnten? Wiemer und Kopsch – „aufs Tiefste verfeindet" mit der Reaktion! Fischbeck und Müller-Meiningen, ja, die Hälfte der Fraktion Drehscheibe Arm in Arm mit uns im Kampfe gegen die Reaktion! Und das alles nach dem Hungerzolltarif, nach den Hottentottenwahlen, nach dem Bülowblock, nach der Nachwahl in Gießen-Nidda, nach der Reichsversicherungsordnung! Vergessen mit einem Schlage der Militarismus, die Monarchie, die Kolonialpolitik, indirekte Steuern, Sozialpolitik, Imperialismus – die ganze reichsdeutsche Politik mit ihren heiligsten Traditionen steht auf dem Kopf, denn plötzlich hat sich zwischen dem Liberalismus und der Reaktion ein Abgrund aufgetan, „jedes junkerliche Regime" ist unmöglich geworden und die Sozialdemokratie bildet die Mehrheit in der Mehrheit des Reichstags, beherrscht also die herrschende Politik!

Und was ist die Zauberrute, durch die plötzlich, in 24 Stunden, diese völlige Umwälzung der deutschen Politik vollzogen werden sollte? Eine geheime Abmachung mit einer Handvoll fortschrittlicher Führer, ein Wahltrick, eine parlamentarische Kulissenschieberei! Man muss gestehen, dass Genosse Kolb in Baden es nie so herrlich weit gebracht hat in der schöpferischen Phantasie der Großblockpolitik, noch im kindlichen Glauben an die magische Wirkung parlamentarischer Kunststücke.

Jede noch so phantastische politische Spekulation muss irgendeinen Anhaltspunkt in wirklichen Vorgängen, in Tatsachen des realen Lebens haben. Der Tatbestand, der der obigen Spekulation des Parteivorstandes zugrunde lag, war nach der Erklärung seines offiziellen Verteidigers im „Vorwärts" bescheiden genug: es war dies eben das Angebot des Stichwahlabkommens, das uns von fortschrittlicher Seite gemacht wurde! Vorher, bis zum Tage der Hauptwahlen, lag nicht der geringste Anlass zum Glauben an einen „neuen Liberalismus", an eine „entschieden liberale Linke", an die Zerschmetterung des schwarz-blauen Blocks vor. Der Verteidiger sagt selbst wörtlich:

Bis zum 12. Januar hatte wohl der größte Teil von uns, sicher alle jetzigen Kritiker des Abkommens – was kein Vorwurf sein soll: wir waren der gleichen Ansicht – erwartet, eine starke Zunahme unserer Stimmenzahlen und unserer Mandate werde die gesamten bürgerlichen Elemente in eine Phalanx gegen uns vereinigen. Das entsprach dem Gang der ökonomischen Entwicklung, die den Gegensatz zwischen der bürgerlichen und proletarischen Welt zusehends verschärft, es entsprach auch den bisherigen Erfahrungen bei den Stichwahlen."

Also wohlgemerkt: Punkt bis zum 12. Januar glaubten auch „wir", d. h. der Verteidiger des Parteivorstandes, an die eine reaktionäre Masse, und dies entsprach „dem Gang der ökonomischen Entwicklung" und den „bisherigen Erfahrungen". Bis zum 12. Januar war also von „neuem Liberalismus" weit und breit nicht eine Spur zu entdecken. Erst nach dem 12. Januar geschah etwas „Erstaunliches":

Wie groß unser Erstaunen, als die Fortschrittler diesmal entgegen allen Erwartungen durch unseren überwältigenden Wahlsieg nicht ins Bockshorn gejagt wurden, nicht in den Ruf nach Sammlung aller bürgerlichen Elemente zur Eindämmung der roten Sintflut einstimmten, sondern uns ein Wahlabkommen anboten!"

Diese Tatsache, dass die Fortschrittler, ohne Veranlassung von unserer Seite, uns das Wahlabkommen antrugen, wiederholt der Verteidiger noch mehrere Male, denn hier liegt der Schwerpunkt der Sachlage. Diese bloße Tatsache änderte mit einem Schlage die Situation, sie verriet das Keimen des „neuen Liberalismus" im Busen der Fortschrittler und enthüllte sie als wahre Helden:

Aus bloßem Mandathunger lässt sich das Stichwahlabkommen der Fortschrittlichen Volkspartei nicht erklären. Im Gegenteil, sie gefährdete dadurch jene Mandate, zu deren Gewinnung sie der konservativen Hilfe bedurfte. Es war nur erklärlich dann, wenn den Fortschrittlern der Kampf gegen den schwarz-blauen Block mehr am Herzen lag als die Eroberung von Mandaten."

Der Verteidiger des Parteivorstandes will geflissentlich von der schlichten Tatsache absehen, dass sich die Fortschrittler gegen die Gefährdung ihrer Mandate von reaktionärer Seite durch einfache Mittelchen, wie die Geheimhaltung des Abkommens mit uns, die verschleierte Parole und die gesunden reaktionären Instinkte in ihren eigenen Wählermassen hinlänglich gesichert fühlten. Dass ferner das Abkommen ihrem „Mandathunger" ein Erkleckliches mehr bot, als unsere Jenaer Stichwahlparole, nämlich die freiwillige Preisgabe unsererseits von 16 Wahlkreisen. Doch gegen gewollte Weltfremdheit gibt es keine Mittel, und wir bleiben bei dem „erstaunlichen" Angebot der Fortschrittler.*

Es geschah also nach dem 12. Januar eine „erstaunliche" Tatsache. Eines schönen Morgens erschien, sagen wir, Herr Fischbeck auf dem Parteibüro in der Lindenstraße und sagte: Meine Herren, wollen wir nicht ein Geschäft machen? Wir werden Sie „vertraulich" unterstützen gegen die Konservativen. Sie aber unterstützen uns öffentlich gegen die Konservativen und räumen uns außerdem noch freiwillig 16 Ihrer eigenen Stichwahlkreise. Und da Herr Fischbeck mit einem solchen Angebot erschien, so „erstaunte" der Parteivorstand, blickte seinen ebenfalls erstaunten Verteidiger an und beide begriffen sofort: Aha! da kommt „der neue Liberalismus". Und weil, sagen wir, Herr Fischbeck kam, so verlor plötzlich „der Gang der ökonomischen Entwicklung", der noch bis zum 12. Januar Geltung hatte, jede Bedeutung, und „die bisherigen Erfahrungen bei den Stichwahlen" wurden null und nichtig. Das geheime Angebot eines geheimen Mandatgeschäfts durch irgendeinen Fischbeck im stillen Kämmerlein eröffnete plötzlich neue Perspektiven für die politische Entwicklung Deutschlands, die „entschiedene linke Mehrheit", unsere Herrschaft in dieser Mehrheit, die Zertrümmerung „jedes Junkerregiments" und ähnliche schöne Gegenden. Man muss wiederum gestehen, dass die Großblockphantasien der Genossen Frank und Kolb, die bekanntlich vor zwei Jahren auf der Rede des Ministers Bodmann in der badischen Kammer und dessen öffentlichen Elogen auf die Sozialdemokratie fußten, denn doch eine Art solide Basis hatten im Vergleich mit dem „erstaunlichen" Fundament der Taktik unseres Parteivorstandes.

Man sieht, diese Taktik gleicht einer Pyramide, aber einer Pyramide, die auf dem Kopf steht: sie stützt sich mit ihrer Spitze auf einen winzigen Punkt der Erde und baut ihre breite Basis in die Lüfte. Auf eine solche Lage pflegt aber jach der Sturz zu folgen. Das Stichwahlabkommen, das die Umwälzung der deutschen Verhältnisse herbeiführen sollte, hat versagt. Die herrlichen Perspektiven sind im Reich der Träume geblieben. Das gibt der Verteidiger des Parteivorstandes mit dürren Worten zu:

Das Stichwahlabkommen bot freilich nur die Möglichkeit, dass es so kam, nicht die Gewissheit. Und diese Möglichkeit ist nicht zur Wirklichkeit geworden."

Der „neue Liberalismus" hat also ausgelitten. Nach dem 12. Januar geboren, hat er den Anfang des Monats März nicht mehr erlebt. Was die Zukunft betrifft, so gibt der Verteidiger zum Schluss selbst zu, dass sie eine Wiederholung der „erstaunlichen" Situation wohl nie mehr bringen wird. Also war die ganze himmelstürmende politische Spekulation, auf der das Stichwahlabkommen beruhte, nach eigenem Geständnis seines offiziellen Verteidigers, eine Eintagsfliege, ein Kartenhaus, eine Luftspiegelung. Und mit solchen windigen Spekulationen, die nicht zwei Monate lang dem tatsächlichen Gang der Dinge standhalten können, vermeinte man eine historische Erscheinung von dem Maßstab und der Tragweite der deutschen Reaktion zu „zertrümmern"! Solchen Seifenblasen, die beim ersten Hauch zerplatzen, jagen nach den Darlegungen des Zentralorgans Politiker nach, die berufen sind, in einer ernsten geschichtlichen Situation Führer einer Viermillionenpartei zu sein! Wahrhaftig, selten ist ein Verteidiger so zum Ankläger der Sache geworden, deren Verteidigung er übernommen hat.

II.

So originell wie in der Begründung des Stichwahlabkommens durch die allgemeine Situation, ist die Verteidigung in der Analyse des Inhalts dieses Abkommens. Der Verteidiger im „Vorwärts" zählt drei Punkte auf, die der Kritik unterzogen worden sind: 1. die Befreiung der fortschrittlichen Kandidaten von der formellen Verpflichtung auf die Bedingungen des Jenaer Beschlusses; 2. die verschleierte Parole der Fortschrittler zu unsern Gunsten; 3. die „Dämpfung" des Wahlkampfes in 16 Wahlkreisen. Die ersten zwei Punkte erklärt der Verteidiger für belanglos, den dritten aber wichtigsten und am meisten beanstandeten – gibt er selbst preis. Freilich tut er das erst nach mühevollen Versuchen, den Vorstand auch hier heraus zu hauen. Zu diesem Zwecke konstruiert er an Stelle der konkreten „Dämpfung", wie sie tatsächlich im Abkommen des Parteivorstandes festgelegt war, aus freien Stücken eine ganz anders gedachte „Dämpfung". Diese sollte lediglich darin bestehen, dass wir uns verpflichteten, nicht die konservativen Wähler durch die Lockungen der Agitation auf unsere Seite gegen die Fortschrittler zu bringen:

Fasst man die „Dämpfung" der Agitation in diesem Sinne auf, dann verliert sie allen Anstrich eines Verbots der Aufklärung der Massen über unsere Ziele,"

nämlich deshalb, weil wir – nach der Meinung des Verteidigers des Vorstandes – bei den Stichwahlen sowieso keine Aufklärung treiben, sondern nur auf bürgerliche, so auch auf konservative Stimmen spekulieren. Wir glauben, dass diese Auffassung unserer landläufigen Stichwahlagitation eine ganz unverdiente Kränkung der Masse unserer Agitatoren im Lande darstellt. Nirgends wird und wurde unseres Wissens je die Stichwahlagitation von der Sozialdemokratie als ein Stimmenfang gegenüber reaktionären Wählern betrieben. Der einzige Unterschied zwischen Hauptwahlen und Stichwahlen ist naturgemäß der, dass man in der Hauptwahl die Kritik gegen alle gegnerischen Parteien richtet, während sie sich bei der Stichwahl auf den einzigen übrig gebliebenen Gegner konzentriert. Daraus folgt aber nicht im Geringsten, dass die Agitation nicht mehr der Aufklärung der Massen über unsere Ziele dient oder dass wir sie gar den konservativen Wählern – falls diese entscheiden – mundgerecht zu machen suchen. Es wird schon vorkommen, dass unsere Genossen bei der Stichwahl in der Hitze des Gefechts da und dort vergessen, vom Sozialismus, von den Endzielen der Sozialdemokratie mit nötigem Nachdruck zu reden, dass sie sich zu sehr auf die negative Kritik der Gegenwartspolitik und der parlamentarischen Tätigkeit des Gegners beschränken. Dass sie aber je bei der Agitation den konservativen Wählern um den Bart gingen, um sie für uns zu gewinnen, eine solche Annahme wäre auch gegenüber jenen Wahlkreisen eine Ungerechtigkeit, die sonst von rein sozialistischer Aufklärung bei der Wahlagitation so wenig wie möglich Wesens machen. Außerdem gehört eine seltsame Abstraktion von aller Praxis und Erfahrung in der Wahlagitation dazu, um annehmen zu können, unsere Agitatoren wären überhaupt imstande, bei der Bekämpfung der Liberalen die Konservativen durch unsere Agitation zu gewinnen. Fällt doch jeder Hieb dieser Agitation gegen die Fortschrittler von selbst mit verzehnfachter Kraft auf die Konservativen zurück, und es ist unmöglich, irgendeine politische Sünde des Liberalismus zu kennzeichnen, ohne damit die Konservativen mit zu brandmarken.

Vor allem aber ist entscheidend nicht die „Dämpfung", die man sich jetzt etwa zur Gewissensberuhigung zurechtlegen kann, sondern diejenige, die in Wirklichkeit, schwarz auf weiß, mit den Fortschrittlern verabredet und unsern Genossen vom Vorstand anempfohlen wurde. Und nachdem der Gewährsmann des Parteivorstandes endlich ganz zum Schluss seiner Artikelserie die fatale Klausel der „Dämpfung" in ihrem wirklichen Inhalt zu erwähnen gezwungen ist, – verurteilt er sie unumwunden:

Wenn aber das Abkommen zu dieser Dämpfung unter anderem auch die Verpflichtung rechnete, den Wählern keine Stimmzettel zuzustellen und am Wahltage keine Schlepperdienste zu verrichten, so überschritt es damit die Grenzen des der Situation Entsprechenden, ja, des Erreichbaren. Denn den Parteigenossen in den erregten Zeiten einer Wahl unmittelbar vor der Entscheidung jede Betätigung, nicht nur agitatorischer, sondern auch organisatorischer Art versagen wollen, heißt Unmögliches von ihnen verlangen."

Das sind Worte von einer Schärfe, der wir nichts hinzuzufügen haben.

Freilich, der Verteidiger sucht den Parteivorstand selbst in dieser „unmöglichen" Situation zu rechtfertigen, und zwar durch den Hinweis darauf, dass ja diese unmögliche Zumutung gerade durch ihre Unmöglichkeit unwirksam geblieben ist. Die Genossen haben sich in keinem der 16 Wahlkreise – ausgenommen einen: Dithmarschen – an die Weisung des Parteivorstandes gehalten, und so haben wir überall statt Stimmenrückgang einen bedeutenden Stimmenzuwachs erhalten. Hier schlägt aber die offizielle Verteidigung in die schwerste öffentliche Anklage gegen den Parteivorstand um. Schlimm steht es um die Generäle, wenn die Ehre der Armee durch die Gehorsamsverweigerung der Soldaten gerettet wird! In einer großen Massenpartei wie der unsrigen, wo die freiwillige Unterordnung unter den Willen der Mehrheit und ihre frei gewählten Ausführungsorgane das Fundament des ganzen Organisationslebens, die Bedingung jeder geschlossenen Aktion ist, in einer solchen Partei ist strenge Einhaltung der Disziplin die unbedingte Pflicht und Ehrensache für jedermann. Und nun bedenke man: der Parteivorstand gibt ganz bestimmte strikte Anweisungen an die Genossen in 16 Wahlkreisen, wie sie sich bei der Stichwahl verhalten sollen; er fügt hinzu in seinem Rundschreiben vom 17. Januar:

Wir sind überzeugt, dass dieses Abkommen im Parteiinteresse und im allgemeinpolitischen Interesse gelegen ist, und bitten deshalb, die in Frage kommenden Kreise Ihres Bezirks sofort zu informieren und für dessen entschiedene Durchführung unter allen Umständen einzutreten."

Und in 15 von 16 Wahlkreisen wird diese dringende Anweisung der obersten Behörde von den Genossen gleich nach dem ersten Stichwahltage ignoriert, entgegen aller Disziplin missachtet. Nun aber kommt der offizielle Verteidiger des Vorstandes und führt gerade jenen Disziplinbruch als den einzigen mildernden Umstand für die vom Vorstand eingeschlagene Taktik ins Feld! Ist das nicht die gefährlichste Predigt des Disziplinbruches, ist das nicht die Übertragung der Sitten unserer „Geschäftsfreunde", der Fortschrittler, auf unser Parteileben? Und wie steht die Partei heute, angesichts solcher Vorgänge, den badischen und bayerischen Genossen gegenüber da, die sie in der Frage der Budgetbewilligung mit dem Appell an die heilige Pflicht der Disziplin, auch wo sie noch so sehr gegen die eigene Überzeugung der einzelnen drängt, als mit der schärfsten Waffe bekämpft hat? Es genügt, sich diese Fragen zu stellen, um klar einzusehen, wie sehr eine derartige Taktik in ihren weiteren Konsequenzen gegen die Lebensinteressen der Partei verstößt.

Aber der Gewährsmann des Vorstandes geht noch weiter in seiner Verurteilung. Neben der „Dämpfung" in 16 Wahlkreisen war es die Heimlichkeit des Abkommens, was wir am schärfsten kritisierten. Und auch diesen Punkt gibt der anonyme Artikel im „Vorwärts" ohne weiteres preis:

Und ebenso wenig am Platze war die Heimlichkeit, mit der das Abkommen eine Zeitlang behandelt wurde. Gewiss sind vertraulliche Besprechungen in solcher Situation nicht zu umgehen und es geht nicht an, Mitteilungen oder Verhandlungen, die ein Dritter im Vertrauen mit uns gepflogen, ohne seine Zustimmung aller Welt mitzuteilen.

Aber die Ergebnisse solcher Abmachungen, so sie Aktionen unserer Partei bedingen, müssen ihr mitgeteilt werden. Unsere Partei kann und darf keine Verpflichtung eingehen, die sie nicht selbst nachzuprüfen vermag. Sollten die Fortschrittler Grund genug gehabt haben, zu wünschen, dass das ganze Abkommen ein Geheimnis bleibe, dann durfte es überhaupt nicht abgeschlossen werden. So nützlich uns das Abkommen auch erscheint, um den Preis der Umwälzung unserer demokratischen Grundlage durfte es nicht erkauft werden."

Doch genug! Wir überlassen es dem Verteidiger des Vorstandes, selbst festzustellen, wie viel von dem Stichwahlabkommen nach seiner Verteidigung übriggeblieben ist. Nur eine bescheidene Frage sei noch gestattet: muss man denn wirklich, um sich gegen eine derartige Taktik zu wenden, ein „Antiparlamentarier", Anarcho-Syndikalist, Anarchist sein? Der Gewährsmann des Vorstandes macht nämlich den Versuch, indem er auf den bekannten Saiten des Anti-Parlamentarismus und den Schlagworten aus dem Jargon der Syndikalisten leise klimpert, uns in die „antiparlamentarische" Position zu drängen. Die Bewertung des Abkommens des Vorstandes – sagt er – hängt in hohem Maße

von der Bedeutung ab, die man der Stellung und Tätigkeit unserer Partei im Reichstag und den Parlamenten überhaupt für die Klassenkämpfe des Proletariats, dessen Aufrüttelung und Organisierung als Klassenpartei beimisst. Wer darüber geringschätzig denkt, wird natürlich das Stichwahlabkommen verwerfen müssen. Aber mit den Argumenten der direkten Massenaktion, die man dagegen ins Feld führt, könnte man jede Beteiligung an den Stichwahlen, ja schließlich die Wahlbeteiligung selbst für unnütz erklären."

Da wir also von der Stichwahltaktik des Vorstandes nicht entzückt sind – derselben Taktik, die nach dem Feldzug ihres offiziellen Verteidigers im „Vorwärts" ungefähr aussieht wie ein Porzellanladen, in dem ein Faustkampf stattgefunden hat –, so denken wir „geringschätzig" über die Tätigkeit im Reichstag überhaupt, so erklären wir die Wahlbeteiligung selbst „für unnütz". Solche polemischen Wendungen verraten immer nur die Verlegenheit. In Wirklichkeit ist es klar, dass nichts imstande ist, den parlamentarischen Kampf der Sozialdemokratie in den Augen der Massen so zu kompromittieren, für den rohen antiparlamentarischen Aberglauben in der Art des französischen Syndikalismus so sehr den Boden zu bereiten, wie gerade parlamentarische Illusionen und parlamentarische Kulissenschiebereien in der Art unserer jüngsten Taktik bei den Stichwahlen.

Dafür zum Schluss nur noch ein Beispiel. Der Verteidiger Im „Vorwärts" findet, in seinem verzweifelten Suchen nach vorteilhaften Seiten des Stichwahlabkommens, wenigstens eine gute Seite. Nachdem er zugegeben, dass die schönen Perspektiven, die sich der Vorstand von der „entschiedenen linken Mehrheit" ausgemalt hatte, nicht zur Wirklichkeit geworden sind, sagt er:

Aber nicht nur Mandate haben wir durch das Stichwahlabkommen gewonnen, wenn auch nicht so viele, als möglich gewesen wäre, wir haben dadurch auch verhindert, dass die Regierung eine feste Mehrheit erhielt. Haben wir nicht jene überragende Position erobert, die uns in Aussicht stand, so ist es uns doch gelungen, Reaktion und Regierung zur Ohnmacht zu verurteilen.“

So steht zu lesen im Zentralorgan der deutschen Sozialdemokratie vom 6. März 1912. Reaktion und Regierung sind jetzt in Deutschland „zur Ohnmacht verurteilt"! Als uns vor zwei Jahren die Genossen Kolb und Frank ähnliche Wunder über das Großherzogtum Baden erzählten, um damit ihre Haltung bei der Budgetabstimmung zu rechtfertigen, da beriefen sie sich wenigstens auf die „besonderen süddeutschen Verhältnisse" des Musterländles und auf die unzweifelhafte Tatsache, dass ja die schlimmsten Träger und Äußerungen der deutschen Reaktion: Militarismus, Kolonialpolitik, auswärtige Politik, Zollpolitik, indirekte Steuern – aus dem Gebiet des badischen Landesparlaments ausgeschlossen sind. Jetzt erzählt man uns, im Deutschen Reichstag, im ganzen Deutschen Reich sei es uns gelungen, „Regierung und Reaktion zur Ohnmacht zu verurteilen"! Die nächste Militärvorlage und Marinevorlage werden also wohl „ohnmächtig" in den Papierkorb sinken? Der Kolonialetat wird abgelehnt werden, das nächste Steuerbukett wandert dem „ohnmächtigen" Herrn Wermuth wieder an die Brust und Bethmann Hollweg, Kiderlen nebst ihren unverantwortlichen Auftraggebern lassen die Zügel der auswärtigen Politik des Deutschen Reiches aus der „ohnmächtigen" Hand entgleiten, worauf der Imperialismus seinerseits in Ohnmacht fällt. Wir wissen nicht, was man sich eigentlich in den Kreisen unseres Parteivorstandes und Zentralorgans bei solchen Äußerungen denkt, jedenfalls aber möchte man unwillkürlich dabei den Seufzer ausstoßen: Behüte uns das gütige Schicksal davor, dass solche gefährlichen und verwirrenden Illusionen in den Parteikreisen Glauben und in den Massen Eingang finden sollten! Und in diesen phantastischen Vorstellungen, die dem Abkommen des Parteivorstandes zugrunde lagen, die sich an dasselbe jetzt noch, nach seiner Niederlage, knüpfen, sehen wir die fatalste Seite des Vorkommnisses. Ein vereinzelter taktischer Missgriff kann, wenn er rechtzeitig erkannt wird, für die Zukunft vermieden werden. Aber solche allgemeinen politischen Illusionen über die Wunderwirkungen der parlamentarischen Schiebungen, solche völlige Verkehrung der nächsten Perspektiven der politischen Entwicklung sind von dauernd schädlicher Wirkung. Denn sie verschütten die eigentlichen Quellen unserer Kraft: klares Bewusstsein, kritische Einsicht in die Bedingungen unseres Kampfes und unseres Sieges.

1 England und Ruhrgebiet.

2 Von Kautsky verfasst.

* Da der Verteidiger des Parteivorstandes den Nachdruck gerade auf den Umstand legt, dass die Fortschrittler den ersten Schritt zu uns getan haben, so darf es nebenbei einigermaßen befremden, dass der „Vorwärts" auf die zweimalige dreiste Erklärung des „Berliner Tageblattes", worin jene Behauptung im „Vorwärts" Lügen gestraft und der Welt angedeutet wird, dass umgekehrt unser Parteivorstand den Fortschrittlern nachgelaufen wäre, nicht mit einem Sterbenswort geantwortet hat.

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