Rosa Luxemburg 19110629 Zum kommenden Parteitag

Rosa Luxemburg: Zum kommenden Parteitag

[Erschienen in der „Leipziger Volkszeitung" am 29. Juni 1911. Nach Gesammelte Werke Band 4, 1928, S. 615-619]

Die vom Parteivorstand veröffentlichte Tagesordnung des diesjährigen Parteitags ermangelt nicht der Originalität. Sie enthält – abgesehen von den ordnungsgemäßen Berichten des Vorstands, der Kontrollkommission und der Reichstagsfraktion – im Grunde genommen nur einen einzigen Punkt: die bevorstehenden Reichstagswahlen. Die Reichsversicherungsordnung1, die den anderen Punkt der eigentlichen Tagesordnung bildet, ist zwar an sich ein höchst wichtiger Gegenstand, der auf dem Parteitag selbstverständlich verhandelt werden muss. Allein die parlamentarischen Geschicke der Reichsversicherung als eines Gesetzes sind bereits entschieden. Was jetzt übrig bleibt, ist die gebührende Ausnutzung des uns dabei gelieferten Materials gegen die Regierung und sämtliche bürgerlichen Parteien zur Aufklärung und Aufrüttelung der breitesten Kreise des Proletariats. Diese Aufklärungs- und Aufrüttelungsarbeit verflicht sich ganz naturgemäß mit unserem allgemeinen Wahlkampf, in dem sie eine hervorragende Rolle zu spielen berufen ist. Materiell neues zur Beleuchtung der Reichsversicherungsordnung wird nach den ausführlichen Betrachtungen in unserer gesamten Parteipresse und nach den Reden und Anträgen unserer Fraktion im Reichstag kaum noch übrig bleiben. Worauf es jetzt ankommt, sind die großen taktischen Richtlinien für die agitatorische Verwertung des neuen Attentates auf die Arbeiterklasse, damit gliedert sich aber der 4. Punkt der vorgeschlagenen Tagesordnung des Parteitags organisch dem 5., den Reichstagswahlen, an. So haben wir eigentlich einen Parteitag, der nur zu dem Ende zusammentreten soll, um über die bevorstehenden Reichstagswahlen zu beraten. Diese Konzentrierung des gesamten Parteilebens auf die Reichstagswahlen lässt sich von keinem Standpunkt rechtfertigen. Schon im Interesse der Wahlen selbst ist es kaum praktisch, dass unsere Wahlagitation so sehr früh in vollem Umfange und mit solcher Intensität eingesetzt hat und weiter in diesem Tempo aufrechterhalten werden soll. Eine vorzeitige Erschöpfung unserer agitatorischen Kräfte und Übersättigung der Massen könnten uns leicht einen gewissen Streich spielen gerade in der Schlussperiode des eigentlichen Wahlkampfes, falls der Wahltermin, was sehr möglich, weit in den Winter hinausgeschoben wird. Aber auch das Parteileben im Ganzen muss darunter leiden, wenn es so unnatürlich lange förmlich im Bann des ausschließlichen Gedankens an die bevorstehende Reichstagswahl steht. Schon seit einem Jahr bilden die Reichstagswahlen den Grundton und das Schlagwort bei allem unseren Tun und Lassen. Auf diese Weise werden die Massen durch den ständigen Kehrreim systematisch fasziniert, es werden in ihnen unwillkürlich ganz übertriebene Hoffnungen erweckt, wie wenn der Ausfall der Wahlen eine Art neue Ära in der politischen Geschichte Deutschlands, einen Wendepunkt in den Schicksalen des Klassenkampfes bedeuten sollte. Von den kommenden Wahlen ist mit Sicherheit ein ganz bedeutender Machtzuwachs der Sozialdemokratie im Sinne einer großen Erweiterung ihrer Anhängerscharen zu erwarten. Daran aber im Voraus irgendwelche nebelhaften Vorstellungen von einer totalen Umwälzung der Verhältnisse in Deutschland zu knüpfen, wäre einer ernsten Partei nicht würdig, und derartiges übertriebene Konzentrieren aller Hoffnungen und des gesamten Parteilebens auf irgendein nahegestecktes politisches Ziel hat sich noch immer durch späteren unvermeidlichen Katzenjammer gerächt.2

Unser Parteileben als der Ausdruck der Gesamtinteressen des proletarischen Klassenkampfes hat seine mannigfachen Seiten, die um keines vorübergehenden taktischen Zweckes willen vernachlässigt werden dürfen. Wir haben Aufgaben, die ständiger Natur sind, die über die bevorstehenden Reichstagswahlen hinausreichen und auf keinen Fall zurückgestellt werden dürfen. Der Parteitag als die höchste beratende und beschließende Instanz der Partei darf an solchen Aufgaben nicht vorbeigehen, er muss den laufenden Bedürfnissen und den heranreifenden praktischen Problemen Rechnung tragen. Von solchen besonders aktuellen Fragen der Organisation und Agitation scheint uns die der Jugendbewegung wohl geeignet, auf dem diesjährigen Parteitag zum Gegenstand ernster Beratungen zu werden. Es sind wenige Jahre erst, seit unsere Jugendbewegung geschaffen ist. Die Partei ist auf diesem Gebiete aus dem Stadium des Versuches noch nicht herausgekommen, und sie hat mit großen Schwierigkeiten von beiden Seiten zu ringen: sowohl mit den äußeren Hindernissen, die ihr ein brutales Polizeiregiment bereitet, wie mit inneren Schwierigkeiten, die sich aus der Neuheit der Aufgabe und ihrer Kompliziertheit ergeben. Auf den jüngsten allgemeinen Kreuzzug der Polizei gegen unsere Jugendorganisationen wäre der Parteitag berufen, durch demonstrative Bekräftigung der einmal vorgenommenen Aufgabe den Fehdehandschuh aufzunehmen, zugleich aber auch durch Prüfung der bisher gesammelten Erfahrungen der weiteren Arbeit Richtlinien zu geben.

Wie man indes auch zu der erwähnten Frage stehen mag, eine andere gehört unter allen Umständen auf die Tagesordnung des Parteitages, und das ist die Maifeier. Bisher stand die Maifeier fast auf jedem Parteitag zur Debatte und die vorgeschlagene Tagesordnung zum Jenaer Parteitag soll in einer langjährigen Praxis eine Ausnahme machen. Man fragt sich umsonst nach Gründen, die uns veranlassen könnten, gerade in diesem Jahre eine so auffallende Lücke in unseren Parteitagsberatungen zu lassen. Die Maifeier ist eine stehende Rubrik des Parteilebens, der Mittelpunkt der Agitation jedes Jahres, eine Aufgabe und ein Kampfziel, das durch keine Reichstagswahl in den Hintergrund geschoben werden kann. Genau so, wie der Gedanke der Maifeier zum ehernen Bestand der deutschen Sozialdemokratie geworden ist, so gehört die Maifeier auf die Tagesordnung eines deutschen Parteitages. Sind doch unsere Parteitage nicht bloß Verwaltungsinstanzen für innere Angelegenheiten der Partei, sondern Demonstrations- und Agitationsmittel von hervorragender Wirkung nach außen. Wir meinen damit nicht die bürgerliche Welt, auf die man etwa bei den Debatten des Parteitags Rücksicht nehmen müsste, sondern die breitesten Volksmassen, die ihr Augenmerk auf unsere Parteitage richten und für die unsere Verhandlungen ein ständiges Memento an die wichtigsten Aufgaben des Klassenkampfes, also auch an die Maifeier sein müssen. Wir haben jedoch außer diesen allgemeinen Gesichtspunkten um so weniger Anlass, die Frage der Maifeier in Jena zu umgehen, als sie immer noch nicht aufgehört hat, Gegenstand von widerstrebenden Strömungen und Kämpfen zu sein. Der glänzende Verlauf der diesjährigen Maifeier ist ein neues Argument gegen die Flaumacher, das mit aller Wucht von der Partei zu Protokoll genommen und ins Feld geführt werden muss.

Wenn auf der anderen Seite, trotz dieses jüngsten Beweises für die Lebendigkeit des Maifeiergedankens in den Arbeitermassen, eine ganze Gewerkschaft, wie die Buchdrucker, beschließt, die Abschaffung der Maifeier zu fordern, wenn eine andere, und zwar die stärkste deutsche Gewerkschaft, die der Metallarbeiter, es mit großer Mehrheit ablehnt, die Agitation für die Maifeier kräftiger wie bisher zu betreiben, so ergibt sich für die Partei die unabwendbare Pflicht, aus ihrer diesjährigen Beratung mit Nachdruck, wie in den früheren Jahren, zum möglichst eifrigen Ausbau der Maifeier aufzufordern.

Endlich muss man nach der Prüfung der mageren Tagesordnung des Parteitages unwillkürlich ausrufen: Und der preußische Wahlrechtskampf? Er stellt nach der bei uns allgemein vorherrschenden Auffassung keine preußische Angelegenheit dar, sondern bildet den Knotenpunkt der Reichspolitik, gehört also nach wie vor in die Beratungen der Gesamtpartei. Der Magdeburger Parteitag hat die vom preußischen Parteitag ausgegebene Parole zum Kampf auf der ganzen Linie aufgenommen, bestätigt. Was ist aber seitdem geschehen? Von gegnerischer Seite ist die Erklärung des Polizeiministers im Abgeordnetenhaus erfolgt, dass die Regierung an eine neue Vorlage in absehbarer Zeit gar nicht denkt, von unserer Seite ist aber zur Beantwortung dieser Provokation nichts erfolgt. Die Kampagne des vergangenen Frühlings ist an den Nagel gehängt worden und die Pause dauert seitdem ein Jahr. In der jüngsten Zeit bot die elsass-lothringische Verfassungsreform einen trefflichen Anlass zur Wiederaufnahme des Wahlrechtskampfes in Preußen. Die Zustimmung unserer Fraktion zu jener Reform, die so viele reaktionäre Bestimmungen enthielt, ist ja wiederholt und mit Nachdruck damit entschuldigt worden, dass man in der Erringung des allgemeinen gleichen Wahlrechts für die Reichslande eine neue starke Handhabe für den Kampf um das gleiche Wahlrecht in Preußen erblickte. Diese Handhabe kann aber unmöglich anders aufgefasst werden, denn als Ansporn und Agitationsmittel für uns selbst, um in den Massen wieder eine umfassende Bewegung für das preußische Wahlrecht zu entfachen. Dass die Tatsache der neuen Verfassung für Elsass-Lothringen und ihr Kontrast mit den preußischen Zuständen, dass die Inkonsequenz selbst, in die sich ein Bethmann-Hollweg damit verwickelt hat, etwa ohne weiteres einen Umschwung in der Situation Preußens herbeiführen, die Frage der Wahlrechtsreform aus der Versumpfung, in der sie steckt, herausreißen würde, das zu erhoffen, wäre eine echt freisinnige Politik der Selbstbelügung. Für die Sozialdemokratie kann nur der Standpunkt maßgebend sein, den schon der preußische Parteitag ausgesprochen hat: nicht durch irgendwelche parlamentarischen Mittel, durch den unmittelbaren Druck der Massen ganz allein kann das preußische Wahlrecht errungen werden. Wollte man also die elsaß-lothringische Reform für den preußischen Wahlrechtskampf ausnutzen, dann musste das neue Argument in die Massen getragen werden. Massenversammlungen, Massendemonstrationen in Preußen mussten der Annahme der reichsländischen Verfassungsreform auf dem Fuße folgen. Keine andere Deutung ließen auch die Äußerungen unseres Zentralorgans zu, als es am 27. Mai 1911 über die Annahme der Verfassung für Elsass schrieb:

Ein Olmütz des Wahlunrechts ist diese Abstimmung gewesen, und an den Entrechteten ist es, zu sorgen, dass der moralischen Wirkung bald der volle Sieg folge. Herr v. Bethmann Hollweg mag derselbe geblieben sein, der er war, als er voll Hass und Hohn gegen unsere Wahlrechtsforderung auftrat. Dieselben Reden wird er nicht mehr halten können, ohne das Hohngelächter der Welt herauszufordern.

Wir wissen, noch sind die Widerstände gewaltig, die zu beseitigen sind, um in Preußen-Deutschland des Volkes Willen zum obersten Gesetz werden zu lassen. Aber eine Position des Feindes ist genommen und die Kampfeslust neu belebt worden. Ein Schritt vorwärts ist getan, – ob klein oder groß, ihm müssen weitere folgen!"

Und als er drei Tage später unter der munteren Aufschrift „Vorwärts in Preußen!" also die Reveille schlug:

Jawohl, sie werden sich auf ein neues Aufflammen unserer Wahlrechtsbewegung einrichten müssen, und wir glauben, das Eisen wird geschmiedet werden, solange es heiß ist. Nicht auf parlamentarische Konstellationen rechnen wir dabei, wohl aber auf den festen entschlossenen Willen des preußischen Volkes. In ganz Süddeutschland herrscht das gleiche Recht, das Reichsland hat es bekommen, soll es uns allein denn noch länger versagt bleiben? Schier allzu lange haben die herrschenden Junker im Dreiklassenhause unsern Mahnruf nicht gehört. Es ist Zeit, sie daran zu erinnern, dass auch in Preußen der Stillstand ein Ende haben, dass vorwärts gegangen werden muss, Und deshalb:

Keine Ruhe in Preußen, bevor das gleiche Wahlrecht gewonnen ist!“

Was ist auf diese Kriegsdrommeten erfolgt? Gar nichts. Der lendenlahme „Aufruf" des Vorstands und der Fraktion, der zu nichts aufruft und ein Mittelding zwischen einem Leitartikel und einer Plauderei darstellt, das ist alles, was auf die mit Pauken und Trompeten angenommene reichsländische Verfassungsreform erstanden ist. Keine Versammlungen, keine Demonstrationen für das preußische Wahlrecht, obwohl die allgemeine Stimmung im Lande eine so stürmische und kampflustige ist, alle unsere Versammlungen so glänzend besucht sind, wie seit Jahren nicht. Man muss gestehen, dass, wenn der kreißende Berg nur dieses winzige Mäuslein in Gestalt des sogenannten „Aufrufs" vom 17. Juni 1911 geboren hat, dann ist es wirklich schade um die Reisekosten, die die jüngste preußische Landeskonferenz verursacht hat. Soll aber der preußische Wahlrechtskampf nicht ganz von der Tagesordnung des Parteilebens verschwinden, dann muss er in der Tagesordnung des Parteitages berücksichtigt werden. Die Gesamtpartei muss sich solange mit der Frage regelmäßig befassen, das Feuer des Kampfes immer weiter schüren, bis sie gelöst ist. Auch hier werden die Reichstagswahlen, eine so große Rolle das preußische Wahlrecht dabei spielen mag, nicht von selbst die Lösung bringen. Der Kampf der Massen um das preußische Wahlrecht wie alle anderen wichtigen und dauernden Interessen dürfen von der bevorstehenden Parlamentswahl nicht einfach verschlungen werden. Und deshalb ist eine Erweiterung und Ergänzung der Tagesordnung in Jena notwendig, die bis jetzt nur ein Interesse und eine Aufgabe der Sozialdemokratie kennt: die Reichstagswahlen.

1 Vgl. den Aufsatz: „Eine Revision", Gesammelte Werke, Band III, Seite 484.

2 Nach dem großen Wahlsieg von 1912 trat wirklich eine große Enttäuschung breiter Parteikreise ein, die sich im Stagnieren der Partei und Rückgang der Abonnentenziffern der Presse äußerte. Siehe Artikel: Taktische Fragen.

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