Rosa Luxemburg 19100817 Die totgeschwiegene Wahlrechtsdebatte

Rosa Luxemburg: Die totgeschwiegene Wahlrechtsdebatte

[Erschienen in der „Leipziger Volkszeitung" am 17. August 1910. Nach Gesammelte Werke Band 4, 1928, S. 604-608]

Der „Vorwärts" befolgt in der ganzen Diskussion über die preußische Wahlrechtsbewegung eine Taktik, die sowohl vom politischen wie vom journalistischen Standpunkt das Originellste darstellt, was mir je vorgekommen ist.

Zuerst lehnt er am 2. März einen Artikel von mir über die Frage der Anwendung des Massenstreiks ab, mit der folgenden Erklärung:

Leider kann ich ihre beiden Artikel nicht aufnehmen, da nach einer Vereinbarung zwischen Parteivorstand, Geschäftsführendem Ausschuss der Preußischen Landeskommission und Redaktion zunächst die Frage des Massenstreiks nicht im „Vorwärts" erörtert werden soll.

Dann erklärt er in der Beilage zu Nr. 132 vom 9. Juni, dass „das Gerede von einem Verbot der Erörterung des Massenstreiks und des republikanischen Gedankens ein Tratsch ist". Und in seiner Einleitung zum Bericht der inzwischen erfolgten Diskussion erklärt er am 10. Juli noch einmal meine Behauptung, die Haltung des „Vorwärts" sei durch den Beschluss der Parteiinstanzen beeinflusst worden, für „phantasievoll".

Ferner: der „Vorwärts" schweigt die ganze Zeit, solange die Wahlrechtsbewegung dauert und solange die Frage von der darin anzuwendenden Taktik alle Gemüter in der Partei erregt; er nimmt nicht bloß selbst nicht Stellung zu der Frage, sondern berichtet nicht einmal seinen Lesern von der in der gesamten übrigen Parteipresse lebhaft geführten Diskussion. Dann erklärt er am 10. Juli, jetzt sei die Zeit gekommen, dass auch er, der „Vorwärts", als Zentralorgan über die Diskussion zur Frage des Wahlrechtskampfes Bericht erstatte, denn solange die Aktion dauerte, hätte seine Teilnahme an der Diskussion auch nur in der Form einer Berichterstattung den verhängnisvollsten Eindruck auf – die bürgerliche Presse gemacht. Schön. Mitte Juli begann also der „Vorwärts" über die Diskussion des Massenstreiks, die sich zum Schluss hauptsächlich zwischen dem Genossen Kautsky und mir in der „Neuen Zeit" abspielte, zu referieren. Und wie referiert er nun? Er bringt, nachdem er meine ersten Artikel in der „Dortmunder Arbeiterzeitung" besprochen, in zwei Beilagen (Nr. 162 und 163) ein ausführliches Referat über den ersten Artikel Kautskys „Was nun?", der die Diskussion in der „Neuen Zeit" eröffnete, dann referiert er in einer Beilage über Pannekoeks Artikel, dann bringt er wieder in zwei Beilagen (Nr. 177 und 178) ausführlich die Antwort Kautskys gegen mich „Eine neue Strategie", von meiner Replik aber in der „Neuen Zeit" „Ermattung oder Kampf", die auf den ersten Kautskyschen Artikel erfolgte, und seinen zweiten hervorgerufen hatte –- kein einziges Wort! Einfach ausgelassen. In seiner gestrigen Nummer vom 16. August hat er das Versäumte endlich nachgetragen.

Nicht genug. Der „Vorwärts" hatte also erst über die beiden Kautskyschen Artikel referiert. Auch von meiner zweiten Antwort an Kautsky in der „Neuen Zeit" „Die Theorie und die Praxis" haben die Leser des „Vorwärts" noch nicht eine Silbe erfahren. Und nun bringt der „Vorwärts" unter dem Titel „Die totgesagte Wahlrechtsbewegung" plötzlich am 7. August als erste eigene Stellungnahme zu der Diskussion den schärfsten Ausfall gegen meinen letzten Artikel in der „Neuen Zeit", von dem er seinen Lesern noch absolut nichts mitgeteilt hatte!

Genossin Luxemburg hatte im März dieses Jahres erklärt, es sei die Zeit gekommen, zu schärferen Mitteln als Straßendemonstrationen im Wahlrechtskampf zu greifen. Eine große Massenstreikagitation müsse entfesselt werden, solle die Wahlrechtsbewegung nicht zusammenbrechen.

Die Partei reagierte nicht auf diese Aufforderung und nun erklärt Genossin Luxemburg am Ende ihrer bekannten Polemik, der Wahlrechtskampf in Preußen sei tatsächlich zusammengebrochen, und zwar deshalb, weil ihre Aufforderung keinen Widerhall fand."

Und nun erklärt Genossin Luxemburg am Ende ihrer bekannten Polemik" –, wo erklärt sie? Wo ist „das Ende" dieser „bekannten Polemik", von der der „Vorwärts" bis dahin nicht ein Wort über meine Artikel in der „Neuen Zeit" gebracht hatte? Was habe ich dort in Wirklichkeit dargelegt und behauptet? Das sollen die Leser des „Vorwärts" raten!

Nun kommt aber das Schönste. Der ganze unvermutete Überfall des „Vorwärts" am 7. August hat den Zweck, mir um jeden Preis eine Solidarität mit Kolb und Genossen zu imputieren, den Eindruck zu erwecken, als begünstige ich die badische Rebellion, weil meine „Ausfälle" sich „gegen dieselbe Seite richteten, gegen die die badischen Budgetbewilliger den Kampf in erster Linie führen zu müssen glaubten: gegen die Parteigenossen Preußens und deren leitende „Instanzen". Der „Vorwärts" verschweigt aber dabei ruhig seinen Lesern, dass er bereits am 2. August einen Artikel von mir gegen die badischen Budgetbewilliger und Hofgänger abgelehnt hat, der vielleicht noch gründlicher wie der „Vorwärts" selbst die Sache anfasst und den Frank und Kolb mitsamt ihrem jungtürkischen Sancho Pansa Eisner1 die Freude an unserer Auseinandersetzung über den preußischen Wahlrechtskampf tüchtig versalzen hätte. Der Artikel ist inzwischen in der „Bremer Bürgerzeitung" erschienen.2

Niemand wird mir wohl übertriebene Schärfe vorwerfen, wenn, ich dieses ganze Verfahren sehr originell nenne.

Und nun einige Worte zur Sache. Der „Vorwärts" sucht jetzt meine Stellungnahme in der Frage, welche Taktik im preußischen Wahlrechtskampf anzuwenden wäre, als „Ausfälle" gegen – „die Parteigenossen Preußens" hinzustellen. Er sucht mir die lächerliche Ansicht zuzuschreiben, die Wahlrechtsbewegung sei „zusammengebrochen", weil man „meiner Anregung nicht gefolgt war". Um sich diesen Nonsens zu ermöglichen, verschweigt der „Vorwärts" aber seinen Lesern wiederum die Tatsache, dass die „Anregung" zur Massenstreikagitation im Frühjahr durchaus nicht von mir ausgegangen war, dass bereits wochenlang vor jeder Äußerung meinerseits die Parteigenossen in Halle, Bremen, Kiel, Frankfurt, Breslau, Königsberg, Dortmund, Essen sich mit der Frage befasst hatten, dass vom Hessen-Nassauischen Bezirk z. B. eine formelle Anregung an den Parteivorstand ergangen war, die Frage der Anwendung des Massenstreiks ins Auge zu fassen. Ja, soll ich den „Vorwärts" daran erinnern, dass Anfang März die leitenden Instanzen der Partei und der Gewerkschaften selbst über die Anwendung des Demonstrationsstreiks im Wahlkampf berieten? Die Stimmung in den weitesten Parteikreisen war also bereits so sehr für „schärfere Mittel" eingenommen, die Anregung dazu war aus der Partei heraus so stark, dass sogar unsre leitenden Instanzen sich bereits mit der Frage befassten. Und das war alles in den ersten Tagen des März, bevor ich zur Frage des Massenstreiks eine Silbe geschrieben oder öffentlich gesprochen hatte.

Alle diese Tatsachen sind doch dem „Vorwärts" ebenso bekannt wie mir, nur dass für ihn mit dem negativen Ergebnis der Verhandlungen der Parteiinstanzen die Frage abgetan war nach dem Satz: Roma locuta, causa finita est (Der Parteivorstand hat gesprochen, die Sache ist erledigt), während ich der Auffassung war und bin, dass solche großen Massenaktionen, wie unsere preußische Wahlrechtsbewegung, nicht durch geheime Beschlüsse der obersten Instanzen, sondern durch Entschlüsse und Beschlüsse der breitesten Parteikreise zu leiten sind, und dass deshalb den Anregungen der Kampfstimmung dieser Parteikreise durch eine entschlossene und konsequente Weiterführung der Wahlrechtskampagne hätte Genüge getan werden sollen. Nicht deshalb ist also – wie ich in der „Neuen Zeit" ausführte – die Wahlrechtsbewegung zum Stillstand gekommen, weil man „meiner Anregung" nicht gefolgt wäre, sondern weil man die prächtige Stimmung der Parteimassen durch allzu zaghafte Veranstaltung von Demonstrationen und schließlich durch völlige Unterbrechung der Demonstrationen verzettelt hat. Kann es nun in gutem Glauben geschehen sein,, wenn der „Vorwärts", dem alle diese Tatsachen, dem die Stimmung der Partei im Frühjahr wohlbekannt ist – hat er es sich doch extra Mühe kosten lassen, aus den Berichten über die Versammlungen in der Provinz Beifallskundgebungen zu den Ausführungen über den Massenstreik zu streichen – ich frage, kann es mit gutem Glauben geschehen, dass der „Vorwärts" jetzt von meinen „Ausfällen" gegen die „preußischen Genossen" spricht? Sind die Genossen in Halle, Breslau, Kiel, Frankfurt, Bremen, Solingen, Dortmund, Elberfeld, wo in Versammlungen und in der Presse entgegen dem Beschluss der Instanzen und entgegen dem Genossen Kautsky die Notwendigkeit der Massenstreikagitation mit allem Nachdruck ausgesprochen worden ist, sind die Massen der Genossen in Berlin, die auf eine Weiterführung der Kampagne brannten, keine Parteigenossen oder liegen alle diese Städte nicht in Preußen?

Die Frage des Wahlrechtskampfes und der in ihr anzuwendenden Taktik ist hoch bedeutsam. Da es sich hier um Massenaktionen, um außerparlamentarische Formen des Kampfes handelt, so steht die Partei zum Teil vor ganz neuen taktischen Aufgaben. Sie allseitig zu diskutieren, das Problem, das bei der nächsten Wiederaufnahme der Wahlrechtsbewegung von neuem vor uns erstehen wird, auf Grund der Erfahrungen, der Analyse der jüngst vergangenen Kämpfe zu klären und dadurch die Massen und ihr Bewusstsein für die Zukunft vorzubereiten, das ist offenbar eine unumgängliche Notwendigkeit im Interesse der Partei.

Glaubt der „Vorwärts" dem Interesse der Partei und ihrer Zukunft zu dienen, wenn er, nachdem er die ganze Diskussion lange totgeschwiegen, sie nun zum rein persönlichen Streit verzerrt, und anstatt seine Leser über all die ernsten Seiten des Problems zu informieren, zum Denken anzuregen, als den einzigen Beitrag aus Eigenem ein – mit Verlaub zu sagen – ohnmächtig-gehässiges Gebelfer voller Verdrehungen des Tatbestandes gegen mich bringt, alle Fragen der Taktik aber mit einem Delirium der Freude über unsere jetzigen und künftigen Reichstagswahlsiege betäuben will? Glaubt der „Vorwärts" im Ernst, dass der geistigen Vertiefung der breiten Parteikreise mit dieser ewigen Hurrastimmung über Reichstagswahlsiege schon ein vielleicht anderthalb Jahre vor den Reichstagswahlen sowie durch Erstickung aller Selbstkritik in der Partei ein Dienst erwiesen wird?

Vor allem bewundere ich aber die Kurzsichtigkeit des „Vorwärts“. Wir sehen, dass wir die Paroxismen des Opportunismus, wie der jüngste badische Vorstoß beweist, seit einem Dutzend von Jahren nicht loswerden. Es ist eine leichtsinnige Selbsttäuschung, diese Symptome durch bloße „Verbote“, auf dem einzigen Wege der „Disziplin“ aus der Welt schaffen zu wollen. Zwölfjährige Erfahrung muss jedem ernstlich Denkenden beweisen, dass die Partei dem Opportunismus gegenüber aus der bloßen Defensive in die Offensive übergehen, ihm systematisch entgegenarbeiten, gegen ihn den Acheron — die große Masse der Proletarier — in Bewegung setzen muss. Dämmert es da dem „Vorwärts“ nicht, dass die Frage der Taktik in der preußischen Wahlrechtsbewegung doch in einigem inneren Zusammenhang mit der Frage des badischen Prinzipienverrats steht? Das heißt, begreift er denn nicht, dass eins der sichersten Mittel, die schleichenden Dünste des parlamentarisch-reformistisch-partikularistischen Kretinismus zu verscheuchen, große Massenaktionen sind, die die eigentliche Machtquelle der Sozialdemokratie und ihren Mutterboden: den einheitlichen, revolutionären Willen des klassenbewussten Proletariats in ganz Deutschland, mit Urkraft unmittelbar zum Ausdruck bringen würden? Und begreift er nicht, dass er, indem er die Kritik und die Debatten über diese Fragen zu persönlichen Rechthabereien und Liebhabereien verzerrt und zu ersticken sucht, ganz unbewusst wieder demselben Revisionismus Wind in die Segel bläst, gegen dessen räuberische Flottille er im Schweiße des Angesichts kämpft?

Und da soll ichweil ich die Abbrechung der Wahlrechtsbewegung konstatiert und zu erklären versucht habe — „tief im Schmollwinkel vergraben sitzen“ und äußerst „verbittert“ sein! Du lieber Himmel — selbst wenn ich „schmollen“ und verbittert sein wollte: Ich muss jedes Mal, wenn ich die Haltung des „Vorwärts“ in der ganzen Wahlrechtsdebatte sehe, lachen. Freilich, da es doch unser leitendes Zentralorgan ist, nur mit einem Auge.

1 Kurt Eisner war für die Jungtürken begeistert. Im Karlsruher ,Volksfreund' zum Beispiel schrieb er: „Uns schien das Beispiel der revolutionären Jungtürken immer erzieherischer zu sein, als das der revolutionären Russen.“

2 „Die badische Budgetabstimmung", siehe Band III der Gesammelten Werke, Seite 450.

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