Rosa Luxemburg 19140616 Ein Schritt vorwärts

Rosa Luxemburg: Ein Schritt vorwärts

[Erschienen in der „Sozialdemokratischen Korrespondenz" am 16. Juni 1914. Nach Gesammelte Werke Band 4, 1928, S. 692-694]

Die letzte Verbandsgeneralversammlung der acht Berliner Wahlkreise hat gezeigt, dass die Genossen der Reichshauptstadt entschlossen sind, die ihnen gebührende Stellung der Avantgarde im preußischen Wahlrechtskampf tatkräftig zu behaupten. Die frische Kampfstimmung, die in der Versammlung herrschte, der Ernst und der Eifer, womit man während der ganzen Tagung auf die Erörterung des preußischen Wahlrechtskampfes einging, endlich die gefassten Beschlüsse legen unzweideutiges Zeugnis für den festen Willen der Berliner Arbeiterschaft ab, mit den Kampfansagen der Partei bitteren Ernst zu machen. Das Beispiel Berlins wird zweifellos auf ganz Preußen, ja auf die Genossen im ganzen Reiche ermutigend und anfeuernd wirken. Die letzte Berliner Tagung ist aber nicht bloß durch die Beschlüsse bedeutsam, die schließlich mit übergroßer Mehrheit zur Annahme gelangten, sondern nicht minder durch die Ausführungen, mit denen man gegen jene Beschlüsse Opposition machte und an ihnen Kritik übte. Die Äußerungen des Genossen Richard Fischer sind in dieser Beziehung als die deutlichste und schärfste Zusammenfassung der Gedankengänge jener Kreise der Partei und auch der Gewerkschaften zu begrüßen, die als Gegner der Massenstreikidee und der allgemeinen Verschärfung unserer Taktik auftreten. Worin gipfelte die Kritik des Genossen Fischer? In der Ausmalung eines blühenden Phantasiebildes von einer wilden Putschtaktik, die angeblich nur darum den Massenstreik in Deutschland herbeisehnt, weil sie bewusst auf einen „Zusammenstoß mit der bewaffneten Macht" spekuliert, um durch immer neue Zusammenstöße auf die „Revolution" hinzuarbeiten! Eine Vorstellung, die in ihrer Harmlosigkeit genau an die bekannten Schreckbilder der sozialdemokratischen Taktik erinnert, deren Wohnstätte die Puttkamersche Phantasie ist. Der Massenstreik sei kein Mittel, das gleiche Wahlrecht in Preußen zu erobern, er sei nur geeignet, „die ganze Macht aufs Spiel zu setzen", warnte Genosse Fischer. Und welche Taktik empfahl er selbst im Namen jener, die über „Syndikalismus und Putschismus" wehklagen? „Wir befinden uns im Wahlrechtskampf in der Sackgasse" und „Wir kriegen das freie preußische Wahlrecht erst an dem Tage, wo die Sozialdemokratie die Macht hat, die preußische Regierung zu stürzen und die Herrschaft des Kapitalismus." Mit anderen Worten: mit dem gleichen Wahlrecht zum preußischen Landtag müssen wir warten bis zur sozialen Revolution; erst in der sozialistischen Gesellschaft beseitigen wir das Dreiklassenwahlrecht. Bis dahin sind wir „in der Sackgasse", d. h. können nicht rückwärts und nicht vorwärts, wissen nicht ein noch aus! Das ist eine politische Bankrotterklärung der Sozialdemokratie, ein vor aller Welt öffentlich abgelegtes Bekenntnis der Ohnmacht der Arbeiterklasse, wie man es in der Geschichte unserer Partei noch nie erlebt hat. Warten auf die soziale Revolution, im Übrigen sich jede neu angetane Schmach der herrschenden Reaktion geduldig gefallen lassen, – das ist also der Weisheit letzter Schluss, die dem deutschen Proletariat von denjenigen Führern empfohlen wird, welche gegen den Popanz des „Syndikalismus" und „Putschismus" ins Feld ziehen! Es ist unter diesen Umständen ein wahres Glück für das Ansehen der Partei nach innen wie nach außen, dass die Berliner Genossen gerade nach diesen Ausführungen mit so überwältigender Mehrheit ihr Bekenntnis zur kampffrohen Tat abgelegt, ihren Glauben an die Macht der Arbeitermassen kundgetan haben. Es ist namentlich zu erwarten, dass der bedeutsame Vorstoß, der mit der Sammlung eines Massenstreikfonds gemacht worden ist, von den breitesten Schichten der aufgeklärten Arbeiterschaft in Deutschland mit Jubel begrüßt wird, als ein deutliches, handgreifliches Zeichen, dass der Wille zur Tat in der Partei kein leeres Wort ist, dass wir aus der Phase der Drohungen in die Phase der Erfüllung hinüber treten.

In diesem Sinne ist der „Kampffonds" auch nur zu verstehen. Unter keinen Umständen dürfen wir mit dem Sammeln von Mitteln für den künftigen Massenstreik bei den Arbeitern die Vorstellung erwecken, als sei das gesammelte Geld nun die eigentliche Vorbereitung der Kampfaktion, deren Gelingen von der Höhe der eingebrachten Summe abhängig, deren Beginn an ein bestimmtes Minimum dieser Summe geknüpft wäre. Das einzige Beispiel unter den zahllosen politischen Massenstreiks im Auslande, bei dem das Sammeln von Geldmitteln zur Voraussetzung der Aktion gemacht worden ist, war der letzte belgische Wahlrechtsstreik, der in Bezug auf seinen politischen Effekt viel weniger erreicht hat, als die früheren belgischen und als viele andere Streiks, die ohne gesammelte Fonds ins Werk gesetzt worden waren. Die Wirksamkeit von Massenaktionen hängt in erster Linie nicht von dem Umfang des Geldbeutels ab, über den die Kämpfenden verfügen, sondern von der Kühnheit und Konsequenz der politischen Taktik, die den Massenstreik begleitet und leitet. Wir haben auch an den Schicksalen der Maifeier erlebt, wie die Frage der Unterstützung zum verhängnisvollen Hemmschuh für die Aktion selbst gemacht werden kann. Um so mehr Grund, dass wir bei dem Sammeln von Geldmitteln für den Massenstreik der Arbeiterschaft klar und scharf einprägen: der Schwerpunkt der Vorbereitung liege nicht in den Kassen, sondern in der Bereitschaft der Massen, jegliche Opfer des Kampfes, auch den Hunger, auf sich zu nehmen. Der wirkliche „Kampffonds" jeder großen historischen Bewegung ist nicht klingendes Geld, sondern der Idealismus der Massen und die vorwärts strebende, konsequente Politik ihrer Führer. Gerade und nur als ein deutliches Zeichen, dass die Berliner Arbeiterschaft jenen Idealismus zu betätigen und diese Politik bei ihren Führern einzuleiten fest entschlossen ist, sind die Beschlüsse der letzten Berliner Generalversammlung ein Markstein in der Geschichte unserer Partei. Was diejenigen Parteikreise nicht zu begreifen vermögen, in deren Namen Genosse Fischer sprach, das haben die Berliner Genossen bereits vorzüglich verstanden: die wirkliche „Vorberatung" des Massenstreiks, das sind nicht technische Maßnahmen, die im Voraus eine Schablone und ein fertiges Schema für eine große geschichtliche Bewegung festlegen wollen, sondern das ist die politische Erziehung der Massen und der Führer zur Zielklarheit, Entschlossenheit, Selbständigkeit im Denken und Fertigkeit im Handeln.

Alle Bedenken und Befürchtungen, dass uns die notwendige Unterstützung der Gewerkschaften bei einem solchen Beginnen fehlen könnte, lösen sich in Dunst auf angesichts der jüngsten Praxis der herrschenden Reaktion. Ob die Gewerkschaftsführer es wollen oder nicht, die Gewerkschaften müssen über kurz oder lang in Kämpfe geraten, in denen es hart auf hart gehen wird. In dem jetzigen Kurs geht es den Gewerkschaften viel mehr an Kopf und Kragen, als der Parteiorganisation. Die Lust zu fortgesetzten Angriffen auf das Koalitionsrecht kann den Reaktionsknechten einzig und allein durch ein wuchtiges Auftreten der Massen, durch eine imposante Machtentfaltung der Arbeiterklasse ausgetrieben werden. Deshalb ist jede Machtstärkung, jeder kühne Entschluss zu Massenaktionen in Deutschland zugleich eine Rückendeckung für die Gewerkschaften. Und wenn wir zum preußischen Wahlrechtskampf unsere Sturmkolonnen formieren, können wir ruhigen Gewissens auch die begeisterte Unterstützung von jedem Gewerkschaftsgenossen erwarten und fordern mit den Worten: Tua res agitur – um deine Sache handelt es sich!

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