Rosa Luxemburg 19120229 Unsere Stichwahltaktik

Rosa Luxemburg: Unsere Stichwahltaktik

[Erschienen in der „Leipziger Volkszeitung" vom 29 Februar, 1., 2. und 4. März 1912. Nach Gesammelte Werke, Band 3, 1925, S. 494-513. In den Gesammelten Werke ist als Datum des 1. Artikels der 30. Februar angegeben, den es auch im Schaltjahr 1912 nicht gab]

I.

Anderthalb Monate sind seit der Hauptwahl, ein Monat seit dem letzten Stichwahltage verflossen, und noch hat unser Parteivorstand leider nicht für angezeigt gehalten, das von ihm für die Stichwahlen mit der Fortschrittspartei abgeschlossene Abkommen zu veröffentlichen und vor der Öffentlichkeit zu begründen. Freilich ist es der Parteipresse und den betroffenen Wahlkreisorganisationen vertraulich mitgeteilt worden, was ja zur Ausführung des Abkommens selbst unerlässlich war, ebenso ist der Presse nachträglich eine Begründung zugegangen. Allein die breiten Parteikreise, die Masse der Parteigenossen sind bis jetzt in Unkenntnis über diese wichtige politische Aktion der Partei, deren Erörterung offenbar am geeignetsten dann einsetzen könnte, wenn der Parteivorstand die von ihm im Namen der Partei betriebene Taktik sowie seine Gründe und Erwägungen der Gesamtpartei selbst zur Prüfung unterbreitet hätte. Dass dies bis jetzt nicht geschehen ist, ist umso befremdender, als ja dem Parteivorstand nichts ferner liegt als die Absicht, eine öffentliche Erörterung der Angelegenheit verhindern zu wollen. Das wäre bei dem ganzen Charakter unserer Partei ja auch völlig ausgeschlossen.

Im Grunde genommen gehörte die Abmachung gleich während der Stichwahlen vor die Öffentlichkeit, und selbst Genossen, die mit der Taktik des Parteivorstandes einverstanden sein dürften, werden ihre Heimlichkeit bedauern. Bei bürgerlichen Parteien, die in solchen Gelegenheiten gewohnheitsmäßig Verrat an den eignen Prinzipien verüben, liegt aller Grund vor, das abgeschlossene Schachergeschäft vor dem Tageslicht zu verbergen. Bei der Sozialdemokratie hingegen widerspricht es dem Wesen der Partei, mit andern Parteien geheime Wahlgeschäfte zu betreiben. Niemand verlangt, dass im Laufe der gepflogenen Verhandlungen die vorbereitete Aktion, die sich möglicherweise noch zerschlagen wird, in jedem Stadium an die große Glocke gehängt wird. Ist aber die Abmachung perfekt geworden, so darf sie nicht mehr Sache von Konventikeln bleiben, und es ist auch kein ersichtlicher Grund vorhanden, dass sie's bleibt. Die Sozialdemokratie schließt nie politische Geschäfte ab, deren sie sich zu schämen brauchte oder die auf eine Übertölpelung und Hintergehung anderer Parteien hinausgingen, die sozialdemokratische Politik hat es nicht nötig, auf Schleichwegen zu gehen. Vor allem aber schließt der demokratische Charakter unserer Bewegung geheime Wahlgeschäfte mit fremden Parteien aus. Für uns sind die Wählermassen kein Stimmvieh, wie für die bürgerlichen Parteien, über das man ohne ihr Vorwissen verfügen dürfte, sie sind kein Objekt unserer Politik, sondern deren bewusste, überzeugte Träger. Da jede Wahlabmachung das Tun oder Lassen der Wähler zum Gegenstand hat, so muss sie der Öffentlichkeit sofort bekanntgemacht werden, damit die Wählermassen die Parole mit allen ihren Bedingungen, ihrem Zweck und Hintergrund beurteilen und aus freier Überzeugung befolgen können.

Wir haben auch nicht den geringsten Zweifel, dass nicht unser Parteivorstand der Urheber der Heimlichkeit in dem gegebenen Falle war. Wenn die offizielle Veröffentlichung der Abmachung mit der Fortschrittlichen Volkspartei in ihrem ganzen Umfang unterblieben ist, so geschah es wohl ausschließlich aus zarter Rücksicht auf die Wünsche der Fortschrittler, die sich durch das formelle Geschäft mit der Sozialdemokratie vor den reaktionären Wählern nicht kompromittieren wollten und es vorzogen, nicht Unter den Linden von den Roten gegrüßt zu werden, um sich dafür deren Unterstützung im Stillen desto sicherer zugutekommen zu lassen. Die Heimlichkeit der Wahlabmachung im scharfen Widerspruch mit dem Charakter und den Gepflogenheiten der Sozialdemokratie war das erste – leider nicht das letzte – Opfer, das wir der Bundesgenossenschaft mit dem Freisinn gebracht haben.

Bevor man jedoch die Abmachung selbst näher betrachtet, ist es gut, eine allgemeine Frage aus dem Wege zu räumen. Es finden sich sicher Genossen, die als das Ausschlaggebende an der Sache die Frage betrachten, ob grundsätzlich ein Abkommen zwischen der Sozialdemokratie und den bürgerlichen Parteien zulässig oder verwerflich sei. Wir bekennen, dass wir an dergleichen harmlosen Meditationen (Betrachtungen) in der jetzigen Lage wenig Geschmack finden. Ob ein abstraktes, in der blauen Luft der Möglichkeiten denkbares Abkommen von nicht näher zu bestimmendem Inhalt lobenswert oder tadelnswert sei, das zu untersuchen hätte allenfalls einigen Reiz gehabt, bevor ein konkretes Abkommen abgeschlossen war. Jetzt aber, wo eine faustdicke Tatsache des gegebenen Stichwahlabkommens mit seinem Drum und Dran und seinen handgreiflichen Ergebnissen vorliegt, scheint es uns eine ziemlich müßige Beschäftigung, die „Idee" des Abkommens etwa zu loben oder zu tadeln, die harte Wirklichkeit hingegen für ein nebensächliches Detail zu erklären. Dasjenige Abkommen, das vom Parteivorstand mit den Fortschrittlern abgeschlossen worden ist, fordert die schärfste Kritik heraus, wie man auch grundsätzlich zu Stichwahlabkommen stehen mag.

Wir haben am 12. Januar einen beispiellosen Sieg errungen. Die ganze Welt stand im Banne unserer Machtentfaltung. Wozu brauchte es überhaupt eine Abmachung mit bürgerlichen Parteien? Die Motive des Parteivorstandes, wie er sie der Parteipresse mitgeteilt hat, sind klar: es galt, unsere Machtstellung auszunutzen, um sowohl uns selbst eine möglichst große Zahl von Mandaten zu sichern, wie den schwarz-blauen Block zu zertrümmern. Dazu sollte eine geschickte Stichwahltaktik dienen. Unsere Marschroute für die Stichwahlen war zwar durch den Jenaer Beschluss im Voraus gegeben. Aber so hätten wir ohne jede Gegenleistung unsere Wahlhilfe gewähren müssen. Damit war der Parteivorstand offenbar nicht zufrieden. Es galt, die Macht, die wir nun hatten, nicht ohne Entgelt hinzuwerfen, es galt, sie zu politischen Vorteilen für uns wie für die allgemeine Entwicklung auszunutzen. Und dazu bot sich eben die Gelegenheit. Die Liberalen waren vernichtet, die Fortschrittspartei war wieder wie 1903 auf Null reduziert, sie war also auf unsere Wahlhilfe angewiesen. Aber diese sollte sie nicht umsonst kriegen. Wir waren diesmal in der Lage, ihr Bedingungen zu diktieren, ihr den Anschluss an die Reaktion abzuschneiden, die Wiederholung von 1907 zu verhindern. Sehen wir zu, wie dies bewerkstelligt wurde. Ein praktisches Geschäft will zunächst rein praktisch beurteilt werden.

Auf Grund des Abkommens mit unserm Parteivorstand haben sich die Fortschrittler verpflichtet, uns in 31 genau aufgezählten Wahlkreisen gegen die Reaktion zu unterstützen. Jeder Mensch wird nun erwarten, dass diese Unterstützung in einer klipp und klaren Parole zugunsten der Sozialdemokratie Ausdruck gefunden hätte. Dies war wohl doch das selbstverständliche Minimum, bei dem von Gegenseitigkeit die Rede erst beginnen konnte. Angesichts der notorischen Unzuverlässigkeit der fortschrittlichen Wähler, die bis jetzt, wie alle jüngsten Erfahrungen gezeigt haben, unbekümmert sogar um die offizielle Parole der eigenen Kreisvorstände, fatal nach rechts abschwenkten – man braucht da nur an die Nachwahl des vorigen Jahres in Gießen-Nidda zu denken –, musste eine klare und deutliche Verpflichtung des Zentralvorstandes der Fortschrittlichen Volkspartei zu einer offiziellen Losung für die Sozialdemokratie wohl das Geringste sein, was man verlangen durfte. Es ist auch selbstverständlich, dass unser Parteivorstand eine solche Parole forderte. Doch die Fortschrittler gingen auf diese elementare Bedingung nicht ein. Weshalb? Nun, die Erklärung liegt auf der Hand. Eine offizielle Parole zugunsten der Sozialdemokratie würde die Fortschrittler in den Augen der reaktionären Parteien bloßgestellt haben. Die Fortschrittler wollten eben nicht öffentlich alle Brücken nach rechts abbrechen, ihre Spekulation ging dahin, sich wohl die Sozialdemokratische Wahlhilfe schmecken zu lassen, sich aber dadurch die Hilfe der reaktionären Wähler beileibe nicht ganz zu verscherzen. Es lag also hier, in der Verweigerung der offiziellen Parole zugunsten Sozialdemokratie, dieselbe unehrliche Spekulation der Fortschrittler auf die Gunst der reaktionären Wähler, dasselbe Doppelspiel vor, dem zuliebe auch die Veröffentlichung des ganzen Abkommen unterbleiben musste. Unser Parteivorstand trug seltsamerweise dieser Spekulation Rechnung und verzichtete auf eine offiziell. Parole zugunsten unserer Kandidaten. Letztere sollte lediglich in vertraulichen Zirkularen den Kreisvorständen der Fortschrittspartei mitgeteilt werden, woraus sich ja von selbst ergab, dass die Kreisvorstände meist die empfangene Parole ebenso „vertraulich" weiter behandeln und im eigenen verschwiegenen Busen bewahren würden. Als Äquivalent für die von den Fortschrittlern abgelehnte klipp und klare Parole wurde die Losung erfunden: Es darf die alte blauschwarze Mehrheit nicht wiedergewählt werden. Diese Zauberformel, die sogar der „Vorwärts" in seiner Nummer vom 22. Januar eine „ziemlich zweideutige" nennt, sollte die politische Tugend der fortschrittlichen Wähler ausreichend garantieren. Und damit ist auch buchstäblich alles erschöpft, was uns die Fortschrittler boten.

Dagegen hat sich der Parteivorstand im Namen der Sozialdemokratie verpflichtet, gemäß dem Jenaer Parteitagsbeschluss die Fortschrittler in allen Wahlkreisen, wo sie mit der Reaktion in Stichwahl standen, zu unterstützen. Auch dabei ist den fortschrittlichen Kandidaten sogar der Zwang erspart worden, sich auf die Bedingungen unserer Partei ausdrücklich zu verpflichten. Es sollte als ausreichend die Erklärung betrachtet werden, dass die Bedingungen des Jenaer Beschlusses dem Programm der Fortschrittlichen Volkspartei entsprechen und dass der Kandidat das Programm seiner Partei anerkenne. Dass das offizielle Programm der Fortschrittspartei die in Jena formulierten Bedingungen entsprechen, ja in manchem bedeutend weitergeht, das war eigentlich für unsere Partei keine ganz neue Entdeckung, und würde es nur auf den Wortlaut von liberalen Parteiprogrammen ankommen, dann konnten wir uns in Jena die Mühe sparen, unsere Stichwahlbedingungen zu formulieren. Wenn wir das taten, so war es aus dem wohlerwogenen Grunde, dass für die liberalen Politiker ihr eigenes Programm eben nichts anderes als ein unverbindlicher Wisch Papier geworden ist. Deshalb wollten wir, ohne uns auf die magische Wirkung der liberalen Programme zu verlassen, bindende Erklärungen, persönliche Verpflichtungen uns gegenüber erreichen und deshalb sind auch die Bedingungen so unendlich bescheiden ausgefallen, dass sie sogar bedeutend hinter dem fortschrittlichen Programm zurückblieben. Das war der klare Sinn und Zweck des Jenaer Beschlusses. Aber seine Einhaltung hätte womöglich die Fortschrittler wieder vor ihrer reaktionären Kundschaft in ein schiefes Licht bringen können. Wie dem auch sei, die persönliche Verpflichtung jedes Kandidaten uns gegenüber ist ihnen erlassen und in die nichtssagende Phrase vom fortschrittlichen Programm verwandelt worden.

Allerdings, einen großen Triumph hat unsere Partei bei alledem erlebt: zum ersten Mal war es gelungen, die Fortschrittspartei, deren Statut ausdrücklich erklärt, dass Stichwahlabmachungen Sache der einzelnen Kreise sind, zum Abschluss eines generellen Abkommens, sozusagen zu einem „Zentraltarif" für das ganze Reich zu bringen. Zwar pflegten bis jetzt selbst die Abmachungen und Losungen der Kreisvorstände der Fortschrittspartei für ihre Wähler häufig so gut Luft zu bleiben, wie die Mahnungen des Zentralvorstandes oder des Provinzialvorstandes für die Kreisvorstände. Zwar fehlt der Fortschrittspartei jede stramme Parteiorganisation und jede Parteidisziplin, um solche generelle Abmachungen zu etwas mehr als einem Messer ohne Heft und Klinge zu machen. Zwar wurde der Abmachung durch ihre Heimlichkeit und ihre verschleierte Parole auch noch die Hälfte der Wirksamkeit genommen, die sie etwa hätte haben können. Gleichwohl scheint die Idee der Generalabmachung unserem Parteivorstand in allem Ernst als höchst wertvolle Errungenschaft erschienen zu sein, und es blieb nur übrig, die Probe aufs Exempel wieder einmal zu erleben.

II.

Wäre die Abmachung mit dem Bisherigen erschöpft gewesen, man muss gestehen, dass auch so der Löwenanteil der Vorteile den Fortschrittlern zugesichert war. Aber dabei ist es nicht geblieben. Die Fortschrittler forderten noch mehr. Sie forderten, dass wir ihnen nicht bloß gegen die Reaktion aus der Patsche helfen, sondern dass wir ihnen auch Wahlkreise, in denen wir selbst in Stichwahl mit ihnen standen, freiwillig auslieferten. Dadurch, dass die Fortschrittler keinen Block mit der Reaktion abschlössen und sich die reaktionäre Wahlhilfe womöglich verscherzten, kamen sie in die Gefahr, von uns in einer Reihe von Kreisen geschlagen zu werden. Und von dieser Gefahr sollten wir sie selbst retten, indem wir freiwillig auf den Kampf verzichteten. Die Abmachung mit uns sollte für die Fortschrittler eine Versicherung gegen die Reaktion und eine Rückversicherung gegen uns selbst zugleich sein!

Man könnte über die Dreistigkeit dieser fortschrittlichen Zumutung erstaunt sein, wenn nicht die viel verwunderlichere Tatsache eingetreten wäre: nämlich die Zustimmung unseres Parteivorstandes. Der Parteivorstand hat tatsächlich die folgende Forderung den Fortschrittlern zugebilligt:

In 16 Wahlkreisen (Oberbarnim, Liegnitz, Schönau-Hirschberg, Apenrade-Flensburg, Lauenburg, Querfurt-Merseburg, Hagen, Süd-Dithmarschen, Malchin-Waren, Calw, Balingen, Meiningen, Schaumburg, Lippe-Detmold, Oldenburg, Nordhausen), in denen unsere eigenen Kandidaten in Stichwahl mit Fortschrittlern standen, sollte unsere Partei „den Wahlkampf dämpfen", um den eventuellen Sieg des sozialdemokratischen Kandidaten zu verhindern und den Kreis dem fortschrittlichen Gegner auszuliefern.

Was hier frappiert, ist vor allem die völlig unbegreifliche politische Unterlage. Die leitenden Gesichtspunkte des ganzen Abkommens waren ja: 1. der Zweck, den schwarz-blauen Block zu zerschmettern, 2. uns selbst eine möglichst große Zahl von Mandaten zu sichern. Hier handelte es sich aber um Wahlkreise, die nur entweder dem Fortschritt oder uns zufallen konnten, die also auf jeden Fall der Linken sicher waren. Und gerade diese Wahlkreise sollten wir von vornherein den Fortschrittlern ausliefern. Dabei kamen also nicht mehr politische Gesichtspunkte von allgemeinem Interesse, die fortschrittliche Entwicklung, in Betracht – diese wären ja umgekehrt besser gesichert, wenn die Wahlkreise Besitz der Sozialdemokratie geworden wären –, sondern es kam einfacher Mandatsschacher der fortschrittlichen Partei in Frage. Und dieser Schacher sollte gerade auf unsere Kosten gemacht werden!

Doch nicht bloß der politische Ausgangspunkt des Abkommens kam dabei in Wegfall, sondern es wurden viel wichtigere Grundsätze des sozialdemokratischen Kampfes geopfert. Was hatte nämlich das verschämte Wörtlein „den Wahlkampf dämpfen", das im Sprachlexikon der Sozialdemokratie bisher unbekannt war, zu bedeuten? Weit entfernt von der schönen Vertrauensseligkeit des sozialdemokratischen Parteivorstandes in die „vertraulichen" Zirkulare der fortschrittlichen Parteileitung an ihre Kreisleitungen und in die Verehrung fortschrittlicher Kandidaten für ihr Programmpapier, haben die Herren Fortschrittler unserem Parteivorstand die „Dämpfung" mit der Geschäftsroutine geriebener Kuhhändler haarklein in die Feder diktiert und spezifiziert: der Vorstand hat sich für unsere Partei verpflichtet, in den genannten 16 Wahlkreisen „bis zur Stichwahl keine Versammlung abzuhalten, kein Flugblatt zu verbreiten, keine Stimmzettel den Wählern zuzustellen und am Wahltage selbst keine Schlepperdienste zu verrichten", wogegen es uns „freistand" – die Fortschrittler waren so gnädig, es zu erlauben –, am Wahltage vor den Wahllokalen Stimmzettel zu verbreiten. Letzteres ist uns auch wohl deshalb „freigestellt" worden, weil sonst, bei gänzlichem und unerklärlichem Fehlen sozialdemokratischer Wahlzettel unsere Parteigenossen einen öffentlichen Skandal gemacht und so die Heimlichkeit der ganzen Abmachung gefährdet hätten.

Es ist schwer, diese Zeilen des Abkommens zu lesen, ohne dass einem die Röte der Scham und des Zornes über die fortschrittliche Zumutung ins Gesicht steigt; jedenfalls ist, seit die deutsche Sozialdemokratie besteht, ein ähnliches Wahlabkommen von ihr nicht getroffen worden.

Bisher galt es in der Sozialdemokratie als Grundsatz dass der Wahlkampf in erster Linie und in der Hauptsache der Agitation, der Aufklärung über die Ziele der Sozialdemokratie dient, und in diesem Sinne galt es als heilige Pflicht und als Ehrensache, jeden Tag, jede Stunde des Wahlkampfes zu nutzen, um das Maximum an Agitationsarbeit zu leisten. Hier verbot der Parteivorstand den Fortschrittlern zuliebe unsern Genossen, die Agltation für die eigene Partei zu treiben! – Keine Versammlungen, keine Flugblatter, keine Schlepperdienste. – Sozialdemokraten durften keinen Finger rühren, um in der Stichwahl für die Sozialdemokratie Wähler, Anhänger zu werben. Sie sollten ruhig zusehen, wie die fortschrittlichen Gegner eine eifrige Tätigkeit entfalteten, wie sie die Sozialdemokratie herunterrissen, verleumdeten, von ihren Bestrebungen ein Zerrbild machten, ohne antworten zu dürfen. Und welche Wahlkreise sollten da unter anderm geopfert werden! Es genügt, nur Hagen zu nennen, den ehemaligen Stammsitz Eugen Richters, des gehässigsten Feindes und Verleumders der Sozialdemokratie.

Gewiss, Fragen der allgemeinen Taktik dürfen nicht vom Standpunkt der Kirchturmsinteressen einzelner Wahlkreise beurteilt werden. Kein Opfer darf zu groß sein, wenn es sich um die allgemeinen Interessen der Partei handelt. Aber in der Sozialdemokratie gibt es keinen Gegensatz zwischen Wahlkreisinteressen und Parteiinteressen. Dieser Begriff selbst ist aus der liberalen Praxis geschöpft, wo jeder Wahlkreis auf eigene Faust Politik treibt, mit andern Parteien techtelmechtelt und das eigene Parteiprogramm mit Füßen tritt. Bei uns sind Wahlkreis und Gesamt-Partei eins in dem obersten Interesse der Erweiterung des Klassenbewusstseins und Stärkung der Macht des Proletariats. Gerade von diesem Standpunkt war aber die Auslieferung von 16 Wahlkreisen an die Fortschrittler ohne Kampf ein Schlag nicht gegen die Interessen der Wahlkreise, sondern gegen die Gesamtpartei. Der Schaden wäre vielleicht geringer gewesen, wenn wir den Mut der Konsequenz und der Aufrichtigkeit gehabt hätten um die Kandidaturen in den betreffenden Kreisen offen zurückzuziehen. Damit wäre wenigstens eine klare Lage geschaffen worden. Die Kandidaturen aber aufrechterhalten und zugleich den Genossen verbieten, zu ihren Gunsten irgendetwas zu tun, diese unbegreifliche Taktik musste auf die Parteigenossen erbitternd, auf die Wählermassen aber höchst verwirrend und demoralisierend wirken, in deren Augen es so aussehen musste, als wenn wir eine Art unwürdige Komödie vollführten. Auch diese unserer Partei wesensfremde Zweideutigkeit der Haltung, die nur einer bürgerlich-liberalen Partei anstehen mag, war ein intellektuelles Opfer, das wir der fortschrittlichen Kumpanei gebracht haben.

Es entbehrt nicht eines bitteren Humors, wenn der Parteivorstand sich dabei das Verdienst zuschreibt, durch seine Strategie in den nach seiner Ansicht aussichtslosen 16 Wahlkreisen der Partei Geld und Zeit erspart zu haben. Die Ersparnis bestand nebenbei darin, dass in den betreffenden Kreisen Hunderttausende von Flugblättern bereits fertig gedruckt vorlagen, die nun zu Makulatur wurden, und eine Masse von Versammlungen festgemacht waren, die unter Verlusten wieder abgesagt werden mussten. Doch das Wichtigste scheint vergessen zu sein: nicht Geld und Zeit, sondern Agitation, Werbearbeit, Aufklärung durch Flugblätter und Versammlungen kam hier in Frage, und diese der Partei „erspart" zu haben, dürfte eines von den bescheideneren Verdiensten das Parteivorstandes sein.

Freilich, die Mandate mochten meist aussichtlos gewesen sein. Seit wann ist aber für uns die Frage der Mandate das Ausschlaggebende, und wurde es bis jetzt nicht stets als die verdammte Pflicht und Schuldigkeit der Genossen betrachtet, auch dort, wo vorläufig nicht die geringste Aussicht auf das Mandat besteht, volle und ganze Arbeit zu tun und genau so eifrig zu agitieren, wie wenn der Sieg gesichert wäre? Für die bürgerlich-liberalen Politiker sind Wahlkreise nur dann der Rücksicht wert und die Agitation lohnend, wenn ein Mandat winkt, für die Sozialdemokratie kommt die Agitation an erster und das Mandat an letzter Stelle in Betracht.

Man kann einwenden: es handelte sich ja bloß um die Stichwahlen und die Partei hat seit jeher zwischen Hauptwahlen und Stichwahlen einen Unterschied gemacht. Nachdem in der Hauptwahl die Agitation ohne Zweifel in vollster prinzipieller Schärfe geführt worden war, kamen in den Stichwahlen andere Gesichtspunkte in Betracht. Gewiss, ein Unterschied ist von der Partei zwischen Hauptwahl und Stichwahl stets gemacht worden, doch niemals in dem Sinne etwa, dass die Hauptwahl dem prinzipiellen Kampf gehöre, während die Stichwahl einen Freibrief für beliebige Experimente der sogenannten „praktischen Politik" bedeute. Eine besondere Stichwahltaktik bezog sich überhaupt nur auf die besondere Situation, in die wir kamen, wenn uns die Entscheidung zwischen zwei bürgerlichen Gegnern zufiel. Nachdem wir selbst aus dem Kampffeld ausschieden, war es selbstverständlich, dass wir ernstlich die Frage erwägen mussten, ob und nach welcher Richtung wir unsere Wählerstimmen in die Waagschale werfen sollten. War die sozialdemokratische Vertretung des Kreises unmöglich geworden, dann geboten doch die Klasseninteressen des Proletariats, dass eine möglichst wenig reaktionäre Vertretung gesichert war. So ergab sich für die Stichwahlen die Losung des „geringeren Übels", der die Sozialdemokratie stets treu geblieben ist und gegen die sich bis jetzt nie eine Stimme aus den Reihen der Partei erhoben hat. Damit war aber eine Preisgabe der Prinzipien, ein Mandatsschacher oder eine besondere, im Gegensatz zur Hauptwahl hervorgehobene „praktische Politik" durchaus nicht verbunden. Die Unterstützung des „geringeren Übels" liegt ganz auf der Linie unserer allgemeinen Taktik, wir brauchten nicht ein Jota von unseren Grundsätzen preiszugeben, um diese Taktik zu befolgen – vorausgesetzt allerdings, dass das „Übel" auch wirklich „geringer" war. Das bezog sich aber stets nur auf Fälle, wo wir zwischen zwei Bürgerlichen entschieden. Niemals bestand eine besondere Stichwahltaktik für Wahlkreise, wo wir selbst gegen einen bürgerlichen Gegner kämpften, niemals fiel der Partei ein, freiwillig den Kampfplatz zu räumen, niemals fiel es ihr ein, die eigene Agitation lahmzulegen, um dem bürgerlichen Gegner den Sieg zu erleichtern.

Für diese Bestimmung des Abkommens kann nur eine Erklärung angeführt werden: die Fortschrittler stellten sie als eine Bedingung sine qua non (unerlässliche Bedingung). Wäre sie nicht bewilligt worden, dann hätte sich das ganze Geschäft zerschlagen und die Fortschrittler gingen, „Anschluss nach rechts" zu suchen. Der Parteivorstand stand also in der ganzen Abmachung unter der Drohung des Fortschritts: sonst gehen wir zu der Konkurrenz über! Und das waren wohlgemerkt dieselben Leute, die bei der Beratung der Finanzreform (1909) erklärten, den von der Sozialdemokratie geforderten Ausbau der Verfassung müsse man mit Entrüstung zurückweisen, denn die Verkuppelung dieser Forderung mit der Finanzreform wäre gegenüber der Regierung „Erpressungspolitik und Kuhhandel". Gegenüber der Regierung wollen also die Müller-Meiningen und Kopsch keine Erpressung treiben, bewahre! Aber gegenüber der Sozialdemokratie im stillen Kämmerlein scheint ihnen jede Zumutung erlaubt.

Statt nun auf das fortschrittliche Ansinnen die einzige gebührende Antwort zu geben, nämlich die Kuhhändler mitsamt ihrer „conditio sine qua non" in beschleunigtem Tempo die Treppe hinunter zu befördern, hat ihnen der Parteivorstand alles bewilligt. Und wir müssen vielleicht am Ende noch froh sein, dass nicht statt 16 ganze 20 Kreise, etwa noch Plauen, Lennep-Mettmann, Altena-Iserlohn, freiwillig ausgeliefert worden sind. Das war also die Abmachung „auf Gegenseitigkeit"! Die Situation entbehrt nicht einer grotesken Komik. Dazu brauchten wir also den gewaltigsten Wahlsieg, wie ihn die Welt je gesehen hat, und das stolze Heer von 4¼ Millionen, um uns am andern Tag von einer Partei, die am Boden lag, von einer Handvoll Mandatsjäger und Kuhhändler, die Wahltaktik oktroyieren zu lassen. Der ganze ursprüngliche Zweck und Sinn dieser Abmachung ist dabei so ziemlich auf den Kopf gestellt worden: sie sollte den Anschluss der Fortschrittler an die Reaktion verhindern, und sie war selbst beherrscht von der Rücksicht auf diesen Anschluss, sie sollte uns für die Wahlhilfe auf Grund des Jenaer Beschlusses Gegenleistungen sichern, und sie hat uns statt dessen weitere Zugeständnisse aufgenötigt, an die der Jenaer Parteitag im Traume nicht gedacht hat.

Wir sollten, gestützt auf unsere Macht, Bedingungen diktieren, und wir mussten uns solche diktieren lassen. Soll man sich da wundern, dass sich die jungen Leute von Mosse in ihrer brillanten Laune als Börsenmakler, die ohne einen Heller eigenes Geld ein „goldenes Geschäft" gemacht haben, seit den Stichwahlen gebärdeten, dass es einem förmlich schlecht dabei werden konnte?

Doch suchen wir Trost in größeren Gesichtspunkten und weiteren Perspektiven. Der oberste politische Zweck der Abmachung war ja trotz alledem erreicht. Es war gelungen, die Liberalen von einem formellen Block mit der Reaktion loszureißen, die Wiederkehr von 1907 zu verhüten, und die Gefahr, fürwahr, ist nicht gering gewesen. Schon blies Herr Bethmann Hollweg als Rattenfänger von Hameln die Flöte zur Sammlung. Gleichzeitig mit dem Handel zwischen uns und den Fortschrittlern spannen sich Verhandlungen zwischen Liberalen und der „schwarz-blauen" Rechten. Die Telefonglocke ging hin und her, und die Geschicke Deutschlands hingen an einem Haar. Da haben wir mit entschlossener Hand, wie es in großen Augenblicken der Geschichte geziemt, die 16 Wahlkreise als Speck hingeworfen, und die fortschrittlichen Ratten kamen alle zu uns gelaufen. Nicht genug! Indem wir die Fortschrittler an uns banden, zogen wir indirekt auch die Nationalliberalen von den Schwarz-Blauen weg. Herr Bethmann blieb mit seiner Flöte allein und zog betrübt von dannen, wir aber zogen mit unserm heimlichen Stichwahlabkommen in der Tasche in den Kampf.

Und dieser brachte erst die grausamste Kritik des Abkommens.

III.

Der erste Stichwahltag brachte schon Resultate, die wie eine Bombe in die Taktik des Parteivorstandes einschlugen, und die beiden anderen Tage haben diese Wirkung vollendet. In 31 Wahlkreisen sollte uns die Abmachung mit den Fortschrittlern ihre Hilfe gegen die Reaktion sichern. Was erfolgte nun? 20 Kreise haben die Fortschrittler an die Reaktion ausgeliefert: 16 am ersten Stichwahltag – wovon vier nicht in jenen 31 mitgezählt waren – und je zwei am zweiten und dritten Tage. Wenn wir in den übrigen 15 Wahlkreisen nicht gleichfalls der Reaktion unterlegen sind, so war es nicht etwa, weil die Fortschrittler sich in jenen Kreisen auf ihre Tugend und ihr bindendes Abkommen mit uns endlich besannen. Es war deshalb, weil unser Vorsprung und unsere Reserven in jenen Kreisen stark genug waren, um uns trotz des fortschrittlichen Verrats den Sieg zu sichern. Das Verhalten der Fortschrittler war – und es ist wichtig, sich das zu merken – genau das gleiche am ersten wie am letzten Stichwahltage. Sie zerstoben überall nach zwei Richtungen: ein Teil blieb entweder zu Hause und verriet die Sozialdemokratie passiv, oder lief aktiv zur Reaktion über und fiel uns in den Rücken, ein anderer, kleinerer Teil unterstützte unseren Kandidaten.

Nur einige Beispiele aus Kreisen, in denen wir den Sieg errungen haben.


Fortschrittliche Stimmen in der Hauptwahl

Stimmenzuwachs in der Stichwahl


Potsdam-Osthaveland


11063

Soz. 2794

Kons. 8331


Eschwege-Schmalkalden


5801

Soz. 1561

Antis. 4306


Jena

Nat.-Lib. 4523

Soz. 2783

Fortschr. 5406

Kons. 7100

Altenburg

9723

Soz. 3050

Reichsp. 5995


Jerichow


8291

Soz. 3271

Kons. 5386


Bitterfeld


6670

Soz. 3283

Reichsp. 3951


Elberfeld-Barmen

Nat.-Lib. 11543

Soz. 2579

Zentrum 6076

Reichsp. 16.625

So übte allenthalben die Mehrheit der Fortschrittler an der Sozialdemokratie und dem abgeschlossenen Abkommen formellen Verrat. Nur in Köln, Heilbronn, Straßburg-Land und etwa Düsseldorf und Kalau-Luckau ist die Tugend der Fortschrittler so weit gegangen, dass etwas mehr von ihnen für uns als für den reaktionären Gegner stimmten. Das Stichwahlabkommen ist also nicht in einem einzigen Kreise von den Fortschrittlern voll eingehalten und in allen Kreisen außer etwa vier direkt schmählich verraten worden.

Wie das kam, darüber belehren uns zur Genüge zwei Proben.

Die „Leipziger Volkszeitung" hat am 23. Januar 1912 mitgeteilt, dass die Fortschrittler in Ückermünde-Wollin, trotz der allgemeinen fortschrittlichen Wahlparole, die Stimmabgabe freigaben, und dass eine Aufforderung des Vorsitzenden des preußischen Provinzialverbandes der Fortschrittspartei, Herrn Dohm, dafür zu sorgen, dass der konservative Kandidat nicht gewählt werde, von der fortschrittlichen Wahlkreisleitung und von den liberalen Blättern des Kreises einfach unterschlagen wurde.

Zweites Beispiel: Im Kreise Mansfeld hatten die Parteigenossen, da die fortschrittliche Kreisleitung für uns nicht einen Finger rührte, selbst den Wahlaufruf des Hauptausschusses der Fortschrittlichen Volkspartei als Flugblatt zu verbreiten gesucht. Darauf erschien prompt am Stichwahltage, am 20. Januar, in dem schmutzigen Amtsblättchen von Eisleben, der geistigen Waffe Arendts, die folgende in auffälliger Schrift gesetzte Anzeige:

Im Anschluss an unser gestriges Inserat bemerken wir, dass wir für keinen der beiden Kandidaten Parole zur Stichwahl ausgeben und erklären noch ausdrücklich, um Irrtümern vorzubeugen, dass von unserer Seite nach der Hauptwahl keine Flugblätter verteilt worden sind.

Der Vorstand des Liberalen Vereins für den Stadtkreis Eisleben und die beiden Mansfelder Kreise.“

Und im Anschluss daran mussten sich unsere Genossen von dem Amtswisch den folgenden Faustschlag ins Gesicht gefallen lassen: „Die Genossen bedienen sich also eines ebenso frechen, wie plumpen Schwindelmanövers, was hierdurch festgestellt sei."

So ist die famose Stichwahlabmachung von den Fortschrittlern eingehalten worden. Nicht bloß sind die „vertraulichen" Zirkulare zugunsten der Sozialdemokratie von den fortschrittlichen Kreisleitungen meist zu einem sehr vertraulichen Hausgebrauch benutzt worden, sondern auch die offizielle negative Parole: „Keine Stimme dem Kandidaten des schwarz-blauen Blocks" ist von den Kreisvorständen entweder glatt unterschlagen, wie in Ückermünde, oder gar öffentlich desavouiert worden, wie in Mansfeld.

Diese Vorgänge konnten, so beschämend und empörend sie waren, eigentlich für niemanden eine Überraschung sein. Um sie Punkt für Punkt vorauszusagen, dazu gehörte nur jene bescheidene Prophetengabe, die erforderlich ist, um aus allgemein bekannten Tatsachen folgerichtige Schlüsse zu ziehen. Es gehörte umgekehrt ein wahrhaft erschütternd kindlicher Glaube dazu, zu hoffen, durch die wundertätige Wirkung einer – noch dazu streng vertraulichen – „Zentralabmachung" mit ein paar nichtkommandierenden Generälen in die durch jahrzehntelange Praxis demoralisierten, disziplinlosen Haufen der fortschrittlichen Wähler plötzlich Zucht und Sitte hineinzubringen.

Eine Frage drängt sich bei alledem auf. Nachdem der Telegraph am Abend der ersten Stichwahl die Kunde vom Verrat der Fortschrittler in 16 Kreisen gebracht hatte, war die Abmachung mit den Fortschrittlern bereits gerichtet; sie war null und nichtig geworden. Warum hat der Parteivorstand nicht sofort wenigstens den begangenen schweren Fehler dadurch gutgemacht, dass er die Abmachung als auch für uns nicht mehr bindend öffentlich aufhob und unseren Genossen in den 16 preisgegebenen Kreisen ebenso wie der Presse ihre Bewegungsfreiheit wiedergab? Es scheint uns, dass dies das mindeste war, was die Pflicht erheischte. Leider trat das Gegenteil ein. Der Parteivorstand hat sich vielmehr bewogen gefühlt, den Verrat der Fortschrittler in einer Information an die Parteipresse mit allerlei Umständen zu entschuldigen und so den Ingrimm der Genossen über diesen Verrat zu beschwichtigen, wobei er den Fortschrittlern – in seltsamem Widerspruch mit den Tatsachen – auch noch ein glänzendes Zeugnis für ihr angeblich pflichttreues Verhalten am zweiten und dritten Stichwahltage ausstellte.

Doch die Abmachung des Parteivorstandes sollte auch noch eine andere Korrektur erhalten. Nach der Nachricht von dem Versagen der Fortschrittler haben sich unsere Genossen, außer in einem der 16 „gedämpften" Wahlkreise, nicht mehr an die Abmachung gekehrt und eine energische Agitation entfaltet. Dabei haben wir von den durch den Parteivorstand für aussichtslos erklärten Kreisen zwei gewonnen: Nordhausen sowie den hochwichtigen Kreis Hagen, wo uns christlichsoziale Arbeiter zum Sieg verholfen haben. Und wir hätten sicher noch mehr Wahlkreise erobern können – waren wir doch in mehreren im Vorsprung –, wenn uns die Abmachung mit den Fortschrittlern nicht lähmend uns hindernd im Wege gestanden hätte. So hat sie uns höchstwahrscheinlich die beiden württembergischen Wahlkreise Göppingen und Balingen gekostet. Wir konnten in beiden durch energische Agitation die katholischen Arbeiterwähler gewinnen, die uns sozial unendlich näher stehen als die fortschrittlichen Bourgeois. Statt dessen haben wir sie durch die freiwillige Auslieferung des Balinger Kreises an den unter den katholischen Proletariern wegen seines kulturkämpferischen Bramarbasierens verhassten Haussmann erbittert und uns mit unserm öffentlich vertretenen Grundsatz „Religion ist Privatsache" in ihren Augen in Widerspruch gesetzt. Die Quittung dafür haben wir in Gmünd-Göppingen erhalten.

Die Abmachung des Parteivorstands mit den Fortschrittlern hat also in allen Teilen ein vollständiges Fiasko erlitten. Aber betrachten wir ihre allgemeine Wirkung auf die Parteikonstellation, namentlich auf das Verhältnis zum Schwarz-Blauen Block. Zu diesem Zweck ist es wohl am richtigsten, die Ergebnisse der diesjährigen Wahl mit denen der Hottentottenwahl 1907 zu vergleichen. Zwischen beiden besteht ein direkter Gegensatz. Damals gingen die Liberalen im engen Bündnis mit der Reaktion gegen uns vor, diesmal waren die Fortschrittler an uns durch eine Abmachung direkt gebunden, die Nationalliberalen dadurch indirekt mit der Reaktion entzweit. Was ergab sich aber? Als einziger Unterschied die Tatsache, dass die Fortschrittler 1907 in allen Kreisen wie ein Mann für die Reaktion stimmten, während diesmal eine Minderheit von ihnen für uns und die Mehrheit für die Reaktion stimmte. Im schließlichen Ergebnis bekommen wir jedoch die folgende merkwürdige Tatsache. Bei der Hottentottenwahl haben die Freisinnigen nicht weniger als 32 Wahlkreise an die Reaktion ausgeliefert. So wird bei uns gewöhnlich behauptet, und mit Recht behauptet. Aber damals zählten wir zur „Reaktion" eben — die Nationalliberalen. So zu lesen in der im Selbstverlag des Parteivorstands 1911 erschienenen trefflichen Broschüre „Sünden des Freisinns. Material zur Bekämpfung der Fortschrittlichen Volkspartei", Seite 29:

Von den trotzdem noch erforderlicher Stichwahlen aber entschied er (der Freisinn) wiederum nicht weniger als zweiunddreißig zugunsten der Junker und Junkergenossen! Von den nationalliberalen Mandaten (die hier natürlich mitgezählt sind) einmal ganz abgesehen" usw.

Die Nationalliberalen, die damals (und noch im Dezember 1911, als die Broschüre erschien) „natürlich" zu den „Junkergenossen" zählten, werden jetzt, durch eine plötzliche Änderung — nicht in der Natur der Nationalliberalen, sondern in unserm politischen Wörterbuch — nicht mehr zur Reaktion, sondern zur „Linken" gezählt. Rechnen wir sie auch bei Wahlen 1907 ab und fragen, wie viel Kreise damals die Freisinnigen in der Stichwahl an die Konservativen, Reichsparteiler und Antisemiten ausgeliefert haben, so bekommen wir – die Sache ist auf derselben S. 29 der Broschüre des Parteivorstandes zu finden – sage und schreibe 20! Ein neckischer Zufall hat es gefügt, dass die Zahl der an die Reaktion durch die Fortschrittler 1907 ausgelieferten Wahlkreise aufs Haar mit der von 1912 übereinstimmt. Die Sache ist einigermaßen auffällig. Also 1907 beim Block mit den Konservativen und Antisemiten gegen die Sozialdemokraten und 1912 beim Abkommen mit den Sozialdemokraten gegen die Konservativen und Antisemiten führte die Stichwahltaktik der fortschrittlichen Wähler zu genau derselben Auslieferung von 20 Wahlkreisen an die Konservativen und Antisemiten!

Doch nicht genug. Die andere Seite der Medaille ist das Verhalten der Reaktion zu den Liberalen. 1907 war die Hilfe selbstverständlich gegenseitig, „eine Laus und eine Seele, kratzten sie sich um die Wette". Diesmal entstand ob der durch das Abkommen mit uns bewirkten Parole der Fortschrittspartei im reaktionären Lager Wutgeheul und Zähneklappern. Der Parteivorstand schöpft gerade aus dieser Tatsache die beruhigende Sicherheit, „dass von uns der richtige Weg eingeschlagen war".

Wollen wir auch hier Worte der Parteien durch ihre Taten kontrollieren, so ergibt sich folgendes: die Konservativen, Antisemiten und Reichsparteiler stimmten in allen Wahlkreisen in überwiegender Mehrheit, in mehreren fast wie ein Mann für die Fortschrittler und gegen uns. Hier einige Beispiele:


Hauptwahl

Stichwahl


Göppingen

Soz. 11933

13027

Fortschr. 9445

13602

Kons. 7777

-


Rostock

Soz. 14645

15399

Fortschr. 10823

14471

Kons. 4937

-


Weimar

Soz. 14.250

15756

Fortschr. 7664

13572

Antis. 7503

-

Aber besonders interessant ist es, dass auch in jenen 16 Wahlkreisen, die wir den Fortschrittlern freiwillig räumen mussten, um sie für den verlorenen Anschluss nach rechts zu entschädigen, dass gerade dort die reaktionären Wähler treu und tapfer den Fortschrittlern gegen uns beisprangen. Hier die Beispiele:


Hauptwahl

Stichwahl



Schaumburg

Soz. 3413

3987

Fortschr. 2070

5044

Reichsp. 2583

-

Antis. 766

-




Lauenburg

Soz. 3808

3721

Fortschr. 3344

6807

Kons. 1879

-

Antis. 1969

-

Nat.-Lib. 562

-


Querfurt-Merseburg

Soz. 11128

12433

Fortschr. 10776

16599

Kons. 8653

-


Calw

Soz. 6254

6862

Fortschr. 7626

11280

Kons. 6165

-

So sah das ;, Wüten und Toben" der Schwarzblauen gegen die Fortschrittler in der Praxis aus. Freilich verzichteten die Konservativen diesmal nicht schon in der Hauptwahl auf einige Kandidaten zugunsten des Freisinns, aber in der Stichwahl gegen uns halfen sie den Fischbeck, Braband, Heckscher, Payer, Koch und wie all die Helden heißen, kräftig zum Siege. Leisten wir uns noch den Scherz, zu vergleichen: wie viel Wahlkreise die Reaktion bei den Stichwahlen 1907 den Fortschrittlern gegen uns in die Hände gespielt hatte, so lautet die Antwort (auf S. 30 der Schrift des Parteivorstandes): 15. Und wie viel im Jahre 1912? Um einen weniger, nämlich 14! Die abermalige Übereinstimmung klingt in der Tat wie ein schlechter Witz – auf die Abmachung unseres Parteivorstandes. … Ziehen wir etwa noch die nationalliberalen Gegenkandidaten in Betracht, so sind es wohlgezählte 24 Kreise, in denen die Junck und seinesgleichen, trotzdem sie in unsrem Lexikon nicht mehr zu „Junkergenossen" zählen, von den Junkern und Antisemiten Mann für Mann oder nahezu so unterstützt wurden. Es gelang uns denn auch nur, 6 Kreise gegen diese reaktionäre Hilfe zu erobern. Ziehen wir das allgemeine Fazit, dann ergibt sich die folgende erheiternde oder richtiger betrübende Tatsache:

Mit der Reaktion haben die Liberalen diesmal kein Abkommen getroffen und sie standen für einander treu ein.

Mit uns haben die Fortschrittler ein Abkommen geschlossen und verrieten uns nahezu wie 1907.

Was folgt daraus?

Es folgt etwas höchst Einfaches. Es folgt die alte Lehre des historischen Materialismus von Marx, dass reale Klasseninteressen stärker sind, als „Abmachungen", wie materielle Kräfteverhältnisse der Gesellschaft stärker sind als geschriebene Gesetze. Dass man mit Kulissenschiebereien und diplomatischen Kabinettsstücken nicht scheiden kann, was zusammengehört, und nicht verbinden kann, was sich wie Feuer und Wasser verträgt. Dass man auf die Verstimmungen zwischen bürgerlichen Parteien nicht eine ernste Politik bauen kann. Und kurz und gut: dass die Abmachung des Parteivorstandes mit den Fortschrittlern – in der Sprache Lassalles – ein untauglicher Versuch am untauglichen Objekt mit untauglichen Mitteln war. Es bleibt nur noch, den politischen Grundgedanken dieses Versuchs zu prüfen.

IV.

Als ein Mittel, uns einen großen Mandatszuwachs zu sichern, hat das Abkommen mit den Fortschrittlern, wie gesehen, fast gänzlich versagt. Wo wir der Reaktion mehrere Posten entrissen haben, da brachten wirs aus eigener Kraft fertig, entgegen dem Verrat des größeren Teiles unserer Bundesgenossen. Wo unsere eigene Kraft dazu nicht ausreichte, da lieferten uns die Fortschrittler richtig der Reaktion ans Messer. Und endlich, wo sie uns unzweideutig und energisch beistanden, wie in den paar bayerischen Kreisen, da geschah es nicht auf Grund des Abkommens mit dem Parteivorstand. Vom rein praktischen Standpunkt also hat sich die eingeschlagene Taktik als eine hohle Nuss erwiesen, wie es ja stets der „praktischen Politik" zu ergehen pflegt, wenn sie prinzipielle Standpunkte preisgibt. Wir sind überzeugt, dass ohne das Stichwahlabkommen der Ausfall der Wahlen ein nur wenig verändertes Bild geboten hätte. Haben doch die fortschrittlichen Wähler, die für uns stimmten, allem Anschein nach nicht auf Grund der in ihren Reihen höchst lockeren Disziplin und aus Gehorsam gegen die vielfach gar nicht verbreitete Parole von oben es getan, sondern aus Abneigung gegen die reaktionäre Wirtschaft der Schwarz-Blauen. Ohne das Abkommen hätten sie wahrscheinlich ebenso gehandelt, denn eine allgemeine Hetze gegen die Sozialdemokratie, eine patriotische Hurrastimmung wie im Jahre 1907 war diesmal durch die Situation von vornherein ausgeschlossen. Dieselbe widerspruchsvolle Zusammensetzung der liberalen Wählermassen, die das Abkommen zwischen unserem Parteivorstand und der Fortschrittspartei durchbrochen hat, hätte auch ohne dasselbe die Zersplitterung der fortschrittlichen Wähler bewirkt.

Allein, nehmen wir für einen Augenblick an, wir hätten tatsächlich ohne das Abkommen mit den Fortschrittlern etwa 15-20 Mandate weniger erhalten. Jeder von uns freute sich aufrichtig in dem Augenblick, wo die stolze Zahl von 110 Abgeordneten in den Reichstag Einzug hielt, wo die Verfemten und „Niedergerittenen" von 1907 als die stärkste Fraktion aufmarschierten. Doch von solchen augenblicklichen Empfindungen der Genugtuung dürfen wir uns nicht den Blick für reale Machtverhältnisse trüben lassen. Unser wirklicher Sieg und unsere wirkliche Macht liegen in den Millionen Wählern, die uns die Hauptwahl gebracht hatte, und es ist lediglich der Druck dieser Massen von draußen, die unserer Fraktion im Reichstag ihr Gewicht verleiht, ob die Fraktion um 20 Mann größer oder kleiner ist. Wollte der Parteivorstand den großartigen Sieg des 12. Januar sofort zu einer gebührenden Machtentfaltung ausnutzen – und man hätte allen Grund, sich über eine solche Tatkraft der Führung zu freuen –, so war die gebotene Taktik naheliegend genug! Nicht in einer geschäftigen Jagd nach Mandaten durch ein Techtelmechtel mit dem Liberalismus, sondern durch einen sofortigen Appell zu Massenaktionen größeren Stils im ganzen Lande: für die Eroberung des preußischen, Wahlrechts, für den Achtstundentag, für die Einführung des Milizsystems – so wäre der Wahlsieg zur Machtstärkung des Proletariats und zugleich unserer Position im Reichstag in der einzig richtigen und wirksamen Weise ausgenutzt worden.

Der Grundgedanke der Taktik unseres Parteivorstandes richtete sich leider nicht auf die eigene Massenaktion des Proletariats, draußen, sondern auf parlamentarische Konstellationen im Reichstag, und damit war ihre Aussichtslosigkeit von vornherein gegeben. Was war der leitende Gesichtspunkt dieser Taktik? Die Zerschmetterung des schwarz-blauen Blocks durch die Bildung einer „linken Mehrheit" im Reichstage. Alle Hochachtung vor der kühnen Entschlossenheit, aber der Zweck war so phantastisch wie das Mittel. Der schwarz-blaue Block, das ist nicht eine gewisse Anzahl von Reichstagsabgeordneten, das ist ein gewisses politisches System, das ist die herrschende Reaktion in Preußen-Deutschland, deren Grundpfeiler die volksfeindliche Steuer- und Zollpolitik, die scharfmacherische Sozialpolitik und der Militarismus in seiner neuesten imperialistischen Ausgabe sind. Wir haben in zahllosen Artikeln unserer Presse, in zahllosen Reden in und außer dem Reichstag selbst dargelegt, dass diese Erscheinungen keine Zufälligkeiten, sondern in den wirtschaftlichen Verhältnissen, in der bestimmten Entwicklung der deutschen Bourgeoisie, in der Übermacht des Junkertums, in der Zusammenballung des Großkapitals der schweren Industrie, in dem Hass und der Angst vor der wachsenden Macht des Proletariats, endlich in gewissen Zügen der internationalen Entwicklung des Kapitalismus fest verankert sind. Wir haben selbst hundertmal dargelegt, dass der Knotenpunkt dieser schwarz-blauen Politik Deutschlands in Preußen liegt, wir wissen, dass das stärkste Bollwerk der deutschen Reaktion, der preußische Landtag, noch in den Händen des Junkertums ist.

Und nun sollte all dies plötzlich durch die Zauberwirkung einer schlauen Stichwahltaktik null und nichtig gemacht werden! Die Reaktion sollte in drei Tagen „zerschmettert" werden, und zwar wodurch? – durch eine Verschiebung der Sitze im Reichstage!

Wenn wir sagen, dass die schwarz-blaue Reaktion in den Klassenverhältnissen und der objektiven Entwicklung des deutschen und internationalen Kapitalismus fest verankert ist, so wollen wir beileibe nicht damit behaupten, dass der Kampf und der Sieg über die Reaktion aussichtslos wären. Nichts läge der sozialdemokratischen Politik ferner, als ein solcher Fatalismus! Wir sollten nur aus der Einsicht in die festen Fundamente der Reaktion den richtigen Schluss ziehen, dass sie niemals durch parlamentarische Mittel, durch Wahlschiebereien und Fraktionsabmachungen niederzuringen ist, sondern dass nur große Massenaktionen der Arbeiterschaft draußen im Lande, nur gewaltige Machtentfaltung des Klassenkampfes mit allen seinen Konsequenzen die Reaktion in Deutschland wie in Preußen wirklich zu zerschmettern imstande sind. Wir sollten uns darüber klar sein, dass die Dauer, der Ablauf und die historische Tragkraft dieser Kämpfe so gewaltig sein dürften, dass sie womöglich aus der Frage um die Herrschaft von „Junkern und Junkergenossen" in die Frage von der Existenz der bürgerlichen Gesellschaftsordnung hinüber spielen werden – alles Umstände, die geeignet sind, nicht etwa uns den Mut und die Zuversicht zu rauben, sondern umgekehrt, sie erst recht zu stählen.

Um jedoch solche Aktionen zu ermöglichen, um die Spannkraft der revolutionären Energie in den Massen zu erzeugen und wachzuhalten, dazu ist vor allem nötig Klarheit, dazu ist nötig, keine Illusionen im Volke zu nähren, als oh sich die herrschende Reaktion im Handumdrehen, durch eine geschickte" parlamentarische Taktik „zerschmettern" ließe, und vor allein keine Illusionen darüber, als ob die Volksmasse sich bei dieser großen historischen Aufgabe auf die parlamentarische Mitwirkung des bürgerlichen Liberalismus verlassen könnte.

Die Schaffung der „linken Mehrheit", das war die Kehrseite der phantastischen Hoffnungen auf die Zerschmetterung der Reaktion. Die Fortschrittler sollten plötzlich im Ernst, wie die Franzosen sagen, als ami et cochon, als dicke Freunde mit uns den schwarz-blauen Block in den Grund bohren! Mussten sich da nicht die Wählermassen bei diesen in höchsten Fisteltönen von uns wie von dem Mosseblatt vorgetragenen Melodien verwundert fragen: ja, trauen wir denn unseren Ohren recht, hat man uns nicht erst gestern in den Wahlversammlungen und Flugblättern klar bewiesen, dass der schwarz-blaue Block nur eine Konsequenz des Bülowblocks war, dass die Fortschrittler in der Finanzreform sich nur durch ein Feigenblättchen von den Schwarzblauen unterschieden, dass sie bei der Reichsversicherungsordnung in ihrer Mehrheit zu den Schwarzblauen abschwenkten, dass sie den ganzen verbrecherischen Wahnwitz der Militär-, Marine- und Kolonialpolitik mitmachen? Und diese Leute sollten plötzlich in einer Woche aus verschämten Handlangern der Reaktion zu ihren Zerschmetterern werden? So mussten sich die Wählermassen fragen, und die von uns eingeschlagene Taktik konnte nur die größte Verwirrung anrichten.

Aber die Rechnung der „linken Mehrheit" hatte noch ein größeres Loch. Sie war nicht bloß auf die Fortschrittler, sondern auch auf die Nationalliberalen gebaut, denn nur mit Einrechnung dieser bis auf den letzten Mann konnte sich eine geringe zahlenmäßige Mehrheit ergeben. Und hier schlägt das Phantastische der Rechnung direkt ins Possenhafte um. Wie man in aller Welt auf die Idee verfallen konnte, die schwankenden Gestalten der Fraktion Drehscheibe1, diese Partei, die die ärgsten Scharfmacher, die schlimmsten direkten Feinde der Arbeiterklasse umfasst, zu den „Zerschmetterern" der Reaktion zu zählen, das wird für immer ein holdes Geheimnis der parlamentarischen Selbsttäuschungen bleiben. Es ist klar, dass hier die politischen Folgen des Kompaniegeschäfts mit dem Freisinn auf uns abfärbten, denn es ist ja seine Spezialität, auf den Nationalliberalismus immer zu hoffen, sich immer wieder zu enttäuschen und doch immer wieder zu hoffen, und so in unendlichem Ringen von Wehklagen und ermunterndem Auf-die-Schulter-klopfen fort, während der nationalliberale Held standhaft und unerschüttert bei jeder Probe auf sein Heldentum immer wieder ins Gras beißt. „Und wär' es nur im Grase – in jedem Quark begräbt er seine Nase." Der Bülow-Block war auf einer politischen Zusammenarbeit von Liberalen und Konservativen aufgebaut. Wenn man aber diese Kombination eine Paarung zwischen Karpfen und Kaninchen genannt hat, so war die Kombination der „linken Mehrheit" in einem noch viel höheren Grade auf einer Paarung zwischen Karpfen und Kaninchen basiert, denn das, was uns von den Liberalen trennt, ist viel grundlegenderer Natur, als das, was den Gegensatz der Liberalen und der Konservativen ausmacht.

Gewiss, es ist nicht Aufgabe der Klassenpartei des Proletariats, die verschiedenen Schichten und Parteien der bürgerlichen Gesellschaft künstlich zusammenzuschweißen, sie zu einer reaktionären Masse selbst zu peitschen. Aber es ist noch weniger Aufgabe der Sozialdemokratie, die bereits vollzogene, durch die objektive Entwicklung verursachte und durch tausend Erfahrungen bestätigte Zusammenschweißung der Bourgeoisie zu einer reaktionären Masse zu verschleiern, sie durch kleine Mittelchen des Parlamentarismus, durch ein freundliches Wort hier, einen kleinen Puff dort wieder zu sprengen zu hoffen und nebensächliche Differenzen zwischen den bürgerlichen Parteien zu tiefgehenden Gegensätzen aufzubauschen.

Eine Politik, die auf solchen Fundamenten errichtet war, musste sich als ein Kartenhaus erweisen, das der erste Wind umschmeißt. Und sie hat sich als solche erwiesen. Was wir gegenwärtig im Reichstage erleben, ist der Zusammenbruch – nicht des schwarzblauen Blocks, sondern der „linken Mehrheit". Und sie findet ein entsprechendes klägliches und possenhaftes Ende. Wäre die Taktik nur auf die Fortschrittler gestützt, sie hätte bei der ersten Militärvorlage Schiffbruch erlitten. Da sie auch auf den Nationalliberalen als ihren Pfeilern ruhte, so hat es nicht einmal einer wichtigen politischen Entscheidung, eines großen Gegenstandes bedurft. Formalien und Lappalien des chinesischen Zeremoniells der Monarchie haben ausgereicht, um die „linke Mehrheit" in Dunst aufzulösen. Das Bild, das der Reichstag seit seinem Zusammentritt und bis zur Auseinandersetzung zwischen uns und den Nationalliberalen über die Couloirgespräche und -verhandlungen bot, hat wahrlich alles andere, denn einen erhebenden Eindruck gemacht. Von der Größe unseres Wahlsieges ist im Reichstag noch herzlich wenig zu spüren gewesen; darüber können auch nicht so krasse Übertreibungen hinweghelfen, wie die Versicherungen unseres Zentralorgans, die bürgerlichen Parteien hätten so etwas wie das Totenglöcklein der bürgerlichen Gesellschaftsordnung gehört, als Genosse Scheidemann2) die Reichstagsglocke mit meisterlicher Hand schwang. Auf einen großen historischen Augenblick, auf die Feuerzeichen des Klassenkampfes am 12. Januar folgte ein verwirrendes und verunglücktes Experiment mit der „Linken", das in einer jämmerlichen Katzbalgerei derselben nationalliberalen Helden endete, auf die unsere Taktik am anderen Tage nach dem Wahlsiege gebaut war. Die Politik der „linken Mehrheit" endet, bevor sie angefangen hat. Ihr Gedanke selbst ist unverzeihlich für ernste Führer der größten politischen Partei der Welt. Wir Sozialdemokraten sind ja freilich nicht umzubringen – nicht durch Nücken und Tücken der Feinde und nicht einmal durch eigene Dummheiten. Trotz der momentan angerichteten Verwirrung stehen wir im Lande und im Reichstag so kräftig und glänzend da, wie je. Es ist die große Tat der proletarischen Masse am 12. Januar, deren strahlender Glanz schließlich doch über die kleinen Taten unserer Führer hinweg das blendende Licht verbreitet, und es ist die große Wahrheit unserer Grundsätze, die gegen unsere eigenen Zweifel triumphiert. Wohlgemerkt, wir tadeln unseren Parteivorstand nicht etwa, weil er sich in der ganzen Taktik mit den Liberalen wenig schlau erwiesen hat. Wir bedauern nur, dass er überhaupt hat schlau sein wollen. Denn wie Lassalle im Sickingen3) sagt: „Denn manchem hat's den Hals gekostet, in großen Dingen schlau zu sein." Etwas weniger Geschäftigkeit in der parlamentarischen Kulissenschieberei, weniger sprunghaften Glauben an eine „neue Ära" bei jedem nichtigen Windstoß, der die Spreu der Tagespolitik nach rechts oder nach links wirbelt, dafür mehr ruhige Stetigkeit und Großzügigkeit in der Politik, mehr Berechnung auf weitere Distanz, auf große ausschlaggebende Faktoren des Klassenkampfes – das ist es, was uns nottut in der großen Zeit, in der wir leben.

1Nationalliberale Partei.

2 Scheidemann war vier Wochen Vizepräsident im Reichstag gewesen. Er, der spätere kaiserliche Minister, wurde gestürzt, weil die Tatsache eines roten Vizepräsidenten ein Bruch der Tradition des Hohen Hauses war und man herausfand, dass Scheidemann am 10. Dezember 1909 gesagt hatte: „Ich kenne die preußische Geschichte gut genug, um zu wissen, dass der Wortbruch sozusagen zu den erhabensten Traditionen des In Preußen regierenden Hauses gehört."

3 Franz v. Sickingen, Historisches Trauerspiel von Ferd. Lassalle.

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