Rosa Luxemburg 19120205 Was nun

Rosa Luxemburg: Was nun?

[Erschienen in der „Gleichheit" am 5. Februar 1912. Nach Gesammelte Werke, Band 3, S. 523-530]

1. Die neue Situation.

Seit beinahe zwei Jahren war das Leben der Sozialdemokratie in der Hauptsache auf die Reichstagswahlen gestimmt. Das große Ereignis ist nun vorüber, und wir können eine Umschau über die allgemeine Lage halten. Ist durch die Reichstagswahlen eine ganz neue Situation geschaffen, die neue politische Aussichten verspricht und vielleicht eine Änderung der bisherigen Taktik unserer Partei gebietet? Wenn man die liberalen Blätter liest, so möchte man das beinahe glauben. Ein Siegesjubel und ein Freudenrausch geht namentlich durch die freisinnige Presse: der schwarz-blaue Block ist geschlagen, eine oppositionelle Mehrheit der Linken im Reichstag gegen die junkerlich-klerikale Reaktion geschaffen, und dies alles – ein Ergebnis der entschiedenen Frontstellung des liberalen Bürgertums gegen rechts! Die gegenseitige Wahlhilfe des Liberalismus und der Sozialdemokratie in den Stichwahlen, so heißt es, habe diesen grundlegenden Umschwung in der politischen Situation herbeigeführt. Nun hänge der Himmel Deutschlands voll liberaler Geigen, sofern die Bundesbrüderschaft zwischen Arbeiterpartei und Bürgertum im Reichstag zu einer dauernden werde. Diese Melodien mögen nicht übel klingen, namentlich im Ohr jener Handvoll sonderbarer Schwärmer in unseren eigenen Reihen, die schon seit geraumer Zeit eine entscheidende Wendung in der Politik Deutschlands von einem „Großblock von Bassermann bis Bebel" erhofften und eine fröhliche Urständ des allgemein totgeglaubten Liberalismus prophezeiten. Leider ist auch diesmal die von ihm selbst geräuschvoll verkündete Auferstehung des bürgerlichen Liberalismus nichts als ein großer Humbug. Der freudige Glaube, den er mit seinen Renommistereien auch bei manchen Sozialdemokraten gefunden hat, konnte nur im ersten Rausche des Sieges aufkommen.

Zahlen und Tatsachen, Tatsachen und Zahlen!" wie Mister Bounderby in Dickens „Harten Zeiten" zu sagen pflegt. Wie sieht die Legende von der mannhaften Tugend des Liberalismus im Lichte der Zahlen und Tatsachen aus? In der Hauptwahl errang sein linker Flügel 0, sein rechter 4 Mandate. Damit kehrte die Lage von 1903 als die normale wieder zurück, und die erste feststehende Tatsache ist die: der Liberalismus existiert als selbständige politische Partei aus eigener Kraft überhaupt nicht mehr. Der stolze Kämpe, mit dem Arm in Arm die Sozialdemokratie ihr Jahrhundert in die Schranken fordern soll, kann selbst nur noch von Gnaden der Sozialdemokratie oder der Reaktion leben.

Es folgten die Stichwahlen, und nun begannen die eigentlichen Heldentaten des Liberalismus. Nur in Bayern und in den Reichslanden [Elsass-Lothringen] folgten die liberalen Wählermassen im Allgemeinen an den ersten beiden Stichwahltagen der Losung: die Front gegen rechts. Wie aber war ihre Stellung im übrigen Reiche? Am ersten Stichwahltag lieferte die Volkspartei 16 Wahlkreise an die Reaktion aus, die Nationalliberalen taten in zwei Kreisen desgleichen. Am zweiten Stichwahltag spielte die Volkspartei zwei Wahlkreise glatt den Antisemiten in die Hände; ausgenommen Köln und Heilbronn zerstoben in fast allen anderen Kreisen die liberalen Wähler in der Weise, dass eine kleine Zahl für die Sozialdemokratie stimmte, die größere Zahl aber zur Reaktion überlief und der Sozialdemokratie in den Rücken fiel. Wenn wir dennoch im zweiten Stichwahlgang eine so große Anzahl Mandate eroberten, so war dies letzten Endes deshalb möglich, weil wir noch Reserven an die Urne brachten, und namentlich weil wir bereits in der Hauptwahl einen Vorsprung gewonnen hatten, der groß genug war, dass uns auch die liberalen Verräter nicht zu Fall zu bringen vermochten. Und genau dasselbe, ja noch Schlimmeres, ereignete sich am dritten Stichwahltag: in sämtlichen Wahlkreisen, wo wir siegten, liefen Fortschrittler wie Nationalliberale in ihrer Mehrzahl ins Lager der Reaktion über. Fielen doch zum Beispiel in Potsdam-Osthavelland von 11.000 fortschrittlichen Stimmen ganze 1200 der Sozialdemokratie und 6200 dem Reichsparteiler zu! Auch an diesem Wahltag wären unsere Siege unmöglich gewesen ohne das starke Übergewicht unserer Wähler schon im ersten Wahlgang. Die liberalen Stimmen, die wir an den letzten beiden Stichwahltagen erhielten, wogen in den allerwenigsten Wahlkreisen die liberalen Stimmen auf, die gegen uns die Reaktion stärkten.

Das so verschiedene Resultat der beiden letzten Stichwahltage im Vergleich zum ersten wurzelt also nicht etwa darin, dass die liberalen Mannschaften nach einigem Straucheln auf dem rauen Wege der Tugend fest entschlossen vorwärts marschiert wären. Es erklärt sich aus dem viel einfacheren Umstand, dass die weise Strategie der Regierung just alle die Wahlkreise zuerst ins Feuer schickte, in denen sich die Sozialdemokratie in der schwächeren Position befand, während sie bei den Stichwahlen der beiden letzten Tage von vornherein als die stärkere Partei an der Spitze stand. Die Legende von der großen rettenden liberalen Wahlhilfe für die Sozialdemokratie kann somit nur von Fortschrittlern kolportiert werden, die allen Grund haben, sich und der Welt blauen Dunst vorzumachen. Nicht dank der liberalen Hilfe, sondern trotz Verrats der liberalen Wählermassen sind uns so zahlreiche Mandate zugefallen. Aus eigener Kraft siegten wir, wo uns Fortschrittler wie Nationalliberale entgegenstanden, und aus eigener Kraft letzten Endes siegten wir im Allgemeinen, wo uns die Reaktion gegenüber trat. Die 4¼ Millionen eigene Wähler, die sozialdemokratischen in Massen in ihrem ersten machtvollen Anlauf trugen unsere Fahnen bis in die letzten Stichwahlen siegreich über reaktionären Widerstand und liberalen Verrat hinweg.

Diese Tatsachen zu verschleiern mag in wohlverstandenen Interesse der liberalen Politiker liegen. Die Sozialdemokratie dagegen würde sich des größten Fehlers für den politischen Kämpfer schuldig machen – der Unterschätzung der eigenen Macht –, würde sie diese liberale Legendenbildung unterstützen. Aus eigener Macht, selbständiger als je, aus der historischen Urkraft des proletarischen Klassenkampfes schöpfend, von ihrem Gegensatz zu allen bürgerlichen Parteien getragen, hat die Sozialdemokratie ihren großen Sieg erfochten. Und es wäre ein Unrecht an den begeisterten Massen des Proletariats, die uns in Millionen zugeströmt sind, wollten wir diesen Sieg, ihren Sieg durch eine irrige Ausdeutung im Sinne der Liberalen verkleinern. Freilich hat man auch von unserer Seite die klaren Linien des Hauptkampfes äußerlich für einen Moment verwischt und die Legende von der liberalen Waffengemeinschaft und den liberalen Heldentaten mit aufbauschen helfen. Das aber einmal durch das etwas zu geschäftige Werben um liberale Unterstützung seitens unserer Zentralorgane, dann in der ganzen Stichwahlkampagne durch die Parole „gegen den schwarz-blauen Block", die im Gleichklang mit den Liberalen von unseren führenden Instanzen etwas zu laut vorgetragen wurde. Nun aber zeigt eine kühle Prüfung der Ergebnisse, dass wir von Anfang an bis zu Ende aus eigener Kraft kämpften und siegten und dass die liberale Hilfe im Großen und Ganzen ein Trugbild war. Sie entpuppt sich am Ende als eine bloß negative Tugend, die darin bestand, dass nicht auch der letzte liberale Wähler gegen uns für rechtsreaktionäre Kandidaten stimmte. Allerdings würde in manchem der umstrittenen Wahlkreise unser Sieg verhindert worden sein, wenn die Liberalen in ihrer Gesamtheit zur Reaktion übergegangen wären. Aber ist das ein Verdienst, das als die Grundlage einer zuverlässigen Waffenbrüderschaft in Anrechnung gestellt und gepriesen werden kann, wenn man von Partei zu Partei die Kräfteverhältnisse prüft? Die zusammenhanglosen, undisziplinierten liberalen Wählerhaufen, die sich in ihrer Mehrzahl jederzeit zur Reaktion schlagen, sind keine Armee, mit der die Reaktion geschlagen werden kann. „Aus Bappe back' ich kein Schwert," singt Siegfried. Und wie die Liberalen – die Fortschrittler eingeschlossen – durchweg in ihrer Mehrzahl trotz der offiziellen Wahlparolen ihrer Parteien der Reaktion Vorspanndienste leisteten, so wurden sie auch von der Reaktion kräftig unterstützt. Die Tatsache steht fest, was immer die Barden des jüngsten liberalen Heldenepos darüber fabeln. Konservative und Antisemiten haben in einem Dutzend Wahlkreisen den Fortschrittlern, in einem anderen Dutzend den Nationalliberalen gegen uns zum Siege verholfen. In anderen noch ist ihr helfendes Aufgebot von der überlegenen Macht der Sozialdemokratie zurückgeschlagen worden.

So hat sich die innere Jämmerlichkeit des bürgerlichen Liberalismus wie seine Zusammengehörigkeit mit der Reaktion auch in diesen Wahlen trefflich bestätigt, wie je. Und so ziemlich als das einzige wirkliche Ergebnis der glorreichen liberalen Waffenbrüderschaft mit der Sozialdemokratie bleibt die allerdings unzweifelhafte Tatsache, dass die sozialdemokratischen Wählermassen einige Dutzend Abgeordnete dieser liberalen Sorte für den Reichstag aus der Flut gerettet haben.

Es wäre auch ein Wunder, wenn all dies anders sein würde. Parlamentarische Schachzüge und Wahlstrategien vermögen nicht geschichtliche Tatsachen zu ändern, Klasseninteressen zu bannen und Klassengegensätze zu überbrücken. Die großkapitalistische Entwicklung Deutschlands, die in den letzten Jahren machtvoll und mit so schwindelnder Schnelle fortschreitet, das imperialistische Zeitalter der Weltpolitik, das mit Pauken und Trompeten eben eingesetzt hat, werden durch keine parlamentarischen Kunststückchen aus der Welt geschafft. Ihre eherne Logik führt aber zu einer immer tieferen Zerklüftung der bürgerlichen Gesellschaft, und ihr eherner Schritt zerstampft erbarmungslos die letzten Reste dessen, was sich bürgerlicher Liberalismus und bürgerlicher Fortschritt nennt. Eine Auferstehung des bürgerlichen Liberalismus in Deutschland zur gemeinsamen Aktion mit der Sozialdemokratie gegen die Reaktion – ausgerechnet jetzt, in der Zeit des wachsenden Imperialismus – kann denn auch nichts anderes als ein narrender Traum, nichts als eine Spielmarke sein. Für bare Münze können dieses Blechplättchen nur diejenigen ausgeben, die ein Interesse an der Verwirrung des Klassenbewusstseins im Proletariat haben.

Mögen deshalb freisinnige Organe vom Schlage des „Berliner Tageblatt" oder Politiker von der Art des Herrn Haußmann freudige Purzelbäume schlagen und auf den Trümmern des schwarzblauen Blocks triumphierend die Fahne der vereinigten Linken hissen – jener „Linken", deren Mehrheit dieselbe nationalliberale Partei umschließen soll, die das „Berliner Tageblatt" selbst erst gestern in einem lichten Augenblick „ein gefallenes Mädchen" genannt hat. Die Sozialdemokratie kann ihre Hoffnungen und ihre Kampfstellung nicht auf die „gefallenen Mädchen" des bürgerlichen Liberalismus stützen. Sie muss sich vielmehr in nüchterner Erkenntnis sagen: Die schwarzblauen Parteien sind geschlagen,aber die schwarzblaue Politik bleibt die herrschende. Die nächste Militärvorlage wird zeigen, dass die Sozialdemokratie im neuen Reichstag gegen die Reaktion so einsam dasteht wie je. Wer aber für den Militarismus und Imperialismus ist, der muss auch für die indirekten Steuern und Zölle sein, die zu jenen gehören, wie das B dem A folgt. Die geschlossene Mehrheit der bürgerlichen Parteien bei Militär- und Kolonialfragen wird bei Steuer- und Zollfragen höchstens durch einen häuslichen Streit etwas erschüttert werden, um das größere oder kleinere Feigenblatt einer Erbschaftssteuer, das den Raub an der arbeitenden Volksmasse verdecken soll. Die Fragen des Militarismus und Imperialismus stellen heute die Zentralachse des politischen Lebens dar, in ihnen und nicht etwa in der Frage der Ministerverantwortlichkeit und anderen rein parlamentarischen Forderungen liegt der Schlüssel zur politischen Lage. Und von hier aus gesehen, zeigt sich als Ergebnis des großen Wahlkampfes für uns die Erkenntnis: die politische Situation ist dieselbe geblieben, sie ist nur reifer geworden. Wir haben nicht einen Rückgang, sondern einen gewaltigen Aufschwung des Imperialismus und damit eine immer größere Zuspitzung der Klassengegensätze zu gewärtigen. Und dementsprechend haben wir auch als Signatur der Lage im neuen Reichstag nicht einen Gegensatz von „rechts" und „links", sondern nach wie vor den alten Gegensatz der gesamten bürgerlichen Parteien zur Sozialdemokratie. Dies so scharf wie nur möglich den Volksmassen zum Bewusstsein zu bringen, entgegen allen Faseleien der liberalen Geschichtsfälschung, das ist die erste dringende Aufgabe unserer Partei.

Ein neuer wichtiger Tatbestand und in diesem Sinne eine neue Situation ist allerdings durch die letzten Wahlen geschaffen worden. Es ist der beispiellose Machtzuwachs der Sozialdemokratie, als der Frucht der scharfen Klassenentwicklung und der Trägerin des revolutionären proletarischen Klassenkampfes. Ein solcher Machtzuwachs legt unserer Partei Verpflichtungen auf. Die gewaltige Stärkung unserer Anhängermassen nicht zu nützen, um für das klassenbewusste Proletariat neue Eroberungen zu machen, um die Sache des Sozialismus vorwärts zu bringen, würde beweisen, dass wir den Sieg nicht verdient haben.

2. Unsere Aufgaben.

Für liberale Politiker ist natürlich die erste Sorge nach dem großen Wahlkampf die weltbewegende Frage: Wer wird der Präsident des Reichstags sein? Eine herzlich gleichgültige Sache aber ist der Präsidentenposten im bürgerlichen Parlament bei einer Dreiviertelmehrheit, zu der wir uns in allen Lebensfragen des Volkes im denkbar schärfsten Gegensatz befinden, für eine Partei wie die Sozialdemokratie, deren Macht nicht im Parlament, nicht in parlamentarischen Schachzügen und Kulissenschiebereien liegt, sondern draußen in den 4¼ Millionen Volksmassen. Bringt dieser Posten uns gar in Widerspruch mit unseren republikanischen Grundsätzen, so kann er uns ruhig durch irgendeinen liberalen Spezialisten parlamentarischer Wichtigtuerei gestohlen werden. Die hungrigen und geknechteten Millionen, die ihr Hoffen auf uns gesetzt, ihr Vertrauen uns geschenkt haben, brauchen unsererseits wirkliche Machtstellung, nicht dekorative Scheinposten in einem Parlament, in dem wir keine Mehrheit haben. Und eine wirkliche Machtstellung im Parlament kann sich unsere Partei nur schaffen durch die Gründlichkeit, Schärfe und Entschlossenheit ihrer Kampftaktik. Als die weitaus stärkste Partei des Reiches sind wir verpflichtet, auf der ganzen Linie in die Offensive überzugehen und so zum Mittelpunkt des politischen Lebens die Interessen, die Forderungen der Millionen zu machen, die hinter uns stehen.

Als die erste dringende Aufgabe ergibt sich da für uns die energischste Weiterführung des preußischen Wahlrechtskampfes. Seit bald zwei Jahren haben wir die großartigen Massenaktionen für die Eroberung des demokratischen Wahlrechts in Preußen eingestellt, um alle Kräfte auf die Reichstagswahlen zu konzentrieren. Nun sind die Wahlen vorbei, der Sieg ist unser, und gerade dieser Sieg verpflichtet uns, die Massenaktion zur Erstürmung des Dreiklassenparlaments mit verdoppelter Wucht wieder aufzunehmen. Vor dem sozialdemokratischen Siegeszug des allgemeinen Wahlrechts im Reiche muss das preußische Klassenwahlrecht wie ein morsches Wrack zusammenbrechen. An uns liegt es jetzt, die Macht der proletarischen Massen auf den Plan zu rufen, die das Werk vollbringen werden, die politische Klassenfeste zu schleifen.

Offensive ist uns aber auch geboten im Reichstag selbst gegenüber dem Hauptfeind: dem Imperialismus. Die erste große Auseinandersetzung unserer Fraktion mit dem deutschen Imperialismus aus Anlass der Marokkoaffäre hat gezeigt, dass unsere parlamentarische Taktik gegen diesen Feind noch nicht die nötige Schlagfertigkeit besitzt. Nachdem der Kampf gegen den Imperialismus bei den Wahlen eine so überragende Rolle gespielt und bei den Volksmassen im ganzen Reiche eine so rückhaltlose Zustimmung gefunden hat, sind wir verpflichtet, gegen ihn im Reichstag mit höchster Gründlichkeit und prinzipieller Schärfe aufzutreten. Der nationalen Phrase, die uns im Wahlkampf auf Schritt und Tritt entgegentrat und hinter der Militarismus, Marinismus, Kolonialpolitik, Kriegsschrecken und persönliches Regiment lauern, müssen wir jetzt im Reichstag eine Generalschlacht liefern. Dazu ist die beste Gelegenheit geboten, wenn wir die harrenden neuen Militär- und Marinevorlagen mit einem Gesetzentwurf zur Abschaffung des stehenden Heeres und zur Einführung des Milizsystems parieren. Die Vertretung unserer alten Programmforderungen in ihrem ganzen Umfang und allen ihren Konsequenzen würde uns eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Imperialismus in all seinen Teilerscheinungen ermöglichen. Sie verliehe im Parlament der Stimmung und Auffassung jener Millionen ein kräftiges Echo, die soeben durch ihre Wahlzettel gesprochen haben.

Die Sicherung des bedrohten Reichstagswahlrechts fordert einen kraftvollen Vorstoß heraus. Die beste Verteidigung ist der Hieb, Die Sozialdemokratie wird ihn wirksam in Gestalt eines Antrags auf die volle Demokratisierung des Reichstagswahlrechts führen. Sie kann sich nicht damit begnügen, mit den Liberalen zusammen die Neueinteilung der Wahlkreise zu heischen, sie muss die Gesamtheit unserer Programmforderungen zum Wahlrecht erheben. Darin ist die Forderung des Frauenwahlrechts, das Bürgerrecht aller Großjährigen inbegriffen. Unsere Frauen, unsere jungen Männer unter 25 Jahren haben so viel zum glänzenden Siege der Sozialdemokratie beigetragen, dass ihre politische Reife nachgewiesen, ihre politische Mündigkeitserklärung verdient ist.

Aber auch die Frage des täglichen Brots der Massen, die im Wahlkampf im Mittelpunkt stand, muss zu einem kräftigen Vorstoß veranlassen. Die 4¼ Millionen sozialdemokratische Stimmen sind ein Millionenschrei: Fort mit den Lebensmittelzöllen, fort mit den indirekten Steuern! Diesem Schrei der darbenden Massen muss unsere Fraktion im Reichstag Gehör verschaffen. Ein schleuniger Antrag auf Aufhebung aller Lebensmittelzölle und Lebensmittelsteuern ist zwingendes Gebot unserer parlamentarischen Pflicht.

Auf dem Gebiet der Sozialpolitik endlich harren unserer große Aufgaben. Die gewaltige Wählermasse und die dreifach so zahlreiche Volksmasse, die hinter uns steht, erwartet jetzt von uns positive Arbeit. Positive Arbeit nicht bloß in dem Sinne, der unsere gesamte Aufklärungstätigkeit durchdringt, sondern auch in dem engeren Sinne eines energischen Kampfes um sozialpolitische Reformen. Die stärkste Fraktion des Deutschen Reichstags ist geradezu verpflichtet, aus der langen Defensive herauszutreten, in der wir uns gegen die unaufhörlichen Vorstöße der scharfmacherischen Reaktion wehren. Die Zettelungen gegen das Koalitionsrecht der Arbeiter können am erfolgreichsten durch eine kräftige Offensive der Sozialdemokratie zurückgewiesen werden. Und da bietet sich von selbst diejenige Forderung unseres Programms, die den Grundstein der gesamten modernen Sozialpolitik darstellt: der gesetzliche Achtstundentag.

Seit Jahren hat die sozialdemokratische Fraktion keinen entsprechenden Gesetzentwurf eingebracht; zuletzt ist die Regierung von uns aufgefordert worden, einen Gesetzentwurf vorzulegen auf Einführung des zehnstündigen Arbeitstages mit einer stufenweisen Herabsetzung bis zum Achtstundentag. Es ist klar, dass die heutige Machtstellung der Sozialdemokratie ein viel energischeres Vorgehen erheischt: das Einbringen eines eigenen Gesetzentwurfes auf Einführung des achtstündigen Arbeitstags. Durch einen solchen Entwurf werden wir am meisten den frisch zu uns gestoßenen proletarischen Scharen aus dem Herzen sprechen, die früher dem Zentrum anhingen; durch ihn werden wir am besten unsere Gewerkschaften fördern, die ihren vollen Anteil an unserem Wahlsieg haben und jetzt auch die Früchte dieses Sieges zu ernten berechtigt sind. Es könnte auch keine günstigere wirtschaftliche Situation für eine umfassende Achtstundentag-Agitation von der Parlamentstribüne und im Lande geben, wie gerade die jetzige. Wir leben in einer Periode glänzenden industriellen Aufschwungs. Die starke Anspannung der Produktion in den beiden führenden Industriezweigen der Kohlen- und Eisenindustrie; die höchsten Ein- und Ausfuhrziffern, die Deutschland im letzten Jahre erreicht hat; die Kapitalserhöhungen der Banken und der großen Aktiengesellschaften; die hohen Dividendenziffern – alles zeigt, dass das Kapital wieder einmal goldene Ernten einheimst. Diese Gunst der wirtschaftlichen Lage zusammen mit dem gewaltigen Machtzuwachs der Sozialdemokratie muss in eine energische Aktion für den Achtstundentag, umgesetzt werden. Sie erfordert den parlamentarischen Vorstoß, unsere Fraktion im Parlament muss die Wortführerin, das Sprachrohr einer großen Massenagitation im ganzen Reiche sein.

Offensive auf der ganzen Linie: im preußischen Wahlrechtskampf, im Kampfe gegen Imperialismus, im Kampfe um billiges Brot und in der positiven Arbeit der Sozialpolitik! Beispiellos wie unser Wahlsieg muss die Entschlossenheit und Schärfe unserer parlamentarischen und außerparlamentarischen Aktion sein. Nicht in grotesken Blockspekulationen mit den jämmerlichen liberalen Mandatjägern, sondern in einer selbständigen, kühnen und grundsätzlichen Klassenkampftaktik müssen wir der Internationale vordemonstrieren, wie die Partei des Proletariats parlamentarische Mittel für das revolutionäre Endziel der Sozialdemokratie auszunutzen vermag.

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