Rosa Luxemburg 19140523 Zum preußischen Wahlrechtskampf

Rosa Luxemburg: Zum preußischen Wahlrechtskampf

[Erschienen in der „Sozialdemokratischen Korrespondenz" am 23. Mai 1914. Nach Gesammelte Werke Band 4, 1928, S. 684-686]

Die Erklärung des Ministers des Innern im preußischen Abgeordnetenhaus, dass die Regierung an eine Wahlrechtsvorlage nicht im Traum mehr denke, stellt unsere Partei erneut vor eine ernste Alternative. Das glatte Nein, das nunmehr ohne Umschweife dem gebieterischen Ruf der Massen nach der Beseitigung der Dreiklassenschmach entgegengestellt worden, ist eine freche Provokation, ein der Arbeiterklasse hingeworfener Handschuh, und zugleich eine offizielle, endgültige Beglaubigung mehr, dass das allgemeine Wahlrecht in Preußen einzig und allein von der Straße und auf der Straße erobert werden kann. Die parlamentarische Aktion in dieser Richtung hat längst Bankrott gemacht, was bei dem Verrat des bürgerlichen Liberalismus gar nicht anders sein konnte. Die jetzige Position der Regierung zeigt, dass auf parlamentarischem Gebiete in der Wahlrechtssache nicht einmal Scheingefechte mehr zu gewärtigen, dass den Massen nicht einmal die leisesten Illusionen mehr erlaubt sind, als ob sie von irgendeiner Seite außer von sich selbst und der eigenen entschlossenen Aktion, eine Wendung der Dinge zu erwarten hätten.

Offizielle Erklärungen wie die Loebellsche sind politische Akte, die eine gebührende Antwort erheischen. Eine Millionenpartei, die unzählige Male verkündet hat, die Beseitigung des preußischen Dreiklassenwahlrechts sei eine ihrer vornehmsten und dringendsten politischen Aufgaben, sei ein Ziel, an das alle Kräfte und die äußersten Mittel gesetzt werden müssen, kann nicht gut schweigend eine Herausforderung hinnehmen, wie sie ihr wieder geworden ist. Im proletarischen Klassenkampf wie in jedem politischen Kampf ist Schlag auf Schlag die beste Taktik, worunter natürlich nicht etwa ein sinnloser Lufthieb, sondern der jeweilig passendste und wirksamste „Schlag" als Antwort gedacht werden muss.

Immerhin wäre in der heutigen Situation sogar ein weiteres abwartendes Schweigen, wie wir es schon in der preußischen Wahlrechtssache seit vier Jahren beobachten, etwa einem neuen Versuche mit halben Aktionen, die nach einigem Anlauf abgebrochen und an den Nagel gehängt werden sollten, entschieden vorzuziehen.

Freilich, gar so einfach und simplistisch, wie es der schrille Ruf nach dem Massenstreik will, der plötzlich in unserem Leipziger Organ ertönt ist, sind ernsthafte Massenaktionen nicht hervorzurufen. Es klingt sehr entschlossen, wenn man, wie der Leipziger Artikel, alle Versammlungen, selbst Straßendemonstrationen und Erörterungen über den Massenstreik ablehnt und nunmehr direkt zum Massenstreik in Preußen mahnt. Es wäre jedoch Zeit, dass man in unseren Reihen lernt, dass Massenstreiks nicht „gemacht", nicht plötzlich an einem schönen Morgen auf Kommando der Parteileitung und nach ihrem Taktstock wie eine militärische Parade aufgeführt werden. Selbst in einem Lande, wo der politische Massenstreik bereits zur vertrauten, vielfach erprobten Waffe geworden ist, wie Italien oder Russland, kann die Parole zum Massenstreik in jedem einzelnen Falle von der Partei nur dann mit Aussicht auf Erfolg ausgegeben werden, wenn die Massen durch irgendwelche politischen Ereignisse oder die wirtschaftliche Situation bereits in einen hohen Grad der Erregung und Kampflust gebracht worden sind. In Deutschland hingegen, wo die Massen bis jetzt durch die Parteidisziplin wie die Gewerkschaftsdisziplin hauptsächlich zum Abwarten erzogen und nur auf parlamentarische Wahlaktionen eingeübt sind, wo insbesondere die preußische Wahlrechtsbewegung seit Jahren im Stillstand verharrt, kann das Kampffeuer und der stürmische Elan, wie sie zu einer ersten ernsthaften Massenstreikbewegung unbedingt erforderlich wären, nicht von heute auf morgen künstlich durch das Machtwort der Parteileitung hervorgezaubert werden. Große Massenbewegungen haben ihre Psychologie und ihre Gesetze, mit denen ernsthafte Führer rechnen müssen.

Aber gerade diese Psychologie spricht auch dafür, dass es heute eher schädlich als nützlich wäre, wieder irgendwelche Schritte in der preußischen Wahlrechtssache zaghaft vorzunehmen, um auf halbem Wege stehen zu bleiben und baldigst wieder zur Tagesordnung überzugehen. Die Berliner Parteileitung hat die Losung zu Massenprotestversammlungen gegen die Erklärungen des preußischen Ministers ausgegeben, und es ist schon richtig, dass in der jetzigen Situation Massenversammlungen in ganz Preußen wohl als der erste Schritt geboten erscheinen, um die Massen zur Aktivität anzuspornen. Allein diese Versammlungen hätten nur dann wirklichen Zweck und Bedeutung, wenn sie als der Anfang und nicht etwa als das Ende der Aktion gedacht, wenn der Schwung, die Losungen, die ganze Tonart dieser Versammlungen von vornherein bewusst darauf angelegt wären, weitere, größere, sich mit der Stimmung der Massen steigernde Aktionen einzuleiten. Zugleich müsste die Losung zu einer energischen Kampfaktion in die Zahlabende, in die örtlichen Zusammenkünfte, in die Werkstätten und Betriebe hineingetragen, mit Ernst und Nachdruck bei jeder Gelegenheit in die Massen geworfen werden. Man kann nie im Voraus mit Sicherheit im Namen der Massen für einen bestimmten Fall bestimmte Aktionen in Aussicht stellen. Wozu aber eine Partei von unserer Größe verpflichtet ist, wenn sie einmal eine Aktion beginnt, das ist: ihr Möglichstes zu tun, um die Massen auf den Plan zu rufen und ihre Kampflust zu entfesseln. Die Schwierigkeiten dieser Aufgabe in der jetzigen Situation sind allerdings nicht zu unterschätzen. Nach den scharfen Kampfansagen, die unsere Partei bereits mehrmals in der preußischen Wahlrechtssache hat verlauten lassen, nachdem namentlich im Jahre 1910 die im schönsten Schwung gewesene Massenbewegung auf halbem Wege abkommandiert worden ist, dürfte es nicht ganz leicht sein, heute die Massen wieder auf die Beine zu bringen und ihnen den Glauben beizubringen, dass es uns mit den Drohungen einer stürmischen Volksbewegung wider das Dreiklassenparlament diesmal bitter ernst ist.

Jedenfalls aber dürfen wir die Massen zum Protest aufrufen nur, falls es uns selbst damit eben bitter ernst ist, falls wir bereit sind, soweit es an uns liegt, bis zu den äußersten Konsequenzen den Massen voranzuschreiten. Sollten hingegen Protestversammlungen jetzt die einzige schwächliche Scheinaktion bleiben, dann ist es entschieden besser, von ihnen Abstand zu nehmen. Die Autorität der Partei bei den Massen wie bei den Gegnern leidet mehr, wenn wir durch halbe Aktionen und papierne Resolutionen den irreführenden Eindruck unserer eigenen Unentschlossenheit hervorrufen, als wenn wir vorläufig weiter in Abwarten verharren. Die Ereignisse, die herausfordernde Stellung der Reaktion, die Bedrohung des Koalitionsrechts treiben mit Gewalt dahin, dass den Massen in Preußen früher oder später die Geduld reißen muss und sie beim ersten Anlass – mit oder ohne Initiative der Partei – mit einem heiligen Donnerwetter in die jetzige reaktionäre Misswirtschaft dreinfahren. Für eine Partei, die zur Führung großer Volksmassen historisch berufen ist, ist es freilich selten ratsam, sich von den elementaren Bewegungen der Massen überholen zu lassen. Doch ist es immerhin besser, dass wir jenes unvermeidliche Donnerwetter, wie bis jetzt, abwarten, als dass wir durch schwächliche Halbheiten die Massen entmutigen und so ihre Kampflust schwächen, anstatt sie zu steigern.

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