Rosa Luxemburg 19120301 Unser Wahlsieg und seine Lehren

Rosa Luxemburg: Unser Wahlsieg und seine Lehren

Rede am 1. März 1912 in Bremen

Nach einem Zeitungsbericht

[“Bremer Bürger-Zeitung” Nr. 53 und 54, 2. und 4. März 1912, der eigentliche Redetext nachgedruckt in “Freie Volkszeitung”, 5. und 6. März 1912 und Gesammelte Werke, Band 3, 1973, S. 124-133]

Es war eine Riesenversammlung, wie sie unser Verein wohl noch nicht gesehen hat, die gestern unter dem Vorsitz des Genossen Voigt tagte. Tausende füllten den großen Casinosaal. Aus Werkstatt und Fabrik strömten die Genossen und Genossinnen bereits in den späten Nachmittagsstunden herzu, aus Sorge, „sie möchten keinen Platz mehr bekommen”. Und es war wahrlich keine Neugier, die unsere Mitglieder in so großer Zahl zusammenführte. Es war das Bewusstsein der Pflicht, das sie rief. Das Bewusstsein, dass es eine wichtige Sache zu beurteilen und eine bedeutsame Entscheidung zu treffen galt. Schon die Größe der Versammlung war der beredte Ausdruck des Willens der Masse, selbstbestimmend auf den Kampfplatz zu treten und unnachsichtig alles zu bekämpfen, was sich diesem Selbstbestimmungsrecht in den Weg stellt. Schon der Riesenbesuch der Versammlung war ein wuchtiger Protest gegen die Taktik des Parteivorstandes. Und es gilt immer und immer wieder dem Willen der Massen Ausdruck zu geben, dass nun und nimmer hinter ihrem Rücken Entscheidungen getroffen werden dürfen.

Aber nicht allein hierin beruht die Bedeutung der Versammlung. Sie war auch ein erneuter Beweis dafür, dass der Wahlkampf von 1907 in Wirklichkeit keine Niederlage gewesen war — eine Auffassung, die sich zu unserer Freude jetzt auch der rechte Flügel der Partei zu eigen gemacht zu habe scheint — und dass in den Massen das Bewusstsein lebendig ist, den siegreichen Wahlkampf von 1912 zu neuen revolutionären Kämpfen auszunutzen; dass es für diese Kämpfe aber in allererster Linie notwendig ist. Klarheit in den eigenen Reihen zu verbreiten. Es war der unausgesprochene Drang der Massen nach Klarheit über die politische Situation, und es war der Wille der Massen, einer zielklaren Politik des proletarischen Klassenkampfes zuzustimmen, der in dem jubelnden Empfang, mit dem die Genossin Luxemburg, von der man wusste, dass sie wie selten eine berufen ist, Klarheit zu verreiten, begrüßt wurde; der in der atemlosen Spannung, mit der ihre Ausführungen entgegengenommen wurde, der in dem brausenden Beifall, bei ihren Worten folgte, der aber auch in den lebhaften Protesten gegen Diskussionsreden, die die erwünschte Klarheit vermissen ließen; der schließlich in der übergroßen Mehrheit, die der Resolution des Genossen Pannekoek zustimmte, ihren überwältigenden Ausdruck fand

Es ist ein tüchtiges Stück positiver Arbeit, das gestern geleistet wurde. Darin eben beruht die Kraft der sozialdemokratischen Propaganda, dass sie sich in keiner Situation scheut, die Grenzen zwischen der Sozialdemokratie und den bürgerlichen Parteien mit aller Schärfe zu ziehen; dass sie auch den leisesten Versuch verschmäht, Gegensätze zu vertuschen, und erst recht dann, wenn diese Gegensätze sich in den eigenen Reihen auftun; dass sie vor aller Welt und mit aller Klarheit ausspricht, was ist! Es war ein erneutes Bekenntnis zur alten bewährten Taktik des revolutionären proletarischen Klassenkampfes, der die bremische Sozialdemokratie gestern wieder in heller Begeisterung zustimmte.

Das ist die Kraft, die nimmer stirbt! so schwoll es zu Beginn der Versammlung aus dem Munde des Bremer Frauenchors und jubelnd begrüßte brausender Beifall das Lied vom Trutz und Kampf. Jawohl! Ihr seid die Kraft, die nimmer stirbt! Ihr seid die historisch berufenen Träger eines gewaltigen weltgeschichtlichen Ringens. Auf Euren Schultern ruht die Last der Zeit. Würdet Ihr eines Tages der rasenden Ausbetungsgier das unwiderrufliche: Halt! Nicht weiter! entgegenstemmen, so würdet ihr den Moloch Kapital zu Euren Füßen sehen. Denn ihr seid die Kraft!

Resolution.

Die am 1. März tagende Mitgliederversammlung des bremischen sozialdemokratischen Vereins bedauert aufs tiefste das Stichwahlabkommen, das der Parteivorstand mit der Fr. Vp. abgeschlossen hat, da sowohl die Heimlichkeit wie der Inhalt des Abkommens der Natur einer sozialistischen Massenpartei, die nur durch energischen Kampf gegen die ganze bürgerliche Welt ihre Ziele fördern kann, schnurstracks widerspricht.

Sie erklärt jeden Versuch, mit den Fortschrittlichen und den Nationalliberalen eine gemeinsame Politik der Linken zu treiben, für utopisch und nur geeignet, Verwirrung in das Proletariat zu tragen und die Quellen seiner Kraft, sein Klassenbewusstsein und sein revolutionäres Selbstvertrauen zu verschütten.

Sie erachtet es als notwendig, den großen Machtzuwachs, den unser Wahlsieg der deutschen Arbeiterklasse gebracht hat, in erster Linie zu einem neuen energischen Kampf für die Demokratisierung des Staatslebens auszunutzen, einem Kampf, der nicht im Parlament, sondern nur durch Massenaktionen der Arbeitermassen selbst zum erfolgreichen Ausgang gebracht werden kann; und sie betrachtet nach wie vor den Kampf um das preußische Wahlrecht als die nächste Aufgabe der sozialdemokratischen Partei.

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Wir lassen nun die Rede der Genossin Luxemburg im Wortlaut folgen:

Parteigenossen und -genossinnen! Mit einem herrlichen Gefühl des Triumphes und der Freude kommen wir heute zusammen. Auch der Bremer Wahlkreis gehört zu denjenigen, die im vergangenen Wahlkampf von der Sozialdemokratie erobert wurden. Wir haben allen Anlass, auf die gelieferte Schlacht des 12. Januar mit Stolz zurückzublicken. Allein, Parteigenossen, die Sozialdemokratie ist eine Partei des Kampfes, der es nicht vergönnt ist, die Freude eines ausgefochtenen Sieges lange zu genießen. Der Sozialdemokratie ist die Zeit nicht gegeben, auch nur wenige Stunden auf ihren Lorbeeren auszuruhen. Je größer der errungene Sieg, um so größer sind auch die Aufgaben und die Pflicht, die vor uns erstehen. Wir sind eine Partei der Selbstkritik. Wir schöpfen die Richtlinien für unseren Kampf aus unserem Kampfe selbst und aus den täglichen Erfahrungen. Für uns gibt es nirgends eine im Voraus gegebene, in irgendeinem Buche festgelegte Marschroute, an die wir uns, wie der fromme Christ an die Bibel, halten könnten. Wir haben uns nicht etwa an dem herrlichen Sieg des 12. Januar blindlings zu berauschen, sondern wir haben nüchtern, ernst und unerbittlich an uns selbst und an der uns umgebenden Welt Kritik zu üben und uns zu fragen: Welchen Umständen haben wir den Sieg zu verdanken? Was folgt aus diesem Siege, und welche weiteren Aufgaben ergeben sich aus der gewonnenen Schlacht?

Ich habe gesagt, der 12. Januar war ein Tag des herrlichen Sieges für die deutsche Sozialdemokratie. Man kann mehr sagen, er war es für die ganze internationale Arbeiterklasse. Das hat jeder von uns mitgefühlt, als er die Kunde von dem großartigen Siege empfangen hat. Damit will ich nicht den Gedanken ausdrücken, dass wir von dem parlamentarischen Wahlsieg eine neue Epoche der Weltgeschichte erwarten. Wir stehen in der Einschätzung der parlamentarischen Siege auf grundsätzlich anderem Boden als die gesamte bürgerliche Welt. Erinnern Sie sich der Wahlen des Jahres 1907. Sie wurden in der ganzen Welt ausposaunt als eine eklatante Niederlage der Sozialdemokratie. Wir hatten etwa die Hälfte unsrer Mandate verloren. Das war vom Standpunkt des bürgerlichen Parlamentarismus eine regelrechte Niederlage. Es ist richtig, für die bürgerlichen Parteien bedeuten Mandatsverluste eine politische Niederlage für die Partei. Und bei uns? Was hat sich herausgestellt nach der “Niederlage" von 1907? Ihnen, da Sie selbst im Feuer gestanden haben, brauche ich nicht zu sagen, dass wir niemals so mächtig geworden sind wie nach der sogenannten Niederlage von 1907. (Sehr richtig!) Da hat sich herausgestellt, dass Mandatsverluste für uns etwas ganz anderes bedeuten als für die bürgerlichen Parteien. Niemals ist unsere Organisation so in die Breite und Tiefe gegangen wie nach 1907, niemals wurde unsere Presse so ausgebaut und verbreitet, und man kann sagen, ohne die Niederlage des Jahres 1907 wäre nicht der herrliche Sieg des Jahres 1912 gekommen. (Lebhafte Zustimmung.) Und so können wir denn den Schluss ziehen: Die Wurzeln unserer Macht liegen nicht allein in den parlamentarischen Kämpfen, sie kommen nicht allein dadurch unverfälscht zum Ausdruck. Es stellt sich vielmehr heraus, dass die Wurzeln unserer Macht tiefer stecken als in den parlamentarischen Errungenschaften. Was sind die allgemeinen Wurzeln unserer Kraft? Es sind immer dieselben Grundlagen der Klassengesellschaft mit ihrer Ausbeutung und Unterdrückung und ihren sich verschärfenden Klassengegensätzen. Es bleibt immer wahr, was Marx und Engels vor mehr als 60 Jahren formuliert haben als das Grundgesetz der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft: Die kapitalistische Gesellschaft ist nicht imstande, einen Schritt vorwärts zu tun, ohne dass gleichzeitig ihre Totengräber vorwärts schreiten in der Erkenntnis ihrer Macht. So schreiten wir als die Totengräber der kapitalistischen Gesellschaft dank den Siegen im Parlament von einer Etappe zur anderen bis zum endgültigen Siege des Sozialismus.

Was waren nun die näheren Umstände, denen wir den Sieg des 12. Januar verdanken? Es ist außerordentlich wichtig, sich immer wieder zum Bewusstsein zu bringen, woher wir die Kraft schöpfen, damit wir uns keinen Illusionen hingeben. Die Verschärfung der Klassengegensätze und der Ausbeutung in der kapitalistischen Gesellschaft, haben wir sie nicht schärfer zu spüren bekommen in den fünf Jahren von 1907 bis 1912? Jeden Tag bringt die Zeitung neue Meldungen über das gewaltige Zusammenballen des industriellen Finanzkapitals in Deutschland. Deutschland marschiert jetzt förmlich an der Spitze des gewaltsamen Zusammenraffens der Kräfte des Kapitals. Die Macht des Bankkapitals tritt in keinem Lande so deutlich zutage wie in Deutschland in den letzten Jahren. Auch die Macht der Kartelle ist in Deutschland in der klarsten und schärfsten Weise zum Ausdruck gekommen. Den kolossalen Machtzuwachs des herrschenden Kapitals beweist schon die Tatsache, dass die preußische Regierung in das mächtige Kartell der rheinisch-westfälischen Kohlensyndikate als Mitglied eingetreten ist. Um die Bedeutung dieser einfachen Zeitungsmeldung einzusehen, muss man sich erinnern, dass die preußische Regierung noch vor wenigen Jahren den Versuch gemacht hat, mit demselben Kartell einen Kampf auszufechten. Wer ist nun zu Kreuze gekrochen? Das war nicht das Kapital, sondern die Regierung. So zeigt sich, dass das Kapital über alle Schranken, auch über die Regierungspolitik, hinwegschreitet.

Noch eine andere Erscheinung. Sie werden alle mit großer Aufmerksamkeit den Kampf verfolgt haben, der kurz vor der Reichstagswahl im Berliner Metallgewerbe ausgebrochen war. Es kam damals um ein Haar zu einer Aussperrung von 50.000 bis 60.000 Metallarbeitern in Berlin und Umgegend. Es ist im letzten Moment dazu gekommen, dass sich die Arbeiter, wenn auch zähneknirschend, gefügt haben. Ist das das erste Mal? Gerade im letzten Jahre haben wir nicht weniger als drei gewaltige Kraftproben im deutschen Metallgewerbe erlebt, die erste in Hamburg. Schon damals hat das Kapital gedroht, an den gesamten deutschen Metallarbeitern Rache zu nehmen dafür, dass eine kleine Gruppe von Arbeitern es gewagt hat, an den Ketten des Kapitals zu rütteln. Ist es nicht für jedermann klar, dass das nicht alles Zufälligkeiten, sondern Symptome einer allgemeinen Verschiebung der Kräfte sind, die jedem klar zeigen, dass wir nicht herumkommen um eine gewaltige Auseinandersetzung mit dem Kapital? Die ewigen Drohungen mit den Aussperrungen zeigen, dass das Kapital begriffen hat, was das gewaltige Aufstreben und die Organisation der Arbeiterschaft bedeuten. Worum handelt es sich bei den Kämpfen im Metallgewerbe? Beileibe nicht um ein paar Pfennig Lohnzulage. Es handelt sich um ein Prinzip, um Tod und Leben der Gewerkschaft, es handelt sich darum, der Arbeiterschaft die Waffe aus der Hand zu schlagen.

Wir haben noch andere Symptome erlebt, die uns zeigen, bis zu welchem Reifegrad die kapitalistische Entwicklung in Deutschland gekommen ist. Erinnern Sie sich der eigentümlichen Nachrichten, die Sie im vergangenen Sommer von den verschiedensten Seiten zu lesen bekamen. Da kamen Nachrichten aus Frankreich, dass in den großen Städten die Arbeiterschaft, voran die Frauen mit den Kindern auf den Armen, auf die Straße gingen und vor Hunger Krawalle gemacht haben. Solche Nachrichten kamen auch aus Belgien und England, sie kamen auch schließlich aus Wien, aus dem gemütlichen Wien, wo die liebenswürdigsten Verhältnisse zwischen Polizei und Einwohnerschaft bestehen. Dort wurden auf die hungernden Massen die ersten Schüsse abgegeben. (Pfuirufe.) Wenn ich sage, es seien merkwürdige Symptome, so ist damit nicht ausgesprochen, dass der Hunger eine Ausnahmeerscheinung der kapitalistischen Gesellschaft ist. Was wir im vergangenen Jahre erlebten, war keine Krise, für die die arbeitenden Massen immer die Kosten zu tragen haben, sondern wir erleben seit ein paar Jahren eine zunehmende Hochkonjunktur des Kapitalismus, das heißt, wir leben in einer Zeit, wo der Kapitalist die glänzendsten Geschäfte macht. Und während dieser Zeit mussten die Massen der Arbeiterschaft auf die Straße steigen und gegen den Hunger demonstrieren. Das sind Erscheinungen, die wir früher nicht erlebt haben. Das ist ein Beweis, dass die kapitalistische Ausbeutung eine noch nie dagewesene Höhe erreicht hat.

Es gibt noch eine Erscheinung, die nur genannt zu werden braucht, um uns zugleich eine Menge von Zusammenhängen politischer und internationaler Natur vor die Augen zu rufen, um uns zu zeigen, wohin der Kurs der bürgerlichen Gesellschaft geht. Ich meine das Überhandnehmen des Imperialismus. Die Marokkoaffäre hat gezeigt, dass Deutschland sich mit einem Panthersprung in die uferlosen Gefahren des Imperialismus gestürzt hat. Man hat uns verlacht und verhöhnt, weil wir der sogenannten Katastrophentheorie huldigen. Erleben wir nicht jetzt eine kapitalistische Katastrophenpraxis? Leben wir nicht in einer Zeit, wo der Weltkrieg zu einer zunehmenden Gefahr geworden ist? In Deutschland selbst hat die kleine Marokkoaffäre wie ein Erdbeben gewirkt. Wenn sich die Bethmann Hollweg, Kiderlen-Wächter hinstellten und sagten, dass sie und der deutsche Kaiser diejenigen gewesen seien, die im letzten Moment den Frieden erhalten hätten, so wissen wir, was von diesem Gerede zu halten ist. Wir kennen die Friedensengel auf den Thronen. Wenn die Gefahren des Krieges noch im letzten Moment beseitigt wurden, so ist das dem machtvollen Protest der Sozialdemokratie zu danken. (Lebhafte Zustimmung.)

Noch ein Beispiel, dass die Katastrophenpraxis des Kapitalismus kein Land verschont und wie ein heftiges Gewitter hernieder geht. Blicken Sie auf das unglückliche Persien. Dort spielt sich wieder ein weltgeschichtliches Drama vor unseren Augen ab. Unter der Deckung des Lärms, der im Westen entstanden ist, haben Russland und England die Zeit für gekommen erachtet, sich auf eine neue Beute zu stürzen. Die Aufteilung Persiens schafft wieder neue Gegensätze auf dem asiatischen Kontinent. Auf diese Weise kommen wir um die Gefahr eines Weltkrieges früher oder später nicht herum. Es gibt Zeichen und Wunder der Weltgeschichte, die jedem zeigen müssen, mit welchen Riesenschritten die kapitalistische Entwicklung ihrer eigenen Katastrophe entgegengeht. Denken Sie an die Nachrichten, die Sie Tag für Tag aus einem fernen Lande lesen, ich meine China. In China siegt die Revolution. Sind Sie nicht auch aufgewachsen in der Vorstellung, dass das große chinesische Reich, jener bezopfte Koloss im Osten, eine Ausnahme macht unter allen geschichtlichen Gesetzen, dass es ein Land ist, an dessen Grenzen sich alle Stürme der Geschichte ohnmächtig brechen? Und nun auf einmal, während wir uns in Deutschland um den revolutionären Gang der Geschichte herumzanken, hat er in China munter gearbeitet und den Vorhang heruntergerissen und es als ein Land gezeigt, in dem die heftigsten Klassenkämpfe toben. In China hat die Republik gesiegt, und wir in Deutschland, die wir in der Welt voranmarschieren, leben jetzt unter einem chinesischen Mandarinentum. (Große Heiterkeit.)

Unter solchen Zeichen der Weltgeschichte hat die Reichstagswahl vom 12. Januar in Deutschland stattgefunden. Ist es da ein Wunder, dass wir aus dem Mutterboden der revolutionären Entwicklung der Klassengegensätze als die Sieger hervorgegangen sind? Die Geschichte hat für uns gearbeitet, und es ist nur unser Verdienst, die Gesetze der Geschichte zum Ausdruck gebracht zu haben. Aber daraus haben wir auch entsprechende Lehren zu ziehen. Wir haben uns nach dem gewaltigen Siege wieder zu besinnen, wo der Mutterboden unserer Kraft liegt. Ich habe zuvor davon gesprochen, dass uns die sogenannte Niederlage von 1907 so überaus gut bekommen ist. Wir wachsen aus jeder Niederlage zehnmal stärker heraus. Heute stehen wir vor einer gefährlichen Probe. Nun haben wir zu zeigen, dass wir auch Siege zu ertragen wissen. Am 12. Januar haben 4¼ Millionen deutscher Proletarier der Sozialdemokratie ihr Vertrauen ausgedrückt. Die deutsche Sozialdemokratie hat damit ein sehr wichtiges Mandat bekommen, sie hat sich jetzt würdig zu zeigen des Vertrauens der Massen. Wir haben die Pflicht, nach diesem gewaltigen Siege zu zeigen, wie man handelt, um parlamentarische Siege richtig auszunutzen. Wir haben vor allem zu zeigen, wie man die Waffe des Parlamentarismus mit den Grundsätzen des revolutionären Klassenkampfes vereinigen kann. Von diesem Standpunkte aus haben wir die Pflicht, mit unerbittlicher Schärfe unsere eigene Taktik seit den Tagen des 12. Januar nachzuprüfen. Das erste, was einer Prüfung unterliegen soll: die Stichwahltaktik des Parteivorstandes. Zwischen unserem Parteivorstand und der Fortschrittlichen Volkspartei ist es gleich nach dem großartigen Siege des 12. Januar zu einem bestimmten formellen Abkommen in Bezug auf die Stichwahlen gekommen. Ich werde nur die Punkte dieses Abkommens herausgreifen, die besonders unsere Kritik herausfordern. Ich werde mich dabei nicht einlassen auf die Untersuchung der Frage, ob ein Abkommen in Bezug auf Stichwahlen zwischen der Sozialdemokratie und den Liberalen stattzufinden hatte oder nicht. Solche allgemeinen theoretischen Untersuchungen sind wichtig und nützlich, solange sie noch im Bereiche der Theorie bleiben. Jetzt haben wir zunächst ein konkretes Abkommen zu prüfen. Der Parteivorstand hat sich gesagt, er dürfe die große Macht, die uns mit den 4¼ Millionen Stimmen zugestellt war, nicht ungenutzt lassen, um weitere Erfolge praktischer Natur zu erringen. Es war sein Bestreben, soviel wie möglich Mandate für uns bei den Stichwahlen zu retten. Er hat sich auch vorgenommen, die Politik so zu leiten, um womöglich den Schwarz-Blauen Block in die Minderheit zu bringen. Das waren seine Gründe, die der Parteivorstand in vertraulicher Weise der Parteipresse mitgeteilt hat. Jawohl, in vertraulicher Weise. Sie wussten nichts von dem Abkommen. Es war nur ein kleines Häuflein von Genossen, die von dem Abkommen wussten. Die große Masse hat nichts davon erfahren. Das ist der erste Punkt, den ich in schärfster Weise kritisieren möchte. Es ist unerlaubt in der sozialdemokratischen Partei, hinter dem Rücken der großen Masse irgendeine Politik zu treiben. (Sehr richtig!) Die Stichwahlen werden von den bürgerlichen Parteien freilich gewöhnlich im Geheimen gemacht. Warum? Weil die Herrschaften ihre guten Gründe haben, Heimlichkeiten zu treiben, denn ihre Wahlgeschäfte sind Schwindelgeschäfte. Das ist gewöhnlich Prinzipienverrat, der hinter dem Rücken der Wähler getrieben wird. Wir Sozialdemokraten kennen solche Geschäfte nicht, die das Licht der Welt zu scheuen hätten. Fehler werden allerdings überall gemacht, das Schlimmste aber ist, wenn ein Fehler verborgen bleibt. Wir Sozialdemokraten, die wir eine Partei der Massen sind, dürfen nicht über die Köpfe der Wähler hinweg ein Wahlabkommen mit anderen Parteien treffen. Es ist unsere Pflicht als Partei, den Wählern unsere Gründe vorzutragen, damit sie mit vollem Bewusstsein unsere Politik mitmachen. Für die bürgerlichen Parteien sind die Wähler das Mittel zur Eroberung von Mandaten. Für uns ist die Wählermasse der „große Mann", der Geschichte macht. Es ist auch sicher nicht der Wille und die Absicht unseres Parteivorstandes gewesen, geheime Wahlabmachungen zu treffen. Ich war nicht dabei, aber ich möchte meine Hand dafür ins Feuer legen, dass der Vorstand willens war, offen und ehrlich die Sache vor der Welt zu machen. Aber da zeigt sich die erste Folge des Zusammengehens mit der liberalen Partei. Die Fortschrittler haben es machen müssen, weil sie sich vor der Reaktion nicht öffentlich blamieren wollten. (Heiterkeit.) Sie haben gesagt, wie es bei Heine heißt:

Blamier mich nicht, mein schönes Kind,

und grüß mich nicht Unter den Linden;

wenn wir nachher zu Hause sind,

wird sich schon alles finden.

(Heiterkeit.) Die Fortschrittler wollten sich die reaktionäre Kundschaft nicht verderben. Es war nicht das letzte Opfer, das uns das Geschäft gekostet hat. Die Fortschrittler haben sich verpflichtet, uns in 31 Wahlkreisen, wo wir mit Kandidaten des Schwarz-Blauen Blocks im Kampfe standen, zu unterstützen. Dafür haben wir uns verpflichtet, sie in sämtlichen Wahlkreisen zum Siege zu führen, wo sie mit reaktionären Kandidaten in der Stichwahl standen. Glauben Sie nun etwa, dass sich die Fortschrittler bei diesem Abkommen verpflichtet haben, die Parole an die Wähler herauszugeben: Stimmt für die Sozialdemokratie und gegen den Reaktionär? Beileibe nicht. Sie haben sich gesagt, wir können euch da nicht öffentlich unterstützen, das könnt ihr nicht verlangen. Sie begnügten sich mit der Parole, die schwarz-blaue Mehrheit darf nicht wieder in den Reichstag hinein. Man braucht sich nur an die Vorgänge der letzten Jahre zu erinnern, ich erinnere an die Wahl in Gießen-Nidda, um zu wissen, wie viel Disziplin von den fortschrittlichen Wählern zu erwarten ist. Der Parteivorstand hat aber die schönen Versprechungen der Fortschrittler für bare Münze genommen und darauf verzichtet, dass öffentlich eine Parole zugunsten der Sozialdemokratie herausgegeben wurde. Der Parteivorstand hat bei dem Abkommen auch zugestanden, dass in 16 Wahlkreisen, in denen wir im Kampfe gegen die Fortschrittler standen, der Kampf eingestellt wurde, damit unser Kandidat unterliegen, der fortschrittliche dagegen den Sieg davontragen sollte. (Hört! Hört! Pfuirufe.) Die Rednerin verliest diese Stelle des Abkommens, in der es heißt:

Wir verpflichten uns dafür, in 16 Wahlkreisen, wo wir gegen die Fortschrittliche Volkspartei in Stichwahl stehen, den Wahlkampf zu dämpfen."

Das ist ein Ausdruck, der zum ersten Mal in die sozialdemokratische Kampfpraxis aufgenommen worden ist; bis jetzt haben wir nichts gedämpft. (Sehr richtig!) Dann heißt es in den Mitteilungen des Vorstandes über dieses Abkommen an die Presse: „Wir haben uns dagegen verpflichtet, in den vorher bezeichneten 16 Wahlkreisen bis zur Stichwahl keine Versammlung abzuhalten, kein Flugblatt zu verbreiten, keine Stimmzettel den Wählern zuzustellen und am Wahltage selbst keine Schlepperdienste zu verrichten, wogegen es uns freisteht, am Wahltage vor den Wahllokalen Stimmzettel zu verbreiten."

Seit die deutsche Sozialdemokratie besteht, haben wir eine solche Politik noch nicht betrieben, und ich will hoffen, dass die Massen auf dem Posten sind, um zu verhüten, dass ein solches Beispiel Schule macht. (Sehr richtig!) Wir sollen den Wahlkampf dämpfen! Stellen Sie sich vor einen Wahlkreis, in dem ein Genosse als Kandidat figuriert, für den die eigenen Parteigenossen nichts tun dürfen. Der Parteivorstand sagt freilich, wir haben den Fortschrittlern lauter Wahlkreise zugestanden, in denen sowieso für uns keine Aussicht bestand, es waren aber Wahlkreise darunter, in denen wir vor den Fortschrittlern einen Stimmenvorsprung hatten. Bis jetzt war für uns das Mandat nicht das erste, sondern das letzte im Wahlkampf, als das erste gilt immer die Agitation als das Mittel zur Aufklärung und Aufrüttelung der Massen. Was von den fortschrittlichen Versprechungen zu halten ist, zeigt die Tatsache, dass die Fortschrittler am ersten Stichwahltage 16 Wahlkreise an die Reaktion ausgeliefert haben. (Hört! Hört!) Die ganze Rechnung des Parteivorstandes ist also auf Sand gebaut, denn man musste sich von vornherein sagen, an diesen Liberalen ist Hopfen und Malz verloren.

Noch eins sei hervorgehoben. Von jenen 16 Wahlkreisen, die wir selbst den Fortschrittlern preisgegeben haben, haben wir zur Überraschung der Welt zwei gewonnen. (Heiterkeit.) Es hieß, es seien aussichtslose Kreise. Wie ist das gekommen? Als am ersten Stichwahltage die erschütternde Kunde von dem Verrat der Fortschrittler in die Welt telegrafiert wurde, haben sich unsere Genossen gesagt, hol der Teufel diese Abmachungen, und sie haben gesiegt. (Lebhaftes Bravo!)

Was war der allgemeine Zweck des Abkommens? Der Parteivorstand hat die allgemeinen politischen Kombinationen damit verbunden. Es sollte die herrschende Reaktion, der Schwarz-Blaue Block, zerschmettert werden. Ich frage, wer sollte diesen Block zerschmettern? Es erschienen die Herren Kopsch, Wiemer und die schwankenden Gestalten der Fraktion Drehscheibe auf der Weltbühne, um mit der Sozialdemokratie die Reaktion zu zerschmettern. Haben wir nicht im ganzen Wahlkampfe den Wählern bewiesen, dass zwischen den Herren Liberalen, den Helden des Bülow-Blocks, und den rechtsstehenden reaktionären Parteien nur ein feiner Unterschied zu finden ist? Und diese traurigen Helden sollten plötzlich als die Zerschmetterer der Reaktion auftreten? Liegen die Wurzeln der Herrschaft der Reaktion nicht in den Erscheinungen, die ich eingangs geschildert habe? Was kann daraus anderes entstehen als die große Reaktion, die sich auf allen Gebieten zeigt.. Und gegen derartige Erscheinungen will man mit solchen falschen Papieren, wie dem Stichwahlabkommen, aufkommen.

Wir haben uns aus tausendfältigen Erfahrungen überzeugen können, dass es nur ein Mittel gibt, die deutsche Reaktion zu zerschmettern, das ist die große Massenbewegung. (Sehr richtig!) Wir haben ein lebendiges Beispiel vor Augen. Denken Sie an das preußische Wahlrecht. Es hat sich gezeigt, dass auf dem Wege der parlamentarischen Reform die preußische Zwingburg nicht heruntergerissen werden kann, es hat sich herausgestellt, dass nur ein frischfröhlicher revolutionärer Sturm der Arbeiterklasse zum Siege führen kann. (Lebhafte Zustimmung.) Die erste Aufgabe und Pflicht, die sich für uns aus dem Wahlsieg ergab, war, den 4¼ Millionen Wählern zu sagen, ihr habt jetzt eure Macht gezeigt, ihr müsst sie auch zu gebrauchen lernen. Ihr müsst jetzt als Masse auf den Kampfplatz und müsst für das preußische Wahlrecht und für den Achtstundentag auf der Straße kämpfen. Allerdings soll die Masse nicht jeden Freitag und Sonnabend eine Revolution machen. (Heiterkeit.)

Ich habe diese Ausführungen nicht gemacht aus Freude darüber, in der Führung unserer Partei Fehler und Mängel entdeckt zu haben. Wie ge­sagt, Fehler können nicht ausbleiben, aber die Hauptsache ist, dass sie rechtzeitig erkannt werden. Die Fehler der Führer gutzumachen, dazu ist die Masse der Parteigenossen berufen. Bebel hat auf einem der letzten Parteitage die denkwürdigen Worte gesprochen: „Misstraut euren Füh­rern, auch mir!"1 Ich mache jetzt Gebrauch von dieser Auffassung. Es ist damit nicht gesagt, dass wir unsre Führer verdammen und verurteilen wollen. Wer würde einen Moment einen Zweifel daran haben, dass unser Parteivorstand von den besten Absichten geleitet war. Leider ist die gute Absicht in verkehrter Weise zum Ausdruck gekommen. Jetzt hat sich die große Masse der Parteigenossen mit der Aufgabe zu beschäftigen, die richtige Taktik zu finden. Wenn sie dann mit verzehnfachter Kraft dem Ziele der Sozialdemokratie zulenkt, so können wir sagen, dass auch die Fehler nicht umsonst gemacht sind. (Stürmischer, andauernder Beifall.)

* *

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Als erster Diskussionsredner erhielt Genosse Rhein das Wort. Nach den Darlegungen der Genossin Luxemburg, so führte er etwa aus, könnte jemand auf den Gedanken kommen, dass die Geschichte von selbst zu dem Erfolg beim Wahlkampf geführt hätte. Ich sage, man könnte zu dieser Meinung kommen. Bei dem letzten Wahlkampfe haben aber ganz andere Faktoren mitgewirkt, Faktoren, die zu suchen sind in der ungeheuren Kleinarbeit der Genossen, die aber von der Genossin Luxemburg recht wenig in die Wagschale geworfen werden sind. (Lebhafter Widerspruch.) Man könnte nach der Meinung der Genossin Luxemburg der Sozialdemokratie eigentlich nur Niederlagen wünschen (Unruhe, Gelächter) weil uns daraus erst die Kraft erwächst, solche Erfolge zu erringen. Der Spott der Gegner über die “Niedergerittenen” war ganz unberechtigt. Das Wahlresultat von 1907 war keine Niederlage, sondern ein Erfolg der Sozialdemokratie. Man könnte zu dem einen oder anderen Punkte, den die Genossin Luxemburg in ihrem Vortrag berührt hat, Veranlassung haben, eine andere Meinung darzustellen. Ich habe aber nicht das Wort genommen, um darauf im Einzelnen einzugehen, ich will nur zu dem Stichwahlabkommen einige Worte sagen. Ich habe erwartet, dass das Stichwahlabkommen nicht den Kern der Darstellungen der Genossin Luxemburg sein würde. Ich habe etwas Neues von ihr erwartet. Wir haben aber gesehen, dass die Kritik des Stichwahlabkommens den größten Teil der Darlegungen in Anspruch genommen hat. Das ist etwas, was ich nicht schön und richtig finde. Es ist außerordentlich leicht, hier als die flammende Rächerin gegen den Parteivorstand aufzutreten. (Laute, andauernde Protestrufe.) Ich sage, es ist außerordentlich schwer, die Sache richtig abzuschätzen, weil die Genossen den Parteivorstand nicht hören können. Es wäre vielleicht richtiger gewesen, ein Mitglied des Parteivorstands zu dieser Versammlung einzuladen. Ich fühle mich nicht berufen, hier als Verteidiger des Parteivorstandes aufzutreten, weil ich kein Mitglied des Vorstandes bin. Ich bin auch nicht der Vater des Stichwahlabkommens, sondern das Abkommen ist ein ureigenes Produkt des Vorstandes, nicht etwa der Revisionisten. Das Abkommen ist der politischen Situation entsprungen, in der sich der Parteivorstand befand. Das ist nicht genügend gewürdigt worden. Der Parteivorstand war in einer außerordentlich schwierigen Situation, als er über die Frage eines Stichwahlabkommens zu entscheiden hatte. Der Parteivorstand hat geglaubt, im Interesse der Arbeiterklasse und im Interesse der Politik, die zum Nutzen der Arbeiter geführt werden soll, das Abkommen mit den Fortschrittlern zu treffen. Mich hat es auch unangenehm berührt, dass in diesem Abkommen von dem “Dämpfen” die Rede ist. Ich bin fest überzeugt, wenn über das Abkommen in einer solchen Versammlung abgestimmt worden wäre, dann wäre es abgelehnt worden. (Sehr richtig!) In einem kleinen Kreise lassen sich die Gesichtspunkte, die bei einem solchen Abkommen in Frage kommen, aber viel eingehender erörtern. Wenn man sich so in die Lage des Parteivorstandes hineindenkt, so muss man sagen, dass er großen Mut gezeigt hat (Gelächter), als er das Abkommen traf. Vielleicht haben viele von ihnen noch nicht die Gelegenheit gehabt, solchen Mut zu zeigen. (Unruhe.) Genossin Luxemburg hat besonders die Vertraulichkeit des Abkommens getadelt und sie hat gemeint, dass nur ein kleines Häuflein von Genossen damit bekannt gemacht worden sei. Dem Parteivorstande ist es mitgeteilt worden, es hat sich auch eine Konferenz der Parteifunktionäre, die in Berlin tagte, damit beschäftigt. Nach uns gewordenen Darlegungen war es kaum möglich, weitere Verhandlungen darüber zu führen, weil die ganze Sache in wenigen Tagen abgewickelt werden musste. Ich erkenne an, dass die norddeutschen Liberalen einen erheblichen Teil schlechter sind, als die süd- und mitteldeutschen Liberalen. Wenn man aber sagen will, wir hatten durch das Abkommen keinen Erfolg gehabt, sondern die Mandate aus eigener Kraft erzwungen, so ist das einfach nicht wahr. (Gelächter.) Wir sollten uns keine Trugbilder vormachen. Auf der Konferenz der Parteifunktionäre ist ohne weiteres anerkannt worden, dass der Parteivorstand bei dem Abkommen den Erfolg auf seiner Seite hatte. Allerdings ist auch ausgesprochen worden, wenn das nicht der Fall gewesen wäre, dann wäre dem Parteivorstand gehörig der Buckel gewaschen worden. So haben aber eine ganze Anzahl Genossen, die sonst scharf kritisieren, kein Wort zu diesem Abkommen gesagt. (Schlussrufe.) Es ist außerordentlich leicht, ein derartiges Abkommen mit einem solchen Wortschwall abzutun. Man muss die Situation erst von der Stelle aus geschildert erhalten, die das Abkommen getroffen hat, um selbst ein Urteil fällen zu können. Ich bin fest überzeugt, wenn der Genosse Haase Ihnen heute darlegen könnte, auf welchen Gründen der Parteivorstand im Interesse der Partei und der arbeitenden Bevölkerung zu diesem Schritt gekommen ist, dann würden Sie zu einem ganz anderen Urteil kommen. (Widerspruch.) Ich möchte Sie ersuchen, mit Ihrem Urteil so lang zurückzuhalten, bis Sie den Angeschuldigten gehört haben. Ich heiße auch nicht alles gut, was der Parteivorstand gesagt und getan hat, ich fordere aber Gerechtigkeit von Ihnen in der Beurteilung des Abkommens. (Lebh. Beifall.)

Dr. Pannekoek: Ich glauben, dass Genosse Rhein sich irrt, wenn er die Sache so darstellt, als ob es sich hier um ein Gerichtsverfahren handelt, wo man ein Urteil über den Parteivorstand ausspricht. Es handelt sich hier um eine politische Maßnahme, die wir politisch alle imstande sein müssen, beurteilen zu können. Ich glaube, wir müssen für alles, was bei uns unternommen wird, die Verantwortung übernehmen. Deshalb glaube ich auch, dass wir alles, was in diesem Sinne vorgetragen ist, niederlegen und aussprechen müssen in einer Resolution. Redner empfiehlt darauf die Annnahme der Resolution, die bereits in voriger Nummer veröffentlicht wurde.

Waigand: Ich habe hinsichtlich des Stichwahlabkommens eine andere Meinung wie die Genossin Luxemburg. Wenn wir uns in die Situation versetzen, in der der Vorstand das Abkommen treffen musste und wenn wir andererseits berücksichtigen, dass der Vorstand etwas gegen den schwarz-blauen Block unternehmen musste, so können wir dem Vorstand kein Misstrauensvotum ausstellen, wie es die Resolution Pannekoek will. (Widerspruch.) Wer im Wahlkampfe tätig gewesen ist, wird zugestehen müssen, dass der ganze Kampf dem schwarz-blauen Block galt. Wir haben gesehen, dass der schwarz-blaue Block nicht nur die Teuerung haben wollte, sondern dass er auch die Absicht hatte, die Rechte der Arbeiter noch weiter zu schmälern. Mit dieser Politik war nicht nur die Arbeiterschaft, sondern auch ein großer Teil des Bürgertums nicht einverstanden. Diese Kreise, die uns fernstanden, hat der Parteivorstand zum Protest benutzen wollen. Wenn wir 4½ Millionen Stimmen hinter uns haben und eine Reihe Parteigenossen der Ansicht sind, dass unsere Stimmen in der Zahl der Mandate zum Ausdruck kommen müssen, so müssen Kompromisse geschlossen werden. Wer weiß, wenn der Parteivorstand das Abkommen nicht getroffen hätte, wäre vielleicht eine große Anzahl Genossen über den Vorstand hergefallen. Ich möchte Sie ersuchen, die Resolution Pannekoek nicht anzunehmen, sie schafft nur Erbitterung. Man sollte mit der Kritik warten, bis der Parteivorstand seinen Bericht zum Parteitag herausgegeben hat. (Schlussrufe.) Ich ersuche Sie nochmals, lehnen Sie die Resolution Pannekoek ab, wenigstens in ihrem ersten Teil, dem zweiten stimme ich zu.

Holz (mit Beifall begrüßt): Schwadroneure hat es von jeher gegeben, die größten gab es immer in den besitzenden Klassen. Das war schon zu Lassalles Zeiten so, Lassalle sagte schon von der Volkspartei: Ich habe gewiss gute Freude darunter, aber als Partei sind sie nicht zu gebrauchen. (Heiterkeit.) Aber heute kommen noch Schwadroneure und sagen, wir müssen Kompromisse abschließen. Die Genossen werden sich erinnern, dass die Freisinnigen derzeit ihre Abgeordneten bei der Abstimmung über das Sozialistengesetz abkommandiert haben, um die Dauer des Gesetzes zu verlängern. Will man mit solchen Leuten noch Kompromisse abschließen? Ich stehe seit langen Jahren in der Arbeiterbewegung, ich meine, dass dabei nichts für die Arbeiterschaft herauskommt. (Lebhafter Beifall.)

Arfmann: Ich kann die Ausführungen der Genossin Luxemburg in vielen Punkten unterstreichen. Ich weiß, dass viele Ausführungen in Bremen auf fruchtbaren Boden fallen. Ich bin aber nicht der Ansicht, dass wir dem Parteivorstande eine Rüge erteilen sollen; ich meine wir können die Sache weiter verfolgen und den Parteivorstand einladen, um sich vor den Bremer genossen zu rechtfertigen.

Rhein weist in einer persönlichen Bemerkung den von Genossen Holz gebrauchten Ausdruck “Schwadroneure” energisch zurück.

Genossin Luxemburg erhält hierauf in vorgerückter Stunde das Schlusswort. Sie führte u.a. aus: Kehren wir von den kleinen persönlichen Schmerzen zu den großen allgemeinen Schmerzen der Partei zurück. Ich bin den Genossen Rhein und Waigand dankbar, dass sie hier ihre Ausführungen gemacht haben, das gibt mir den Anlass, die Sache in einigen Punkten noch etwas präziser zu fassen. Wir sind eine demokratische Partei, in der die Mehrheit gilt. Wie wollen sie nun eine Taktik festlegen, vor der die Mehrheit nicht zurückschreckt, ohne die Meinung der Mehrheit vorher in einen fassbaren Ausdruck zu bringen? Es ist vollständig verfehlt, von einem Misstrauen gegen den Vorstand zu sprechen. Wir sind hier zusammengekommen, um über eine wichtige Parteiangelegenheit unsere Meinungen auszutauschen. Ich protestiere gegen die Auslegung als ob die Resolution auch nur im Entferntesten eine Verurteilung des Parteivorstandes in sich schließen soll. Es steht hier eine außerordentlich wichtige Parteiaktion zur Diskussion. Die Masse der Genossen ist dazu berufen, hierzu ihre Meinung zu sagen, und sie tun das, indem sie der Resolution zustimmen, die in der objektivsten Weise sagt, wir bedauern die Politik des Vorstandes und wir halten jene Politik für die einzig richtige. Es wird ihre Sache sein, sich so oder anders zu jener Angelegenheit zu stellen, jedenfalls liegt es dem Genossen fern, ihnen eine Meinung zu oktroyieren. Genosse Rhein hat gemeint, sie sollten deshalb noch nicht einer Meinung Ausdruck geben, weil der Parteivorstand noch nicht gesprochen hat. Genosse Rhein möchte gehandelt haben nach dem alten deutschen Sprichwort, “man muss sie hören alle beede”. Ja, Sie haben bloß nicht gemerkt, dass ich damit angefangen habe, mein tiefes Bedauern darüber auszusprechen, dass sich der Parteivorstand noch nicht zu der Sache geäußert hat. (Sehr richtig!) Wir haben nicht die geringste Freude daran, die Sache hinter seinem Rücken zu besprechen. Genosse Rhein hat gemeint, es stimme nicht, dass die Masse der Genossen nicht instruiert worden ist, die Funktionäre wären zu einer Sitzung eingeladen worden. Ich sage, die Masse war und ist zu informieren. Die Funktionäre sind erst informiert worden, als die Sache längst perfekt war. Am 11. Februar hatte die Besprechung mit den Funktionären stattgefunden und die Stichwahlen waren am 25. Januar vorbei. Ich mache dem Parteivorstand nicht den Vorwurf, dass er uns in den wenigen Tagen, wo er mit den Fortschrittlern verhandelte, jedes Wort unterbreitet hat, ich mache ihm nur zum Vorwurf, dass er die Entschließung nicht sofort veröffentlichte, nachdem sie gefallen ist. Das sind wir unseren Wählern schuldig.

Genosse Rhein hat aus meinem Referat die vollständig unbegründete Schlussfolgerung gezogen, wir bräuchten nur die Arme verschränken und das Übrige besorge die geschichtliche Entwicklung. Einen solchen Glauben habe ich nicht einmal gehabt, als ich noch viel jünger war. Das Leitmotiv meiner Rede war von Anfang bis zu Ende, es ist unsere Pflicht, der Masse zu sagen, niemand wird für euch den Sieg erringen, ihr müsst es selbst tun. Und da kommt man mir und sagt, ich hätte gepredigt, wir müssten beide Hände in die Hosentasche stecken und warten, bis die Geschichte uns den Sieg gebracht hat. Das ist das direkte Gegenteil von dem, was ich gesagt habe.

Ich soll auch die Kleinarbeit nicht genügend hervorgehoben haben. Habe ich nicht auf den Ausbau der Organisation und auf den Ausbau der Presse verwiesen? Was habe ich anders getan, als lauter ungenannte Millionen der Hedentaten der Kleinarbeit zu nennen? Ich frage Sie, aus welchem Grunde appellierte ich daran? Ich sage, weil die Masse die Schöpferin unserer Größe ist, haben wir auch kein Recht, ohne die Masse irgend eine wichtige Entscheidung der Partei zu treffen. Ich soll auch so viel gesprochen haben von der Niederlage des Jahres 1907. Genosse Rhein sagte, das sei ja gar keine Niederlage gewesen. Das habe ich ja immer zu beweisen versucht, dass das Wahlresultat von 1907 für uns keine Niederlage war.

Ich habe mir noch eine Sünde zuschulden kommen lassen. Ich habe den Parteivorstand kritisiert, aber ich habe nicht über neue Aufgaben gesprochen. Man kann von mir nicht mehr verlangen als ich geben kann. Ich bin zu arm, um nach jedem Parlamentssieg eine neue Taktik zu erfinden. Ich glaube, die alte ist bei uns gut genug. Wenn der Hinweis darauf, noch mehr wie bisher auf die Masse zu bauen, nicht als neue Aufgabe genügt, so befürchte ich, dass alle anderen neuen Aufgaben, die sie finden, nur schlecht zu unseren Grundsätzen stimmen werden. Genosse Rhein freute sich über den Mut, den der Vorstand bei seiner Entschießung gezeigt hat. Ich bemühe mich auch immer in meiner Tätigkeit, möglichst Mut zu zeigen, ich muss aber sagen, ich freue mich nur über den Mut, der zu etwas Nützlichem und Guten führt. Ich freue mich nicht über den Mut, Dummheiten zu machen. (Heiterkeit.) Es ist nicht meine Absicht und auch nicht meine Gepflogenheit, Begebenheiten aus kleinem vertraulichem Kreise in große Versammlungen zu bringen. . Ich habe nicht an den Verhandlungen teilgenommen, nach dem, was ich davon erfahren habe, glaube ich sagen zu dürfen, dass Genosse Rhein doch ein bisschen schief gewickelt war, als er meinte, das Schweigen der radikalen Genossen in der Sitzung der Funktionäre habe ihre Zustimmung bedeutet. So viel ich weiß, sind die Parteigenossen, die man radikal zu nennen pflegt, derselben Meinung wie ich, dass die Besprechung und Beurteilung so wichtiger Parteiaktionen nicht in das geschlossene Kämmerlein der Funktionäre gehört, sondern vor das Forum der Parteigenossen. (Lebh. Zustimmung.)

Genosse Waigand meinte, der Parteivorstand hätte in der Situation nach dem 12. Januar etwas gegen den schwarz-blauen Block tun müssen, wir hätten überhaupt hauptsächlich gegen den schwarz-blauen Block gekämpft. Ich hatte nicht das Vergnügen, zusammen mit dem Genossen Waigand an Versammlungen teilzunehmen. Ich habe aber versucht, mich auch nach Möglichkeit am Wahlkampf zu beteiligen. Ich habe in 44 Wählerversammlungen gesprochen. (Bravo!) Das ist kein Verdienst. Ich führe das nur an, um zu zeigen, dass ich Gelegenheit hatte, den Wahlkampf aus der nächsten Nähe zu beobachten. Ich kann daraus schließen, dass der Kampf von uns nirgends so geführt worden ist, wie Waigand meint, es war kein Kampf gegen den schwarz-blauen Block, sondern gegen die bürgerliche Gesellschaft. (Lebhafte Zustimmung.)

Die Liberalen sind immer dort am schlechtesten, wo man gerade hinkommt. (Heiterkeit.) Daraus ergibt sich schon, dass der Liberalismus eben nicht nach den Wahlkreisen zu beurteilen ist, sondern dass er eine allgemeine Erscheinung des großen Klassenkampfes ist. Ich will gar nicht bestreiten, dass auch innerhalb des Liberalismus noch kleine Schattierungen sein können, aber wir sollten nichts auf äußere Nuancen geben. Es ist unsere Aufgabe, der Masse immer wieder die ausschlaggebenden großen Gesichtspunkte vor Augen führen. Und von dem Standpunkte aus dürfen wir uns niemals Illusionen hingeben einer gemeinsamen Taktik. Ich will auf die Tatsache hinweisen, dass wir für unsere Auffassung Kronzeugen haben, die allerdings nicht hier im Saale sitzen, aber sie sind von echtem Schrot und Korn. Ich meine die Nationalliberalen im Reichstage. Was hat uns der deutsche Reichstag gezeigt, bei der elenden Katzbalgerei der Nationalliberalen um die Frage, ob die Sozialdemokraten versprochen haben, ein Kaiserhoch im Präsidium auszusprechen oder nicht? Das hat beweisen, dass die ganze Spekulation auf eine Mehrheit der Linken ein Kartenhaus war, das jämmerlich zusammengebrochen ist. Die linke Mehrheit existiert nicht mehr in deutschen Reichstage. Es hat sich gezeigt, dass die große Mehrheit:

Hie Bourgeoisie! Hie Proletarier!

sich Bahn gebrochen hat. Die Präsidentenfrage hat gezeigt, dass die linke Mehrheit zu einer Minderheit der verfemten Republikaner zusammenschrumpfte.

Darum wiederhole ich: Fort mit dem kleinlichen Verdacht, als wären wir hier zusammengekommen, um für den Parteivorstand einen Scheiterhaufen zu errichten. Wer hat von uns eine Freude daran, unsere eigenen Führer klein zu sehen? Wir sind aber dazu da, um ein Urteil auszusprechen, wenn Ihr wollt, dass der Vorstand als mächtiger Lenker der Schlachten dasteht. Woher soll er Anhaltspunkte für eine Entscheidung finden, wenn die Masse das Maul hält? (Lebhafte Zustimmung.) Wir sind hier also nicht zusammengekommen, um zu verdonnern oder zu verurteilen, sondern um Klarheit zu schaffen und auszusprechen was ist. (Stürmischer andauernder Beifall.)

Hierauf wird die Resolution Pannekoek gegen wenige Stimmen angenommen.

Dann wurde die Riesenversammlung gegen 12 Uhr nachts mit einem dreifachen brausenden Hoch auf die Sozialdemokratie geschlossen.

1“Demokratisches Misstrauen und nochmals demokratisches Misstrauen gegen alle ohne Ausnahmen, auch gegen mich. Seht den Führern auf die Finger, seht auch Euren Redakteuren auf die Finger." (Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten in Magdeburg vom 18 bis 24. September 1910, Berlin 1910, S. 253)

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