Rosa Luxemburg 19140614 Die zweite Etappe

Rosa Luxemburg: Die zweite Etappe

Rede in der Generalversammlung des Verbandes sozialdemokratischer Wahlvereine Berlins und Umgegend am 14. Juni 1914

[Erschienen im „Vorwärts“, am 15. Juni 1914. Nach Gesammelte Werke Band 4, 1928, S. 690 f.]

Genosse Ernst hat seine Unzufriedenheit darüber ausgedrückt, dass der Drang der Masse zur Organisation nicht den Erwartungen entspricht, die wir an die Tatsache knüpfen, dass die Massen von den Herrschenden mit Skorpionen gepeitscht werden. Wir müssen uns leider, anstatt einen frisch-fröhlichen Kampf zu führen, mit der Frage beschäftigen, wie wir dem Rückgang der Abonnentenzahl des „Vorwärts" und unserer Mitgliederzahlen entgegenwirken können. Worin liegen die Ursachen? Diese Frage ist beim Geschäftsbericht unerörtert geblieben. Die wirtschaftliche Depression ist sicher nicht ohne Einfluss geblieben. Aber es fragt sich, ob die Art und Weise, wie wir den Kampf führen, geeignet ist, die Massen zu ermutigen. Dass darin gesündigt wurde, dafür haben wir ein klassisches Beispiel im Wahlrechtskampf. 1910 war er im schönsten Gange. Es folgten auf Versammlungen Straßendemonstrationen in immer gesteigerter Form. Aber gerade als wir die glänzendste Demonstration erlebt hatten, kam ein Wink: wir sollten nach Hause gehen, denn die Reichstagswahlen müssten vorbereitet werden. Unser Sieg bei diesen Wahlen war erfreulich, aber im Wahlrechtskampf geschah zunächst weiter nichts, bis vor kurzem wieder einmal 17 Versammlungen stattfanden. Das Zentralorgan der deutschen Partei schrieb zwar, die zweite Etappe des Wahlrechtskampfes sei angebrochen, es gelte, die Sturmkolonnen zu formieren. Aber ich frage: ist das die zweite Etappe, die wir jetzt erleben? Es ist außerordentlich gefährlich, solche schmetternde Kampffanfaren zu blasen, wenn man es nicht ernst meint. Ebert hat den Parteitag mit den Worten geschlossen: wir bekommen entweder das allgemeine Wahlrecht, oder es kommt der Massenstreik. Die gesamte Internationale blickte voll Erwartung nach Deutschland. Überall glaubte man wirklich, die Aktion von 1910 werde von neuem aufleben. Aber die Enttäuschung war groß. Eine solche Taktik wirkt entmutigend. Ein anders Beispiel erlebten wir bei dem schmählichen Urteil gegen die Denkmalsünder. Es war aber falsch, zu schreiben: die Tat war ein Werk von Spitzeln. Wir konnten uns dagegen wenden, dass wir für die Tat verantwortlich gemacht werden, durften aber der bürgerlichen Presse nicht den Vorwand geben, ihre heuchlerische Entrüstung mit unseren Argumenten zu stützen. Ich zweifle, ob man schon gegen das Urteil eine Protestaktion in die Wege geleitet hat. Genosse Ernst hat auf der Generalversammlung von Teltow-Beeskow wohl gesagt, der Vorstand will mitmachen, wenn die Masse die Initiative ergreift. Dieses Versprechen darf nur mit einem Körnchen Salz genossen werden. Das beweist der von Stadthagen schon herangezogene Artikel aus dem Mitteilungsblatt.1 Nicht unter den Kritikern sind die gekennzeichneten Leute zu suchen, die allerdings nicht in die Partei gehörten, wenn es solche gäbe. Der Verfasser sollte sagen, wen er meint. Zu einer starken Organisation gehören nicht nur gefüllte Kassen, sondern auch zielklarer Kampfgeist. Bezüglich des Wahlrechtskampfes unterbreite ich Ihnen folgende Resolution:

Die Erklärung des preußischen Polizeiministers vom 18. Mai im Abgeordnetenhaus, wie der bisherige Verlauf des Wahlrechtskampfes, haben klar bewiesen; dass einzig und allein der höchste Druck des Massenwillens, dass nur der Massenstreik einem gleichen Wahlrecht in Preußen die Bahn zu brechen vermag. Jetzt hat die zweite Etappe der Wahlrechtsbewegung begonnen, die in Berlin wie in ganz Preußen mit steigender Wucht weitergeführt werden muss. Die Verbandsgeneralversammlung fordert die Genossen und Genossinnen von Groß-Berlin auf, mit allen Kräften in Werkstätten, Zahlabenden, in allen Zusammenkünften dafür zu agitieren, dass der Wille und die Bereitschaft der Massen zur höchsten Machtentfaltung in Preußen sobald wie möglich zur Tat wird."

Die Resolution wurde angenommen.

1 Der Artikel war ein versteckter Angriff auf die Radikalen. Sein Verfasser war Ernst Däumig.

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