Rosa Luxemburg 19100325 Zeit der Aussaat

Rosa Luxemburg: Zeit der Aussaat

[Erschienen in der Breslauer „Volkswacht" am 25. März 1910. Nach Gesammelte Werke Band 4, 1928, S. 519-522]

Seit Jahrzehnten vielleicht haben wir keine Situation in Deutschland, speziell in Preußen, gehabt, die für die Verbreitung der sozialdemokratischen Lehren so günstig gewesen wäre, wie die gegenwärtige. Noch wirkte in den breitesten Schichten der arbeitenden Bevölkerung der Groll nach den Hottentottenwahlen nach, als der Raubzug der herrschenden Klassen gegen das Proletariat, das Bauerntum und Kleinbürgertum, als die sogenannte „Finanzreform" die Masse der Geplünderten und Weißgebluteten aufs tiefste empört hat. Und noch waren die Wirkungen dieses frechen Streiches gegen das materielle Wohl der Arbeitenden nicht entfernt in ihrer ganzen Tragweite zum Ausdruck gekommen, als darauf die zynische Komödie der preußischen „Wahlrechtsreform" wie ein derber Faustschlag ins Gesicht des arbeitenden Volkes folgte. Als aber die Sozialdemokratie die empörten Massen der Ausgebeuteten und Entrechteten auf die Straße geführt hatte, um gegen den Frevel laut zu protestieren, da blitzten Polizeisäbel in der Luft auf, da sausten Säbelhiebe auf die Rücken der Demonstrierenden nieder, da wurden Soldaten in Kasernen konsigniert (bereitgehalten) und Kanonen im Hinterhalt geladen.

So haben die Gegner für uns den Boden tausendfach vorbereitet, die Geister aufgerüttelt, die Gleichgültigen zum Groll, die Trägen zum Nachdenken gezwungen. An uns liegt es, jetzt die Saat der Aufklärung in den Boden mit vollen Händen zu streuen. Die Brutalitäten der Polizei, die parlamentarischen Frivolitäten der Reaktionsparteien sind der nächste Anlass, der uns die Aufmerksamkeit und die Zustimmung der breitesten Massen sichert. Für uns können sie aber nur ein Anlass sein, um die tieferliegenden Wurzeln dieser Erscheinungen bloßzulegen, um den Klassenkampf in seinem ganzen Umfang und seiner ganzen historischen Tragweite zu predigen. Und heute braucht die Lehre vom Klassenkampf nicht als graue Theorie aus Büchern hervorgeholt zu werden, sie geht heute in Deutschland auf der Straße einher, sie ruft laut und gellend ihre Wahrheit jedermann in die Ohren. Hat sich der bürgerliche Liberalismus erst vor kurzem in der Blockpolitik ruiniert, so beeilte sich, wie im tollen Hexensabbat der Reaktion, die Partei des Zentrums, in der preußischen Wahlrechtsfrage den letzten Rest ihres Rufs als Volkspartei zu ruinieren. Unter der Führung des konservativen Junkertums, unter aktiver und passiver Mitwirkung und Mitschuld aller bürgerlichen Parteien, unter den Fittichen einer Regierung, die zum Stiefelputzer des Junkertums degradiert ist, erscheint heute der bürgerliche Klassenstaat in seiner ganzen abschreckenden Gestalt, bloßgestellt, nackt, dem Abscheu und dem Hass der arbeitenden Massen preisgegeben. Wir brauchen nur die Zusammenhänge, die Ursachen und Wirkungen aufzuzeigen, um die klare Erkenntnis des Klassenkampfes in Millionen von Hirnen auflodern zu lassen.

Das allgemeine, gleiche, direkte Wahlrecht für alle Erwachsenen, ohne Unterschied des Geschlechts, ist das nächste Ziel, das uns die begeisterte Zustimmung der breitesten Schichten im gegenwärtigen Moment sichert. Aber dieses Ziel ist nicht das einzige, das wir jetzt predigen müssen. Indem wir in Beantwortung der infamen Wahlreformstümperei der Regierung und der bürgerlichen Parteien die Losung eines wahrhaft demokratischen Wahlsystems proklamieren, befinden wir uns immer noch – die politische Situation im ganzen genommen – in der Defensive. Gemäß dem alten guten Grundsatz jeder wirklichen Kampftaktik, dass ein kräftiger Hieb die beste Verteidigung ist, müssen wir die immer frecheren Provokationen der herrschenden Reaktion damit beantworten, dass wir in unserer Agitation den Spieß umdrehen und auf der ganzen Linie zum scharfen Angriff übergehen. Dies kann aber am sichtbarsten, deutlichsten, sozusagen in lapidarster Form geschehen, wenn wir diejenige politische Forderung klar in der Agitation vertreten, die den ersten Punkt unseres politischen Programms ausmacht: die Forderung der Republik. In unserer Agitation hat bisher die republikanische Parole eine geringe Rolle gespielt. Dies hat seine guten Gründe darin gehabt, dass unsere Partei die deutsche Arbeiterklasse vor jenen bürgerlich- oder richtiger kleinbürgerlich-republikanischen Illusionen bewahren wollte, die zum Beispiel für die Geschichte des französischen Sozialismus so verhängnisvoll waren und bis heute noch geblieben sind. In Deutschland wurde der proletarische Kampf von Anfang an konsequent und entschlossen nicht gegen diese oder jene Formen und Auswüchse des Klassenstaates im Einzelnen, sondern gegen den Klassenstaat als solchen gerichtet, er zersplitterte nicht im Antimilitarismus, Antimonarchismus und anderen kleinbürgerlichen „Ismen", sondern gestaltete sich stets zum Antikapitalismus, zum Todfeind der bestehenden Ordnung in allen ihren Auswüchsen und Formen, ob unter monarchistischem oder republikanischem Deckmantel. Durch vierzig Jahre dieser gründlichen Aufklärungsarbeit ist es dann auch gelungen, die Überzeugung zum ehernen Besitz der aufgeklärten Proletarier in Deutschland zu machen, dass die beste bürgerliche Republik nicht weniger ein Klassenstaat und Bollwerk der kapitalistischen Ausbeutung ist, wie eine heutige Monarchie, und dass nur die Abschaffung des Lohnsystems und der Klassenherrschaft in jeglicher Gestalt, nicht aber der äußere Schein der „Volksherrschaft" in der bürgerlichen Republik die Lage des Proletariats wesentlich zu verändern vermag.

Allein, gerade weil in Deutschland den Gefahren republikanisch-kleinbürgerlicher Illusionen durch die vierzigjährige Arbeit der Sozialdemokratie so gründlich vorgebeugt worden ist, können wir heute ruhig dem obersten Grundsatz unseres politischen Programms in unserer Agitation mehr von dem Platz einräumen, der ihm von Rechts wegen gebührt. Durch die Hervorhebung des republikanischen Charakters der Sozialdemokratie gewinnen wir vor allem eine Gelegenheit mehr, unsere prinzipielle Gegnerschaft als einer Klassenpartei des Proletariats zu dem vereinigten Lager sämtlicher bürgerlichen Parteien in greifbarer, populärer Weise zu illustrieren. Der erschreckende Niedergang des bürgerlichen Liberalismus in Deutschland äußert sich ja unter anderem besonders drastisch in dem Byzantinismus vor der Monarchie, in dem das liberale Bürgertum noch das konservative Junkertum um einige Nasenlängen schlägt.

Doch nicht genug. Die ganze Lage der inneren wie der äußeren Politik Deutschlands in den letzten Jahren weist auf die Monarchie, als den Brennpunkt oder zum mindesten die äußere sichtbare Spitze der herrschenden Reaktion, hin. Die halbabsolutistische Monarchie mit dem persönlichen Regiment bildet zweifellos seit einem Vierteljahrhundert, und mit jedem Jahre mehr, den Stützpunkt des Militarismus, die treibende Kraft der Flottenpolitik, den leitenden Geist der weltpolitischen Abenteuer, wie sie den Hort des Junkertums in Preußen und das Bollwerk der Vorherrschaft der politischen Rückständigkeit Preußens im ganzen Reiche bildet, sie ist endlich sozusagen der persönliche geschworene Feind der Arbeiterklasse und der Sozialdemokratie. Die Losung der Republik ist also in Deutschland heute unendlich mehr als der Ausdruck eines schönen Traums vom demokratischen „Volksstaat", oder eines in den Wolken schwebenden politischen Doktrinarismus, sie ist ein praktischer Kriegsruf gegen Militarismus, Marinismus, Kolonialpolitik, Weltpolitik, Junkervorherrschaft, Verpreußung Deutschlands, sie ist nur eine Konsequenz und drastische Zusammenfassung unseres täglichen Kampfes gegen alle diese Teilerscheinungen der herrschenden Reaktion. Insbesondere aber weisen nach derselben Richtung gerade die Vorgänge der jüngsten Zeit: es sind dies die absolutistischen Staatsstreichdrohungen des Junkertums im Reichstag und die frechen Attacken des Reichskanzlers gegen das Reichstagswahlrecht im preußischen Landtag, sowie die Einlösung des „königlichen Wortes" in Fragen des preußischen Wahlrechtes durch die Bethmannsche Reformvorlage.

Die Forderungen der politischen Demokratie, der Gleichberechtigung, stehen heute naturgemäß im Vordergrunde unseres Kampfes und wecken ein lautes Echo in den Herzen von Millionen. Die besten demokratischen Reformen sind aber nur kleine Etappen auf dem großen proletarischen Marsch des Proletariats zur Eroberung der politischen Macht, zur Verwirklichung des Sozialismus. Für die sozialistischen Lehren muss denn auch jetzt mit verdoppelter Kraft geworben werden. Die gewaltigen Scharen der Unzufriedenen, der Ausgebeuteten und Geknechteten, die jetzt in unsere Versammlungen, zu unseren Demonstrationen eilen, sollen aus unserem Munde nicht bloß Worte der geißelnden Kritik gegen die in Preußen-Deutschland herrschende Reaktion, sondern auch Worte des sozialistischen Evangeliums, Grundsätze einer neuen, sozialen Welt erfahren. Aus Kämpfern gegen Bethmann Hollweg und den schwarzblauen Block sollen überzeugte Kämpfer für die sozialistische Gesellschaftsordnung geworben werden.

Der weitere Verlauf, der Sieg oder die Niederlage, der unmittelbare Erfolg der gegenwärtigen Kampagne können im voraus von niemandem berechnet und bestimmt werden. Doch mögen die Dinge eine Wendung nehmen, welche sie wollen, die Sache des Proletariats wird aus der Kampagne als Siegerin hervorgehen, wenn es uns gelungen ist, die jetzige Zeit des heißen Ringens nicht bloß zur Aufrüttelung und Aufpeitschung, sondern auch zur Aufklärung der Massen, nicht bloß zur mächtigen Erweiterung der Armee unserer Anhänger, sondern auch zur Vertiefung und Befestigung ihres sozialistischen Bewusstseins auszunutzen. Werfen wir jetzt in den aufgefurchten Boden mit vollen Händen die Saat des Sozialismus, dann wird die Ernte unser werden – trotz alledem!

Kommentare