Rosa Luxemburg 19100819 Zur Richtigstellung

Rosa Luxemburg: Zur Richtigstellung1

[Erschienen in der „Neuen Zeit", am 19. August 1910. Nach Gesammelte Werke Band 4, 1928, S. 594-598]

Da ich in der Sache selbst nicht mehr in der „Neuen Zeit" zum Wort kommen kann, so bleibt mir nur übrig, eine Anschuldigung abzuwehren, die niemand auf sich sitzen lassen darf. Genosse Kautsky hat schon in der redaktionellen Fußnote in der Nr. 43 meine „Zitiermethoden" zu beleuchten versprochen, in seinem Artikel „Zwischen Baden und Luxemburg" spricht er direkt von „gefälschten" und „verdrehten" Zitaten, durch die ich ihm „Anschauungen unterschiebe", die er nie gehegt. Als Beweismaterial dafür führt Genosse Kautsky zwei Beispiele an.

Erstes Beispiel. Es bezieht sich auf das Zitat aus Engels über die Programmforderung der Republik. Genosse Kautsky schreibt:

Genossin Luxemburg behauptet, Engels verlangte die „Erörterung der Notwendigkeit einer Agitation für die ,Republik" in der Parteipresse, Sie beweist dies durch folgende Worte, die sie von ihm zitiert:

Zweitens Rekonstituierung Deutschlands, … Also einheitliche Republik… . Von allen diesen Sachen wird nicht viel ins Programm kommen dürfen."

Aber, heißt es dann weiter in dem Zitat, es sei notwendig, sich darüber zu verständigen, darüber zu debattieren.

Ich will davon absehen, dass hier nur von Verständigen, nicht von Agitieren die Rede ist. Auf jeden Fall muss man nach diesem Zitat annehmen, unter „allen diesen Sachen" verstehe Engels die Republik. Aber der Schein trügt. Diesen trügerischen Schein fabriziert Rosa Luxemburg dadurch, dass sie aus einem Absatz von ungefähr einer Druckseite, in dem „diese Sachen" erörtert werden, nur ein Wort, ein einziges Wort zitiert: einheitliche Republik! In Wirklichkeit erörtert Engels dort die Frage der Konstituierung Deutschlands, die Fragen der Kleinstaaterei, der Reservatrechte, des Partikularismus, worunter ihm als der gefährlichste der preußische erscheint, des Bundesstaats und Einheitsstaats. Letzteren müssten wir anstreben. „Für Deutschland wäre die föderalistische Verschweizerung ein enormer Rückschritt … also einheitliche Republik." Aber nicht nach französischem Muster. Kein Bürokratenstaat, sondern weitestgehende Selbstverwaltung der Provinzen und Gemeinden.

Das waren die Fragen, die zu diskutieren Engels für notwendig hielt, weil sie „von heute auf morgen brennend werden können, wenn wir sie nicht diskutiert und uns nicht darüber verständigt haben". Von alledem zitiert Genossin Luxemburg nur das in der Mitte des Absatzes stehende Wort: „Republik" und behauptet, unter „allen diesen Sachen" habe Engels die Republik verstanden. Das ist doch etwas – nun seien wir galant und sagen wir: kühn.

Mir wirft sie vor, ich hätte diese Stelle zu flüchtig gelesen, nicht „reiflich überlegt". Hat sie „reiflich" überlegt, ehe sie an ihre Zurichtung ging, dann um so schlimmer.

Der Gedanke, der Engels durch die Zurechtrichtung des Zitats von Genossin Luxemburg unterschoben wurde, lag ihm ganz fern. Im Jahre 1891, als er ihn niederschrieb, glänzten noch nicht die Quessel, Kolb und Frank am Parteihimmel, und es galt für selbstverständlich, dass jeder Sozialdemokrat Republikaner war. Es wäre Engels nie eingefallen, es zu betonen, dass wir uns über die Frage der Republik „verständigen" müssten. Wohl aber über die Fragen des Partikularismus und des Einheitsstaats.“

Es ist also klar: die „Zurechtrichtung" des Engelsschen Zitats durch mich soll darin bestehen, dass ich Engels die Ansicht imputierte, es sei notwendig, über die Republik sich zu verständigen, während Engels – wie Genosse Kautsky aufdeckt – lediglich die Verständigung über die Fragen des Partikularismus und des Einheitsstaates für nötig hielt. Über die Republik sich zu verständigen, dies lag ihm „ganz fern" und „wäre ihm nie eingefallen".

Diese Frage völlig und ausführlich klarzulegen, ist nicht bloß aus Rücksicht auf meine „Zitiermethoden" notwendig, sondern weil es hochwichtig ist, dass die Genossen genau erfahren, was Engels wirkliche Meinung war.

Wenden wir uns an den Artikel von Engels.

In der „Neuen Zeit", XX, 1, S. 9 ff. heißt es:

Die politischen Forderungen des Entwurfes haben einen großen Fehler. Das, was eigentlich gesagt werden soll, steht nicht drin. Wenn alle diese zehn Forderungen bewilligt wären, so hätten wir zwar diverse Mittel mehr, um die politische Hauptsache durchzusetzen, aber keineswegs die Hauptsache selbst… . Daran zu tasten ist aber gefährlich. Und dennoch muss so oder so die Sache angegriffen werden. Wie nötig das ist, beweist gerade jetzt der in einem großen Teile der sozialdemokratischen Presse einreißende Opportunismus. Aus Furcht vor einer Erneuerung des Sozialistengesetzes, aus der Erinnerung an allerlei unter der Herrschaft jenes Gesetzes gefallenen voreiligen Äußerungen soll jetzt auf einmal der gegenwärtige gesetzliche Zustand in Deutschland der Partei genügen können, alle ihre Forderungen auf friedlichem Wege durchzuführen… . Eine solche Politik kann nur die eigene Partei auf die Dauer irreführen. Man schickt allgemeine, abstrakte politische Fragen in den Vordergrund und verdeckt dadurch die nächsten konkreten Fragen, die Fragen, die bei den ersten großen Ereignissen, bei der ersten politischen Krise sich selbst auf die Tagesordnung setzen. Was kann dabei herauskommen, als dass die Partei plötzlich im entscheidenden Moment ratlos ist, dass über die entscheidendsten Punkte Unklarheit und Uneinigkeit herrscht, weil diese Punkte nie diskutiert worden sind, … Dies Vergessen der großen Hauptgesichtspunkte über den augenblicklichen Interessen des Tages, dies Ringen und Trachten nach dem Augenblickserfolg ohne Rücksicht auf die späteren Folgen, dies Preisgeben der Zukunft der Bewegung um der Gegenwart der Bewegung willen mag .ehrlich' gemeint sein, aber Opportunismus ist und bleibt es, und der .ehrliche' Opportunismus ist vielleicht der gefährlichste von allen. Welches sind nun diese kitzlichen, aber sehr wesentlichen Punkte?

Erstens. Wenn etwas feststeht, so ist es dies, dass unsere Partei und die Arbeiterklasse nur zur Herrschaft kommen kann unter der Form der demokratischen Republik."

Hier erfährt der Leser aus eigenem Munde von Engels, worauf es ihm ankam. Klipp und klar spricht er da von der künftigen Ratlosigkeit der Partei, von der Unklarheit und Uneinigkeit über die entscheidendsten Punkte, „weil diese Punkte nie diskutiert worden sind", stellt dann selbst die Frage: „Welches sind nun diese kitzlichen, aber sehr wesentlichen Punkte?" und beantwortet sie selbst: Erstens: die demokratische Republik. Dann folgt der von mir zitierte Passus über die Eventualität, „an der Republik sich allenfalls vorbeizudrücken" und die Form, wie sie im Programm wenigstens anzudeuten wäre; dann folgt „Zweitens. Die Rekonstituierung Deutschlands", wo Engels die Abschaffung der Kleinstaaterei, die Zertrümmerung der Vorherrschaft Preußens im Detail behandelt und zusammenfassend sagt: „Kleinstaaterei, spezifisches Preußentum sind die beiden Seiten des Gegensatzes, worin Deutschland jetzt gefangen liegt und wo immer die eine Seite der anderen als Entschuldigung und Existenzgrund dienen muss. Was soll an die Stelle treten? Nach meiner Ansicht kann das Proletariat nur die Form der einen und unteilbaren Republik gebrauchen. Die Föderativrepublik ist auf dem Riesengebiet der Vereinigten Staaten jetzt noch im Ganzen eine Notwendigkeit sie wäre ein Fortschritt in England sie ist in der kleinen Schweiz schon längst ein Hindernis geworden… . Für Deutschland wäre die föderalistische Verschweizerung. ein enormer Rückschritt." Dann folgen noch neun Druckzeilen, die dies im einzelnen ausführen, und darauf die Zusammenfassung : „Also einheitliche Republik."

Der Leser sieht: Engels stellt als jene „entscheidendsten" Punkte, über die diskutiert werden müsste, erstens, also in erster Linie, vor allem: die Forderung der Republik, zweitens, also in zweiter Linie: die Abschaffung der Kleinstaaterei und an ihrer Stelle die Forderung der einheitlichen Republik. Die zweite Forderung ist somit nur die Ausführung der ersteren im Detail. Es ist nicht eine andere Frage, sondern es ist dieselbe Frage der Republik, deren Ausführung im einzelnen: nicht die Föderativrepublik, sondern die einheitliche Republik, dem ersten Punkt zur natürlichen Ergänzung dient.

Ich habe demnach, als ich aus dem zweiten Punkte der Engelsschen Kritik die Worte „Also einheitliche Republik" zitierte, im genauesten Sinne Engels' Ausführungen wiedergegeben, indem ich die Äußerung ausführte, in der dieser selbst seine Ausführungen zusammenfasst, resümiert. Engels spricht „erstens" von der Republik, „zweitens" von der einheitlichen Republik, er spricht die ganze Zeit von der Forderung der Republik, die er im Detail ausführt und auf diese, auf nichts anderes bezieht sich die Äußerung, eine Verständigung, eine Diskussion in der Presse sei notwendig, auf diese, auf nichts anderes bezieht sich die Klage über den „ehrlichen Opportunismus", der diese „großen Hauptgesichtspunkte" vergisst und verdeckt.

An meinem Zitat ist also nicht zu deuteln und zu rütteln. Da kann keine Maus etwas davon abbeißen. Und wenn Genosse Kautsky angesichts der angeführten Worte von Engels erklären kann, „es lag ihm (Engels) fern", es „wäre ihm nicht eingefallen", über die Republik eine Verständigung für nötig zu halten, so – enthalte ich mich jedes Urteils darüber.

Zweites Beispiel. Ich hatte aus dem Artikel des Genossen Kautsky vom Jahre 1905 über den Bergarbeiterstreik einen Passus zitiert, in dem der „politische Streik" als die „neue gewerkschaftliche Taktik" proklamiert und der Massenstreik als die Vereinigung der politischen und ökonomischen Aktion gefeiert wird. Darauf sagt jetzt Genosse Kautsky:

In der Tat, welch ein theoretischer Hanswurst bin ich, solche Purzelbäume zu machen, dass ich einmal das „schönste Durcheinander" von Streiks zu politischen und von Streiks zu ökonomischen Zwecken predige und dann wieder ihre sorgfältige Trennung verlange.

Ich begreife das Entzücken der Genossin Luxemburg über meine Purzelbäume nach rückwärts. Es wirkte so überwältigend auf sie, dass sie es unterließ, auch nur ein einziges Sätzchen des „trefflichen" Artikels weiter zu lesen. Denn ich fahre dort unmittelbar nach dem zitierten Satze fort:

Dabei ist freilich der Streik um rein politische Machtfragen wohl zu unterscheiden von dem Streik, der die Gesetzgebung zu einer sozialpolitischen Tat drängen will. Jede dieser Streikarten erfordert eine andere Taktik, ist an andere Bedingungen geknüpft; bei dem einen wird die gewerkschaftliche, bei dem anderen die politische Leitung in den Vordergrund treten müssen; der eine ist eine Aktion, die sich des öfteren wiederholen kann, der andere bleibt ein letztes Auskunftsmittel verzweifelter Situationen; bei dem einen gilt es, die Regierung zu einer Tat zu drängen, bei dem anderen, die Regierung zu stürzen; der eine gelingt um so besser, je planmäßiger er vorbereitet ist, der andere um so eher, je spontaner er losbricht, Freund und Feind überraschend usw."

Das ist es, was ich 1905 in dem Artikel sagte, den Rosa Luxemburg jetzt gegen mich zitiert, um zu beweisen, dass ich im Gegensatz zu meiner jetzigen Haltung damals ebenso wie jetzt gegen die „pedantische" Unterscheidung der Streikarten und für ihr Durcheinander eintrat. In Wirklichkeit erklärte ich 1905 genau dasselbe wie jetzt. Den Schein des Gegenteils erreicht Rosa Luxemburg nur durch eine Prozedur von unglaublicher Keckheit.

Wenn es „unglaubliche Keckheit" sein soll, das Zitat aus einem fremden Artikel an unpassender Stelle abzubrechen, wie soll man es nennen, wenn ein Zitat aus dem eigenen Artikel an unpassender Stelle abgebrochen wird? Der Absatz ist nämlich mit dem „usw." in dem Artikel des Genossen Kautsky nicht zu Ende. Es folgt noch ein „Aber" und fünf Zeilen. Diese Zeilen haben folgenden Wortlaut:

Aber bei allen Unterschieden beider Streikarten, des politischen Streiks einer bestimmten Arbeiterkategorie, um eine soziale gesetzgeberische Reform durchzusetzen, und des politischen Streiks des ganzen empörten Proletariats, um ein feindseliges Regime zu stürzen oder einen Staatsstreich zu parieren – haben beide Streikarten das miteinander gemein, dass sie eine Vereinigung der politischen und gewerkschaftlichen Aktion darstellen."

Das heißt, Genosse Kautsky hebt zum Schlusse allen Unterscheidungen zwischen politischem und ökonomischem Streik gegenüber ihre Vereinigung hervor als die Hauptsache, als denjenigen Gesichtspunkt, auf den er den Nachdruck legt. Und dies ist gerade der Gesichtspunkt, den auch ich bei ihm durch die zitierte Stelle hervorhob, es ist genau dasselbe, was ich unterstrich, nochmals durch den Genossen Kautsky selbst unterstrichen. Also auch an diesem Zitat ist nicht zu deuteln und zu rütteln.

Dies sind aber die einzigen Beispiele, wo Genosse Kautsky seine schwere Anschuldigung überhaupt durch Beweise zu stützen versucht hat. Demnach ist auch seine summarische Behauptung über alle meine sonstigen Zitate, sie stimmen dem Sinne nach nicht, in dem ich sie gebrauche, vollkommen aus der Luft gegriffen.

1 Die Redaktion der „Neuen Zeit" versah den Aufsatz mit folgender Fußnote:

An demselben Tage, an dem uns die Genossin Luxemburg diesen Artikel sandte, veröffentlichte sie in der „Leipziger Volkszeitung" eine Beschwerde über uns, weil wir nicht alles veröffentlichen, was sie uns einsendet. Wir konstatieren demgegenüber, dass die Genossin Luxemburg in den Monaten Juni und Juli ein Fünftel des gesamten Raumes der „Neuen Zeit" mit ihren Einsendungen ausfüllte. Danach sich über Mundtotmachung zu beschweren, ist zum mindesten originell, namentlich dann, wenn man gleichzeitig den Raum dieser „intoleranten" Zeitschrift noch weiter in Anspruch nimmt. Die Redaktion.

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