Rosa Luxemburg 19140606 Nochmals der preußische Wahlrechtskampf

Rosa Luxemburg: Nochmals der preußische Wahlrechtskampf

[Erschienen in der „Sozialdemokratischen Korrespondenz" am 6. Juni 1914. Nach Gesammelte Werke Band 4, 1928, S. 687-689]

Durch die Berliner Protestversammlungen am 26. Mai ist im preußischen Wahlrechtskampf der Stein ins Rollen gekommen. Die Berliner Arbeiterschaft hat an ihrem Teil eine würdige Antwort auf die Loebellsche Herausforderung erteilt, indem sie in siebzehn glänzend besuchten, von bester Kampfstimmung getragenen Versammlungen den Auftakt zum Kampf in ganz Preußen gab. In einigen Wahlkreisen sprach sie in scharf pointierten Resolutionen ihre Überzeugung aus, dass die Versammlungen vom 26. Mai nur der erste Schritt einer erneuten Kampfaktion um das preußische Wahlrecht sein können, die sich naturgemäß steigern müsse, bis sie im politischen Massenstreik die einzig wirksame höchste Machtentfaltung der proletarischen Massen erreicht. Und genau im gleichen Sinne rief das Zentralorgan, der „Vorwärts", in seiner Aufforderung zu jenen Berliner Versammlungen: „Die zweite Etappe der Wahlrechtsbewegung beginnt! Formiert die Sturmkolonnen zum Wahlrechtskampfe!" Sowohl das Zentralorgan der Partei, das ja mit den leitenden Instanzen in so wichtigen Fragen naturgemäß Fühlung haben muss, wie die Berliner Arbeiterschaft, die ebenso naturgemäß zur Führung im preußischen Wahlrechtskampfe berufen ist, haben in unzweideutigster Weise den Appell an die gesamte Partei in Preußen gerichtet, nunmehr in den Kampf auf der ganzen Linie zu treten. Durch dieses Vorgehen des Zentralorgans wie der Berliner Leitung ist aber die Gesamtpartei vor eine ernste Pflicht gestellt worden. Es ist klar, dass eine Organisation von unserer Größe und Bedeutung nicht leichtfertig Drohungen und Kampfansagen in die Welt hinaus schmettern kann, ohne ihnen entsprechende Aktionen folgen zu lassen. Es ist klar, dass eine Viermillionenpartei nicht offiziell erklären kann: „Die zweite Etappe der Wahlrechtsbewegung beginnt", um hinterdrein keinen Finger zu rühren zur Verwirklichung dieser angesagten „zweiten Etappe". Wir würden uns ja bei Freund und Feind lächerlich machen, und die Aussichten des preußischen Wahlrechtskampfes für längere Zeit ernstlich gefährden, wenn wir in den Massen den falschen Verdacht aufkommen ließen, als stände hinter unseren Kampfparolen kein ernster Wille zur Tat, als wären wir fähig, nach Art der Liberalen dröhnende Ouvertüren mit kläglichem Versagen der Kampflust zu paaren. Und schließlich vergessen wir nicht, dass auf die deutsche Sozialdemokratie die Blicke der gesamten Internationale gerichtet sind. Die Berliner Protestversammlungen und die herzerfrischende Kampfparole des „Vorwärts" haben im Auslande das freudigste Echo gefunden. So schrieb Genosse Bracke in der Pariser „Humanité" am 31. Mai zum Schluss eines ausführlichen Artikels über die beginnende „zweite Etappe der Wahlrechtsbewegung": „Die deutsche Sozialdemokratie nimmt also von nun an den Kampf um das gleiche Wahlrecht wieder auf. Auf mehreren Parteitagen hat sie beschlossen, ihn unermüdlich zu führen und, falls es nicht im Parlament ginge, das Wahlrecht auf der Straße zu erobern. Sie erklärte auch, dass nötigenfalls die Waffe des Massenstreiks in diesem Kampfe in Anwendung kommen würde. – Die Versammlungen sind nun im Gange, die Parteipresse tut das ihrige, die Flugblätter werden verteilt. Man kann sich auf die deutsche Arbeiterschaft verlassen, dass sie den Kampf bis zu Ende führen wird. Sie kämpft ja nicht für sich allein, sondern für das Proletariat der ganzen Welt." Ebenso ernst und aufmerksam wird der preußische Kampf im übrigen Ausland verfolgt.

Inzwischen scheint die preußische Parteizentrale mit der nötigen Initiative zur Aktion im ganzen Lande etwas zu zögern. Es mag dabei zu einem großen Teil die übliche Unterschätzung der Kampflust der Massen eine Rolle spielen. Für verantwortliche Organe einer großen Massenpartei wird es in gewöhnlichen Zeiten immer ein mehr oder minder schwerer Entschluss sein, die erste Parole zu großen Aktionen zu geben, ohne die Sicherheit zu haben, dass der Parole an Umfang und Wucht würdige Aktionen auf dem Fuße folgen werden. Allein eine solche Sicherheit kann gerade eine Massenpartei nie im Voraus in der Tasche haben, und gewonnen kann sie erst recht nicht werden, wenn sich die leitenden Organe vor lauter Bedenken zu gar keiner Initiative entschließen können. Wer die unvergessliche Demonstrationsbewegung des Jahres 1910 in Preußen erlebt hat, konnte in allen Gegenden des Landes ohne Ausnahme von den leitenden Instanzen hören, dass sie die Größe und die Wucht jener Aktionen nie zu erwarten gewagt hatten. Die tatsächliche Kampfstimmung und Disziplin der Massen hatte damals alle Berechnungen der führenden Genossen weit übertroffen. Und dieselbe Erfahrung werden wir noch häufig machen, – vorausgesetzt allerdings, dass die Partei nicht selbst zaghaft und schwankend, ohne Lust und Glauben an die Sache herantritt, vorausgesetzt namentlich, dass wir die Massen nicht durch Ansagen von Aktionen beirren, denen wir überhaupt nichts folgen lassen.

Die Zeit, in der wir leben, trägt mit jedem Tag so viel aufreizendes Material, soviel Stoff zur Erregung der Massen zuhauf, dass es Wunder wäre, wenn die Massen bei richtiger, konsequenter und ausdauernder Agitation nicht die erforderliche Kampflust aufbringen würden. Kommt es doch nicht etwa auf eine künstlich aufgebauschte Aktion, nicht auf eine gewaltsam herbeigeführte einmalige Entscheidung an. Worauf es ankommt, ist – der in den Massen aus allen möglichen Ursachen aufgespeicherten Erbitterung und Empörung Ausdruck zu verleihen, auf die freche Herausforderung des preußischen Junkerregiments die nötige Antwort zu erteilen und – mit den eigenen Worten der Partei Ernst zu machen. Ob und wieweit die Stimmung der Massen in jeder einzelnen Etappe der Bewegung die Aktion zu entfalten erlaubt, kann niemand im Voraus mit Sicherheit bestimmen und noch weniger von oben herab mit dem Taktstock kommandieren. Was aber mit tödlicher Sicherheit vorausgesehen werden kann, das ist, dass gar keine Stimmung und gar keine Aktion in absehbarer Zeit zustande kommen, wenn die Partei fortfährt, nach einem kräftigen Trompetenstoß von der beginnenden „zweiten Etappe" und von den zu formierenden „Sturmkolonnen" nach einem schüchternen halben Schritt gar nichts weiter zu unternehmen, wenn die Presse, die Wahlvereine, die lokalen Organe der Partei nicht zur Aufrüttelung der Massen das Nötige an ihrem Teil leisten.

In jedem Moment das Maximum an Aktionsfähigkeit der Massen auszulösen, ist direkte Pflicht einer Kampfpartei wie die unsere. Und wenn die Initiative dazu vom Zentrum aus mangelt, dann muss in einer echten demokratischen Partei wie die unsere die Initiative von unten auf, aus der Provinz, nachhelfen.

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