Rosa Luxemburg 19120318 Märzenstürme

Rosa Luxemburg: Märzenstürme

[Erschienen in der „Gleichheit" am 18. März 1912. Nach Gesammelte Werke Band 4, 1928, S. 620-624]

Wenn die Proletarier je im Wust der Tagespolitik den Maßstab für große und kleine Dinge verlieren, wenn sie je im Staube der öden Lebensstraße ermatten und für einen Augenblick an ihrer Kraft verzweifeln sollten, so gibt es ein sicheres Mittel, diese Stimmung zu überwinden: es ist das ein Blick auf die zurückgelegte Strecke ihres geschichtlichen Weges, auf der wie große Marksteine die wichtigsten revolutionären Waffengänge des Proletariats stehen. Die Arbeiterklasse hat auch allen Anlass, ihren geschichtlichen Erinnerungstagen immer wieder ernste Aufmerksamkeit zu schenken. Sind sie doch für uns das große Lehrbuch, das uns Wegweiser für den weiteren Vormarsch gibt, aus dem wir lernen, alte Fehler zu vermeiden und neue Illusionen zu zerstören. Denn nur durch beständige Selbstkritik, durch das Besinnen auf sich selbst vermag die proletarische Masse ihren großen Klassenkampf und ihre großen Ziele zum Siege zu führen. „Bürgerliche Revolutionen," schrieb Karl Marx vor 65 Jahren, „wie die des achtzehnten Jahrhunderts, stürmen rascher von Erfolg zu Erfolg, ihre dramatischen Effekte überbieten sich, Menschen und Dinge scheinen in Feuerbrillanten gefasst, die Ekstase ist der Geist jedes Tages; aber sie sind kurzlebig, bald haben sie ihren Höhepunkt erreicht, und ein langer Katzenjammer erfasst die Gesellschaft, ehe sie die Resultate ihrer Drang- und Sturmperiode nüchtern sich aneignen lernt. Proletarische Revolutionen dagegen, wie die des neunzehnten Jahrhunderts, kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eigenen Laufe, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen: Hic Rhodus, hic salta! Hier ist die Rose, hier tanze!1"

Der 18. März ruft zwei historische Ereignisse in Erinnerung, die für die internationale Arbeiterklasse wie zwei lodernde Fackeln die Strecke des letzten halben Jahrhunderts beleuchten: die Revolution von 1848 und die Pariser Kommune von 1871. Die deutsche Revolution, die mit dem 18. März ihre siegreiche Schlacht auf den Straßen Berlins geschlagen hat, ist eine einzige große Lehre vom Bankrott des bürgerlichen Liberalismus. Am 18. März hatte die Arbeiterschaft mit Heldenmut auf den Barrikaden die alte feudale Monarchie geschlagen, hatte sie die Bahn gebrochen für eine fortschrittliche demokratische Entwicklung Deutschlands, für die deutsche Einheit, für die deutsche Republik, für das allgemeine, gleiche Wahlrecht in Preußen. Was ist von alledem zur Wirklichkeit geworden? Nichts! Die Bajonette Wrangels, die Rückkehr der geschlagenen Junkerherrschaft, die Konterrevolution und die bleierne Kirchhofsruhe der fünfziger Jahre in Deutschland und dann in den siebziger Jahren die Karikatur der deutschen Einheit in Gestalt der neuen deutschen Reichsherrlichkeit, mit einer Karikatur der Volksvertretung in Gestalt des heutigen Reichstags – als Geschenk aus den blutigen Händen Bismarcks, geboren unter dem Fluche des modernen Militarismus –, das waren die Ergebnisse niederträchtigen Verrats der liberalen Bourgeoisie, die schon am Tage nach dem Siege der Berliner Arbeiter hinter deren Rücken ein Techtelmechtel mit der Reaktion begann. Schon damals war den Vätern der heutigen Fortschrittler und Nationalliberalen das schimpfliche Joch des Junkerregimentes auf eigenem Nacken lieber als der Anblick des steifnackigen, revolutionären Ungestüms der Proletariermassen; schon damals hatten sie ihren historischen Beruf darin gefunden, sich von Proletarierhänden Kastanien aus dem Feuer der Reaktion holen zu lassen und im gleichen Augenblick die Helfer in der Not an dieselbe Reaktion für einen Judaslohn zu verkaufen. Und doch waren damals die liberalen Bourgeois in Deutschland die Herren der Situation, die berufenen Führer der Volksmasse, denn noch war der Riese Proletariat ein Knabe, unbewusst seiner Kraft und seiner Ziele, und noch standen an der Spitze des Liberalismus Männer, die sich bei all ihrer Feigheit und Jämmerlichkeit selbst als Schatten noch neben dem heutigen Geschlecht wie Riesen ausnehmen. Und von diesen zwerghaften Enkeln ihrer verräterischen Großväter, von diesen Deserteuren des Kampfes, die im Verlauf der ganzen späteren Geschichte von Stufe zu Stufe der Schmach und der Erniedrigung gesunken und bis aufs Mark der Knochen korrumpiert sind: von ihnen ausgerechnet sollte heute das deutsche Proletariat eine Waffenbrüderschaft im Kampfe mit der Reaktion erwarten? Heute, wo die Macht und das revolutionäre Klassenbewusstsein der Arbeiter die bürgerliche Welt mit Schrecken erfüllen, wo der Liberalismus von der Höhe seiner historischen Führerrolle ins Jammertal des engen Daseins zwischen die zwei großen Mühlsteine der modernen Geschichte geraten ist: zwischen die Mühlsteine der Arbeit und des Kapitals? Ehe der deutsche Liberalismus von den Toten aufersteht, um die Welt mit dem Waffengeklirr seiner Ruhmestaten zu erfüllen, würden die Märzgefallenen im Friedrichshain in Berlin aus ihren Grüften steigen, um uns das schlimmste Wort ins Gesicht zu schleudern: Ihr habt nichts gelernt und nichts vergessen!

Eine andere wichtige Lehre brachte die Geschichte im Monat März den kämpfenden Proletariern. Am 18. März 1871 ergriff das Pariser Proletariat die Macht in der Hauptstadt Frankreichs, die von der Bourgeoisie verlassen, von den Preußen bedroht war; es errichtete die Herrschaft der glorreichen Kommune. Zwei Monate bloß dauerte das friedliche, segensreiche Walten der Arbeiter am Ruder des Staates, der durch seine herrschenden Klassen in den Strudel verbrecherischer Kriegswirren und vernichtender Niederlagen gestürzt war. Die feige französische Bourgeoisie, die vor dem fremden Feind ausgerissen war, raffte sich schon im Mai auf, um im Bunde mit dem Feind den Kampf auf Tod und Leben gegen den „inneren Feind" durchzufechten, gegen die Pariser Arbeiterschaft. In der „blutigen Maiwoche" ging die proletarische Kommune zugrunde in furchtbarem Gemetzel, unter rauchenden Trümmern, unter Bergen von Leichen, unter Ächzen Lebender, die mit Toten begraben wurden, unter trunkenen Orgien der rachedurstigen Bourgeoisie. Ein schmuckloser Rasen an der äußersten Mauer des marmorprunkenden Pariser Friedhofs Pere Lachaise war alles, was in den ersten Jahren von der Kommune geblieben zu sein schien. Aber von diesem stillen Rasen erhob sich bald für die Proletarier beider Welten die große heilige Tradition und die mit dem Blute von Zehntausenden erkaufte Doppellehre: es gibt keinen Platz für die politische Herrschaft des Proletariats innerhalb der Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaftsordnung; es gibt aber auch keine Möglichkeit, diese Bedingungen abzuschaffen, bis sie nicht ihre Reife erreicht haben. Nicht in luftigen Träumen von einer politisch ausschlaggebenden Stellung im heutigen Staate, dank irgendeiner plötzlichen Wendung der Umstände, kann die Arbeiterklasse ihre Sache verfechten, sondern lediglich in ständiger revolutionärer Opposition gegen diesen Staat. Und wenn die Pariser Kommune durch die leuchtende Spur ihres kurzen Daseins wie ihres heldenhaften Untergangs für immer ein Beispiel geblieben ist, wie eine revolutionäre Volksmasse nicht vor der Ergreifung der Macht zurückschrecken darf, auch wenn die Stunde der Geschichte ihrer Macht weder Dauer noch Sieg beschieden hat, so ist sie zugleich ein überragendes Denkmal der unversöhnlichen Todfeindschaft zwischen der bürgerlichen Gesellschaft und dem Proletariat, das nur ständig eingedenk seines tiefen Gegensatzes zur gesamten Bourgeoisie, nur im entschlossenen Kampfe gegen die gesamte Bourgeoisie seine geschichtliche Mission zu erfüllen vermag.

Seitdem hat die kapitalistische Entwicklung im Sturmschritt die Welt erobert. Auf dem Grabe der Kommune hat sich in Frankreich endgültig die dritte Republik befestigt, als unumschränkte Klassenherrschaft der Bourgeoisie, die in der Kolonialpolitik, im Militarismus, im Bündnis mit dem russischen Zarentum die ehemaligen Illusionen über den sozialistischen Charakter der bloßen republikanischen Staatsform begraben hat. Seit 1871 erst hat in Deutschland der Großkapitalismus in der Gründer- und Schwindelperiode seinen Einzug gehalten. Seitdem erst ist Russland, das damals kaum die Leibeigenschaft abgestreift hatte, in seiner kapitalistischen Entwicklung mit Siebenmeilenstiefeln bis an den Ausbruch der großen Revolution geeilt. Seitdem erst sind die Vereinigten Staaten aus einem Agrarstaat zum Industriestaat ersten Ranges geworden. Seitdem erst hat England seine industrielle Alleinherrschaft auf dem Weltmarkt verloren. Seitdem erst hat die Kolonialpolitik und Weltpolitik die kapitalistische Ausbeutung und Unterdrückung, aber auch die Rebellion in alle Winkel der Erde getragen und das revolutionäre Erwachen des Orients heraufbeschworen.

Die Arbeiterklasse hat seitdem in allen modernen Staaten gelernt, die Waffe des Parlamentarismus zum täglichen Kampfe, zur eigenen Schulung, Aufklärung und Sammlung zu gebrauchen. Das Kommunistische Manifest, das während der Märzrevolution erst geboren, während der Pariser Kommune selbst in Deutschland nur einer Handvoll proletarischer Kämpfer ein Wegweiser war, ist seitdem zum Banner ungezählter Millionen in allen Ländern geworden.

Und heute, im März, treten wieder die Elementargeister des Klassenkampfes in ihrer ganzen Größe auf die Bühne. Nicht mehr in Barrikadenkämpfen allein offenbaren sich Blitze und Donnerrollen der Weltgeschichte, wie 1848 und noch 1871. Ein Streik der Bergarbeiter Deutschlands und Englands ist es, der heute die Welt in seinem Banne hält. Ein einfacher Gewerkschaftskampf, aber einer von jenen, die schon durch ihren riesenhaften Umfang, wie durch ihre grundlegende Bedeutung für das gesamte Wirtschaftsleben der Gesellschaft die schlichte „Messer- und Gabelfrage" zu einer sozialen und politischen Katastrophe im Staate gestalten. Hier, bei den Millionen Bergsklaven, die der kapitalistische Profithunger zum unterirdischen Leben unter Qualen der Danteschen Hölle verurteilt hat, hier brodeln die vulkanischen Kräfte des Klassenkampfes in ihrer ungehemmten Grundgewalt. Jedes Mal, wenn die Bergsklaven ihre Glieder recken, erzittert der Boden des kapitalistischen Staates. Und heute sind sie – Millionen an der Zahl – in den zwei höchstentwickelten kapitalistischen Staaten gleichzeitig an die Oberfläche gestiegen, um eine Abrechnung mit dem herrschenden Kapital zu halten. Es sind dieselben englischen Proletarier, die in den siebziger Jahren auf der Höhe der industriellen Weltherrschaft Englands noch den Himmel voller Geigen sahen und mit der ausbeutenden Bourgeoisie schiedlich-friedlich auszukommen hofften. Es sind dieselben deutschen Bergarbeiter des Ruhrreviers, die noch 1889 in einer Abordnung an den deutschen Kaiser den Vater Staat um gütige Hilfe anflehten. Heute stehen sie – Engländer wie Deutsche – nicht als Hoffende und Bittende, nein, als trotzige, wetterharte Kämpfer da, die nur auf sich selbst, auf die Solidarität und die Macht des Proletariats bauen.

Und der erste Eindruck ihres Kampfes gibt ihnen recht. Kaum haben sich die Arbeiterbataillone in Bewegung gesetzt, so richteten sich die erstarrten Blicke der bürgerlichen Welt auf ihren Kampf als auf das wichtigste Ereignis der Zeitgeschichte. Vor den verschränkten Armen der Millionen Bergarbeiter verstummte in England das tägliche Geplätscher der politischen Nichtigkeiten, verstummte in Deutschland das parlamentarische Gezänk um die welterschütternde Frage, wer in den gepolsterten Präsidentenstuhl im Reichstag seinen Hintern drücken soll.

Ob der Streik diesmal gelingen wird? Eine müßige Frage! Der Kampf selbst ist ein Sieg der Arbeitersache, weil er eine Offenbarung des Klassenbewusstseins, der Solidarität und der Macht der Arbeiter ist, eine Mahnung zum Kampfe und eine Verheißung künftigen endgültigen Sieges für das gesamte internationale Proletariat.

Kommentare