Rosa Luxemburg 19130911 Die Massenstreikresolution des Parteivorstandes

Rosa Luxemburg: Die Massenstreikresolution des Parteivorstandes

[Erschienen in der „Leipziger Volkszeitung" am 11. September 1913. Nach Gesammelte Werke Band 4, 1928, S. 670-674]

Der Eindruck, den die vom Parteivorstand veröffentlichte Resolution zur Frage des Massenstreiks in den Parteikreisen wohl allgemein gemacht haben wird, ist ein ziemlich befremdender. Wir sind ja in Bezug auf Parteitagsresolutionen überhaupt nicht verwöhnt und niemand wird in diesem Fall ein Meisterstück in politischer wie in stilistischer Hinsicht erwartet oder verlangt haben. Aber ein so farbloses, gequältes Stück Prosa ohne Hand und Fuß wie das vorliegende, dem bei allgemeiner Verschwommenheit in Form und Inhalt nur das eine sehr deutlich an der Stirn geschrieben steht: der Wunsch der Verfasser, gar nichts Deutliches zu sagen, ein solches Produkt der hohen Staatskunst durfte der Parteivorstand denn doch in dieser Situation nicht vorlegen.

Man muss sich vor allem fragen: welchen Zweck hat diese Resolution? Wenn der Parteivorstand eine besondere Debatte auf dem Parteitag über die Frage des Massenstreiks sowie die Annahme einer besonderen Resolution zu dieser Frage für notwendig hält, so hat er sich wohl Rechenschaft darüber abgelegt, dass die Partei in ihrer erdrückenden Mehrheit irgend etwas Bestimmtes aussprechen will, dass bestimmte Vorgänge im politischen und ökonomischen Leben wie im inneren Parteileben es bewirkt haben, dass die Frage des Massenstreiks wieder eine besondere Aktualität erlangt. Das bedeutet freilich nicht, dass der Parteitag die Aufgabe hätte, einen Massenstreik von heute auf morgen zu „beschließen", – soviel wir übersehen können, denkt an einen solchen unsinnigen Beschluss kein Mensch in der Partei. Aber was der Parteitag kann und soll, ist, jene Momente in der gegenwärtigen ökonomisch-politischen Situation herausheben und formulieren, die den Pulsschlag des Kampfes in unseren Reihen beschleunigen und die Kampflust der Massen in der letzten Zeit erregt haben. Die Verschärfung der Klassengegensätze, die auf allen Gebieten zutage tritt: in den Gewerkschaftskämpfen, in den Parlamenten, in den Vorstößen des Militarismus, in der steigenden Kriegsgefahr, in der Bedrohung des Koalitionsrechts, im Stillstand der Sozialreform im reaktionären Verfall der bürgerlichen Oppositionsparteien, – dies ist es, was in den weitesten Kreisen der Arbeiterschaft jetzt eine lebhafte Beunruhigung und den Gedanken an schärfere Kampfwaffen rege gemacht hat.

Dieser objektiven Sachlage und diesem Empfinden der Massen Ausdruck zu verleihen, ist Aufgabe des Jenaer Parteitages.

Die Vorstandsresolution weiß von alledem gar nichts. Sie hat nicht den geringsten Hauch von jenem frischen Kampfgeist der Massen verspürt, aus dem heraus die Massenstreikdebatte entstanden ist. Sie enthält nicht einmal einen Versuch, die besondere Situation, in der wir uns befinden und im Zusammenhang, mit der die Losung vom Massenstreik wieder in das politische Gesichtsfeld der Partei gerückt ist, zu kennzeichnen. Was diese Resolution darstellt, ist ein Bündel ganz abstrakter schematischer Thesen über Massenstreik und allgemeines Wahlrecht, die ebenso gut vor fünf Jahren auf irgendeinem Bezirkstag oder Provinzialparteitag hätten formuliert werden können. Diese Resolution bringt uns weder in der Erkenntnis des Massenstreiks als Kampfwaffe, noch in der Erkenntnis der aktuellen Situation unseres Kampfes um ein Jota vorwärts. So wie sie vorliegt, hätte ihre Annahme durch den Parteitag nicht den geringsten Zweck, und dieses Innichtszerrinnen der geführten Debatten über den Massenstreik ist offenbar der eigentliche Zweck dieser vom Vorstand vorgelegten Resolution.

Doch nicht genug. Statt uns vorwärts zu bringen, macht die Resolution in einigen entscheidenden Punkten einen deutlichen Schritt hinter die Erkenntnis zurück, zu der sich die Partei bereits, durchgerungen hat. Sehen wir uns die Resolution Absatz für Absatz an. Sie lautet:

Nach dem vom Mannheimer Parteitag (1906) bestätigten Beschluss des Jenaer Parteitages (1905) ist die umfassendste Anwendung der Massenarbeitseinstellung gegebenenfalls als eines der wirksamsten Mittel zu betrachten, nicht nur um Angriffe auf bestehende Volksrechte abzuwehren, sondern um Volksrechte neu zu erobern.

Die Eroberung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts zu allen Vertretungskörpern ist eine der Vorbedingungen für den Befreiungskampf des Proletariats. Das Dreiklassenwahlrecht entrechtet die Besitzlosen nicht nur, sondern hemmt sie in allen ihren Bestrebungen auf Verbesserung ihrer Lebenshaltung, es macht die schlimmsten Feinde gewerkschaftlicher Betätigung und sozialen Fortschritts, die Junkerkaste, zum, Beherrscher der Gesetzgebung.

Darum fordert der Parteitag die entrechteten Massen auf, im Kampfe gegen das Dreiklassenunrecht alle Kräfte anzuspannen, in dem Bewusstsein, dass dieser Kampf ohne große Opfer nicht siegreich durchgeführt werden kann.

Indem der Parteitag den Massenstreik als unfehlbares und jederzeit anwendbares Mittel zur Beseitigung sozialer Schäden Im Sinne der anarchistischen Auffassung verwirft, spricht er zugleich die Überzeugung. aus, dass die Arbeiterschaft für die Erringung der politischen Gleichberechtigung ihre ganze Kraft einsetzen muss. Der politische Massenstreik kann nur bei vollkommener Einigkeit aller Organe der Arbeiterbewegung von klassenbewussten, für die letzten Ziele des Sozialismus begeisterten und zu jedem Opfer bereiten Massen geführt werden. Der Parteitag macht es deshalb den Parteigenossen zur Pflicht, unermüdlich für den Ausbau der politischen und gewerkschaftlichen Organisationen zu wirken."

Der einleitende Passus mag als der Annehmbarste hingehen. Was hier als relativer Fortschritt begrüßt werden muss, ist die deutliche Anerkennung dessen, was schon Gemeingut der Massen in der Partei geworden, was jedoch von manchem ihrer Offiziere und Unteroffiziere bis zuletzt bestritten wurde: dass der Massenstreik auch in Deutschland nicht bloß zur Defensive, sondern ebenso gut zur Offensive dienen kann. Damit wird die Losung des Massenstreiks ein für allemal von der traditionell-bürokratischen, „spezifisch-deutschen" Verankerung in einem eventuellen Staatsstreich gegen das Reichstagswahlrecht befreit. Es wird anerkannt, dass der Massenstreik in Deutschland, genau wie in allen anderen Ländern, bei der Verteidigung wie bei dem Vorrücken, je nach der Situation, ohne vorher festgesetzte Schablone zur Anwendung kommen wird. Damit ist aber das Brauchbare der Resolution auch schon erschöpft.

Der zweite und dritte Passus, die sich auf das preußische Wahlrecht beziehen, lassen alles zu wünschen übrig. Wir sehen davon ab, dass in Bezug auf die Schärfe der Formulierung und den Schwung des Ausdrucks diese zwei Absätze über den Brennpunkt des politischen Lebens Deutschlands in ihrem Niveau sogar für eine gewöhnliche Versammlungsresolution in Buxtehude nicht geradezu glorreich wären. Doch nicht um Großzügigkeit und Schwung handelt es sich zunächst, sondern um schlichten politischen Inhalt. Ein Parteitag, der nach allem, was wir erlebt haben an schamloser Wahlreformkomödie in Preußen, an Verrat der bürgerlichen Parteien, an frechem Hohn der Regierung, an begeisterten Massenkundgebungen vor drei Jahren, ein Parteitag, der nach alledem und nach einer dreijährigen Pause im Wahlrechtskampf heute zur Frage des preußischen Wahlrechts nichts anderes zustande brächte als diese matten zwei Sätze, würde sich ein Armutszeugnis ausstellen. Entweder schweigen wir über den preußischen Wahlrechtskampf ganz, oder der Parteitag in Jena muss wenigstens nicht hinter den preußischen Parteitag vom Jahre 1910 zurück schreiten. Dort hieß es in der einstimmig angenommenen Resolution zum Schluss:

Die Sozialdemokratie Preußens erklärt, dass die Schande und Ungerechtigkeit des Dreiklassenwahlsystems nicht länger erträglich ist; sie fordert deshalb die preußische Regierung und die Parteien des preußischen Landtages auf, das Wahlrecht von 1850 durch ein wirkliches Wahlrecht zu ersetzen.

Die preußische Sozialdemokratie wird mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln einem solchen Wahlrecht die Bahn brechen, eingedenk der historischen Lehre, dass überlebte Staatseinrichtungen zusammenbrechen müssen, sobald eine entschlossene und opferbereite Volksmehrheit den Kampf gegen das Unrecht aufzunehmen bereit ist.

Um einen solchen Wahlrechtssturm nicht nur in Preußen, sondern in ganz Deutschland zu entfesseln, beauftragt der Parteitag die preußische Parteileitung, ungesäumt alle Vorkehrungen zu treffen, die geeignet sind, den reaktionären Widerstand zu brechen."

Das war die Sprache eines Parteitages, der den Kampf um das preußische Wahlrecht wirklich vorwärts bringen wollte. Auch jener Parteitag hat weder den Massenstreik noch irgendein konkretes Mittel des Vorgehens von heute auf morgen beschlossen, er hat der Parteileitung im Gegenteil völlig freie Hand in der Wahl der Kampfformen gelassen. Aber er hat die Massen zum Kampf, zum „Wahlrechtssturm" aufgefordert, er hat, wie Singer in seiner Schlussrede sagte, das Signal zum Kampfe gegeben. Und das ist es, was auch der Parteitag in Jena allein tun kann, wenn er überhaupt über die preußische Wahlrechtssache eine Resolution annehmen will. Die Kampflinie hingegen hinter den preußischen Parteitag vom Jahre 1910 zurückschrauben, wäre das direkte Gegenteil von dem, was die Partei erwartet und was dem Parteiinteresse entspricht.

Der letzte Passus der Resolution beginnt mit der Ablehnung der anarchistischen Auffassung des Massenstreiks, um mit der Aufforderung zum Ausbau der politischen und gewerkschaftlichen Organisation zu enden. Mit der Polemik gegen die anarchistischen Hirngespinste vom Generalstreik als einem allzeit anwendbaren Allheilmittel, ergibt sich der Parteivorstand dem harmlosen Vergnügen, Tote und Begrabene nochmals totzuschlagen. Den Gespenstern von Domela Nieuwenhuis und Cornelissen, die bereits von den internationalen Kongressen in Brüssel, in Zürich und in London überwunden worden sind, dürfte nach zwanzig Jahren wirklich die wohlverdiente Ruhe im Schattenreich gegönnt werden. Freilich findet man heute noch bei vielen Gegnern des Massenstreiks in Deutschland, bei manchen Gewerkschafts- und Parteiführern Anklänge an die anarchistische Auffassung vom Massenstreik, so namentlich, wenn sie öffentliche Debatten über den Massenstreik als ein gefährliches „Spielen mit dem Feuer" verfemen, oder wenn sie das Zustandekommen des Massenstreiks von der Erlaubnis der „Instanzen" der Partei und Gewerkschaften abhängig machen wollen. Doch hat man diese Auffassung im Auge, dann wäre es treffender und aufrichtiger, sie nicht als anarchistische, sondern als opportunistische abzulehnen, und nur in diesem Falle hätte der polemische Satz in der Resolution einen gewissen Sinn und Zweck.

Der Schluss, der die eigentliche politische Weisung der Resolution enthält, ist die würdige Krönung des Gebäudes: er geht über die übliche Aufforderung des Wahlvereinsvorsitzenden am Schluss jeder Versammlung zum Beitritt in die Organisationen nicht hinaus.

Die Hauptsache, worauf jetzt die Masse der Parteigenossen wartet und was allein das Wachstum der Organisationen verbürgen kann: der Auftakt zu einer prinzipienfesten, kühnen, offensiven Taktik auf allen Gebieten, fehlt vollständig. Und damit fehlt der Resolution das eigentliche Salz, sie drückt sich einfach um den Kern der Sache herum. Soll die Resolution also ihrem Zweck entsprechen, so muss sie an Kopf und Gliedern geändert werden. So wie sie vorliegt, ist sie nur ein wenig erfreuliches Zeugnis für die mangelnde Fühlung unserer obersten Parteibehörde mit den Empfindungen weiter Parteikreise und für ihre Fähigkeit, diesen Empfindungen Rechnung zu tragen.

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