Rosa Luxemburg 19000516 Das Aufsteigen des Arbeiterstandes in England

Rosa Luxemburg: Das Aufsteigen des Arbeiterstandes in England

[Erschienen in der „Leipziger Volkszeitung“ am 16., 18. und 22. Mai 1900. Nach Gesammelte Werke Band 4, 1928, S. 147-156]

I.

Über dieses Thema, dem in der letzten Zeit so viel Aufmerksamkeit in Deutschland zugewendet wird, ist wieder ein äußerst umfangreiches, man kann hier wohl mit Lassalle sagen: ein „schwergelehrtes" Buch erschienen.*

Die Nostitzsche Arbeit ist nicht eine genetische (die Entwicklung aufzeigende) Untersuchung über die innere Triebfeder und Tendenzen der sozialen Geschichte der englischen Arbeiterklasse in den letzten Jahrzehnten, sondern vielmehr eine kompilatorische (aus verschiedenen Werken zusammengetragene) Zusammenfassung der äußeren Tatsachen des sozialen Fortschritts. Demokratisierung des Verfassungsrechts und des Parlaments, Wandlungen in dem Bildungswesen, Gewerkschaften und ihre Geschichte, Hilfskassen, Produktiv- und Konsumgenossenschaften, Arbeiterschutz, Arbeitslöhne, Arbeitszeit, Arbeitsstreitigkeiten, Wohnungsfrage und Arbeitslosigkeit –, alle diese Kapitel werden der Reihe nach behandelt und mit Tatsachenmaterial belegt. Bei derartigen Werken spielt gewöhnlich der eigene Standpunkt des Verfassers eine geringe Rolle und nur die Gewissenhaftigkeit und das Geschick in der Zusammenstellung und Bearbeitung des Stoffes pflegt für die Bewertung der Arbeit maßgebend zu sein.

Es wäre deshalb von geringerem Belang, welche parteipolitische Stellung Nostitz einnimmt, wenn er nur über ein gewisses Mindestmaß an Verständnis für das Wesen und die wichtigsten Merkmale der modernen sozialen Entwicklung verfügte, die er sich von gewisser Seite zu beleuchten vorgenommen hat. Denn dieses ist selbst eine unumgängliche Voraussetzung der richtigen Darstellung des Tatsachenmaterials.

Es scheint deshalb minder wichtig, wenn der Verfasser z. B. über die materialistische Geschichtsauffassung seine kritischen Bemerkungen zum Besten gibt und dabei zur Illustrierung der Wirkung des „ideellen Faktors" in der Geschichte mit großem Ernst das alte, selbst von den Ammen der bürgerlichen Geschichtsschreibung bereits fallengelassene Märchen auftischt, wonach die Abschaffung der Sklaverei das Werk des Christentums sei. Freilich sollte selbst ein kgl. sächsischer Legationsrat bereits wissen, dass das Christentum an der Beseitigung der antiken Sklavereigräuel ebenso unschuldig ist, wie es heute an den heutigen Kolonialgräueln (siehe Kongo!) den geringsten Anstoß nimmt.

Jedoch könnten, wie gesagt, die geschichtsphilosophischen Ansichten des Verfassers dem Leser ziemlich gleichgültig sein, wenn sie nicht auch unmittelbar auf die Behandlung des Hauptthemas von Einfluss gewesen wären. Nostitz führt nämlich den in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts eingetretenen Aufschwung der englischen Arbeiterklasse hauptsächlich auf das Erwachen des Gewissens in den herrschenden Klassen, auf „jene ideellen Mächte des Guten, des Christentums, der Aufklärung" zurück, die „an den oberen Ständen arbeiten" (Seite 769).

Da er somit den inneren Zusammenhang zwischen dem Aufschwunge des englischen Proletariats und der Herrschaft der englischen Industrie auf dem Weltmarkt, ferner den Zusammenhang zwischen dem „sittlichen Erwachen" der oberen Stände Englands und dieser industriellen Herrschaft einerseits, sowie dem spezifischen parlamentarischen Schaukelsystem unter dem System des allgemeinen Wahlrechts andererseits verkennt, so hat er auch gar kein Verständnis für die Tatsache, dass seit etwa einem Jahrzehnt in diesen grundlegenden Verhältnissen Englands ein radikaler Umschwung sich vollzieht. Er bemerkt denn auch gar nicht, dass bereits der große Maschinenbauerausstand1 einen wichtigen Markstein und vielleicht schon den Anfang einer neuen Phase in der gewerkschaftlichen Entwicklung Englands bildet, sowie er ohne jedes Verständnis an der anderen wichtigen und höchst bezeichnenden Erscheinung vorbeigeht, dass das System der gleitenden Lohnlisten in England immer mehr in Misskredit gerät.

Ebenso wird die Behandlung des tatsächlichen Stoffes dadurch beeinträchtigt, dass Nostitz sogar über so grundlegende Erscheinungen des von ihm bearbeiteten Gebietes, wie Proletariat, wie Klassenkampf, die abenteuerlichsten Vorstellungen an den Tag legt. Das Proletariat ist ihm nicht etwa die zur Daseinsbedingung der kapitalistischen Produktionsweise gewordene und von ihr selbst mit naturgesetzlicher Notwendigkeit erzeugte Klasse der nichtbesitzenden Lohnarbeiter, sondern – die physische und geistige Entartung der Arbeiterschaft. „So zeigt sich", schreibt er auf Seite 14, „vom Ende des 18. bis gegen Mitte des 19. Jahrhunderts ein Arbeiterelend, wie es die Welt vielleicht noch nicht gesehen hatte: Hungerlöhne, überlange Arbeitszeit, ungenügende Werkstätten und Behausungen, Überanstrengung und Misshandlung namentlich von Kindern und Frauen, gewerbliche Krankheiten, Typhus, Schwindsucht, allenthalben geschwächte körperliche Tauglichkeit und Kraft, Zerstörung des Familienlebens, Mangel an jeder Erziehung und Bildung, tierischer Geschlechtsverkehr, unmäßiges Trinken, Verrohung und Verwilderung, stumpfsinnige Entmutigung oder gewalttätige Verzweiflung. Eine neue, mehrere Millionen mindestens umfassende Bevölkerungsschicht hat sich gebildet, deren Kennzeichen das traurigste aller, die Entartung ist: das Proletariat."

Dementsprechend findet Nostitz das Proletariat nur in den Anfangsstadien des Kapitalismus; mit seiner Entwicklung, mit der Hebung der Arbeiterklasse schwindet auch das Proletariat. „Der Lohnarbeiter hört auf, als solcher Proletarier zu sein", schreibt er auf S. 765. Und es handelt sich hier nicht bloß um einen falschen Sprachgebrauch: Nostitz vertritt die Ansicht, dass der Arbeiter mit seiner Hebung in England nach und nach zum Besitzenden wird, zur Bourgeoisie hinauf rückt. Diese Ansicht wirkt aber, wie wir weiter sehen werden, bei seiner Behandlung der statistischen Geschichte der Lohn- und Vermögensverhältnisse in hohem Maße mit, spielt also direkt in die stoffliche Bearbeitung des Themas hinein.

Nahe verwandt mit der Auffassung Nostitzens vom Proletariat ist seine Vorstellung von der Klassenherrschaft als dem Produkt des parlamentarischen Systems in England. Der Herr Legationsrat hat dabei den unfreiwilligen Humor, für das Aufkommen der Klassenherrschaft in England besonders das Fehlen des famosen „sozialen Königtums" nach preußischem Muster verantwortlich zu machen. „England hat nicht das Glück eines solchen Königtums." (S. 757.) Aber was das Königtum versäumt hatte, holt die später aufgekommene Demokratie nach: sie hebt in weiterer Folge die vom Parlamentarismus geschaffene Klassenherrschaft wieder auf (S. 764), und so sehen wir gegenwärtig in England das Bild eines gesegneten Landes, wo bei voller Entfaltung des Kapitalismus ebenso das Proletariat wie die Klassenherrschaft im raschen Schwinden begriffen sind.

Man sieht, die allgemeine Auffassung des Herrn von Nostitz von der gesellschaftlichen Entwicklung in England nähert sich sehr der Auffassung Bernsteins. Freilich mit dem Unterschied zugunsten der Nostitzschen Konsequenz, dass es ihm nicht einfällt, in dem Aufschwung der Arbeiterklasse innerhalb des Kapitalismus eine stückweise Verwirklichung des Sozialismus zu erblicken, und dass er ferner sehr wohl den politisch wie geistig rein bürgerlichen Charakter des typischen englischen Gewerkschafters erkennt und ihn auch drastisch hervorhebt (S. 776).

Inwiefern der Standpunkt des Verfassers die Behandlung des Tatsachenmaterials beeinflusst hat, werden wir im Folgenden sehen.

II.

In dem allgemein sozialen Aufstieg der englischen Arbeiterklasse, die Nostitz zu schildern versucht, spielt selbstverständlich die materielle Hebung ihrer Lage die wichtigste Rolle. Werfen wir einen Blick auf die Behandlung dieser Frage im Nostitzschen Buche.

Was vor allem den heutigen Stand und die Steigerung der Löhne in England betrifft, so gibt uns Nostitz mehrere Tabellen und Schätzungen, wovon wir die wichtigsten kurz aufführen wollen. Die erste ist von Giffen, der vor dem königlichen Ausschusse für die Arbeiterfrage die nachstehende Berechnung macht. Im Jahre 1885 fiel die ganze Masse der erwachsenen männlichen Arbeiter von Großbritannien und Irland in folgende Lohnklassen:

Weniger als 10 Schilling (Mark) die Woche

0,2 Prozent

10 bis 15 Schilling (Mark) die Woche

2,5 Prozent

15 bis 20 Schilling (Mark) die Woche

20,9 Prozent

20 bis 25 Schilling (Mark) die Woche

35,4 Prozent

25 bis 30 Schilling (Mark) die Woche

23,6 Prozent

30 bis 35 Schilling (Mark) die Woche

11,2 Prozent

35 bis 40 Schilling (Mark) die Woche

4,4 Prozent

über 40 Schilling (Mark) die Woche

1,8 Prozent

Hiernach verdienten fast ein Viertel weniger als 20 und 59 Prozent weniger als 25 Schilling die Woche. Es kommen aber noch weibliche und jugendliche Arbeiter hinzu, die gewöhnlich nur ein Drittel bis ein Viertel des männlichen Lohnes verdienen. Im Durchschnitt verdient nach Giffen der erwachsene Arbeiter 23 Schilling, jede Arbeitskraft ohne Unterschied 18 bis 19 Schilling, oder wie derselbe Giffen an einer anderen Stelle angibt, 16 Schilling wöchentlich. Aber auch dieses scheinen viel zu hoch berechnete Löhne zu sein. Nach den Angaben von gewiss nicht pessimistisch oder arbeiterfreundlich voreingenommener Seite, nämlich von dem Berichterstatter desselben königlichen Ausschusses, vor dem Giffen seine obigen Berechnungen machte, beliefen sich die durchschnittlichen Wochenlöhne in England: zwischen 1867 und 1870 auf 12 Schilling 3 Pence, zwischen 1879 und 1881 auf 13 Schilling 9 Pence und im Jahre 1892 auf 13 Schilling 5 Pence.

Es kommt nun darauf an, die allgemeine Bewegung der Löhne in dem letzten halben Jahrhundert festzustellen.

In Bezug auf die Bewegung der Löhne liegen mehrere weit auseinandergehende Berechnungen und Schätzungen vor. Giffen, der hier, wie sonst, in den rosigsten Farben die Verhältnisse schildert, gelangt schätzungsweise zu folgendem Ergebnis:


Zahl

Einkommen

pro Kopf

Arbeiterschaft um 1836:

9,0 Mill.

171 Mill. Pfd. Sterl.

19 Pfd. Sterl.

Arbeiterschaft um 1886:

13,2 Mill.

550 Mill. Pfd. Sterl.

412/3 Pfd. Sterl.

Die Steigerung des Durchschnitts würde demnach über 100 Prozent, d. h. mehr als eine Verdoppelung betragen! Derselbe Giffen sagt aber, wie Nostitz anführt, an einer anderen Stelle, die Löhne seien „für die meisten gelernten Gewerbe seit Mitte des 19. Jahrhunderts um 50 bis 100 Prozent, in Ausnahmefällen sogar um mehr als 100 Prozent gestiegen". Was uns hier also nur als Ausnahmefall, und zwar in den gelernten Gewerben, dargestellt wird, verwandelt sich im nächsten Augenblick in eine Regel bei den Durchschnittslöhnen, d. h. mit Einrechnung der ganzen Masse der einfachen Arbeiter, der Frauen und der jugendlichen Arbeiter! Diese in die Augen springenden Widersprüche verhindern aber Nostitz durchaus nicht, Giffen als seinen Kronzeugen jeden Augenblick zu zitieren und, wie wir noch weiter sehen werden, auf seinen Aussagen die weitest ausholenden „Betrachtungen" zu konstruieren.

Den beiden einander widersprechenden Schätzungen des königlichen Ausschusses gegenüber, wonach die durchschnittliche Lohnsteigerung seit den 60er bis 90er Jahren bloß etwa 8 Prozent ausmacht, steht andererseits eine Drage entnommene Tabelle des Statistikers Bowley, wonach die Löhne seit den 60er Jahren in folgender Weise gestiegen sind.

Wenn wir die Löhne des Jahres 1860 als 100 setzen, so stellen sich die Löhne in den späteren Jahren (wir geben die Tabelle nur im Auszug wieder):


1874

1877

1883

1891

Landwirtschaft

130

132

117

118

Baugewerbe

126

128

125

128

Baumwolle

148

148

146

176

Wolle

121

130

120

115

Textilindustrie insgesamt

141

141

140

160

Eisen

128

121

124

125

Maschinenbau

124

123

127

126

Gas

129

128

130

149

Seeleute

129

124

118

143

Bergbau

150

115

115

150

Nach dieser Tabelle beträgt die Lohnsteigerung in zehn wichtigsten Gewerben seit dem Jahre 1860 im Durchschnitt 39 Prozent, wobei sie am stärksten im Bergbau, in der Textil- und der Gasindustrie hervortritt. In der Landwirtschaft, in der Wollindustrie, in der Eisenindustrie bemerken wir dabei, dass die größte Steigerung in die 70er Jahre fällt, seitdem sehen wir wieder einen Rückgang der Löhne. Auch im Bergbau sind sie in den 90er Jahren erst nach anhaltendem starken Rückgang auf die Höhe der 70er Jahre hinauf gerückt.

Endlich in den letzten 10 bis 15 Jahren zeigen die Löhne, nach übereinstimmendem Zeugnis des Handelsamtes, des Arbeitsamtes, der einzelnen Statistiker, im Allgemeinen eine große Beständigkeit. Teils sind die Schwankungen, wie im Baugewerbe, in der Textil- und Bekleidungsindustrie, in der Buchdruckerei, überhaupt minimal, teils verändern sie auch dort, wo sie stark sind, wie im Bergbau, schließlich das Lohnniveau fast gar nicht.

Aus allen diesen verschiedenen Angaben sich ein klares Bild der Bewegung der Löhne in England zu machen, fällt sehr schwer. Vor allem fehlen in den angeführten Daten zweierlei sehr wichtige: die Entwicklung und der jetzige Umfang der Frauen- und Kinderarbeit, darüber gibt aber Nostitz keine statistischen Anhaltspunkte, ferner eine zuverlässige Statistik der Arbeitslosigkeit. Dies allein genügte, um allgemeine Schlüsse über die Lohnverhältnisse in ihrer Entwicklung unmöglich zu machen.

Nur zweierlei scheint mit ziemlicher Sicherheit aus dem widerspruchsvollen Material hervorzugehen: dass vor allem die Löhne im ersten Drittel des Jahrhunderts, das heißt in den Anfängen der großkapitalistischen Produktion, rapid und allgemein auf ein sehr tiefes Niveau heruntergegangen waren, was jenen materiellen und geistigen Verfall des Proletariats herbeiführte, dessen grauenhaftes Bild uns Engels in seiner Lage der arbeitenden Klassen gibt. Dann beginnt seit ungefähr Mitte des Jahrhunderts ein Aufstieg aus diesem Abgrund des Elends, der in den 70er und anfangs der 80er Jahre seinen Höhepunkt erreicht. Die meisten gelernten Gewerbe weisen dabei eine beträchtliche, in einzelnen Fällen sehr starke, die einfache Arbeit eine geringere Lohnsteigerung auf. Zugleich entwickelt sich aber stark die Frauen- und Kinderarbeit, die auf das allgemeine Lohnniveau herabdrückend wirkt. Seit den 80er Jahren wird die Bewegung immer langsamer, zum Teil steigen die Löhne noch weiter, zum Teil gehen sie etwas zurück, im Ganzen zeigen sie wenig Veränderung.

Das ist so ziemlich alles, was man mit gutem Gewissen aus dem von Nostitz gelieferten Material schließen kann. Im Abschnitt über die Arbeitslöhne spricht er sich auch in ähnlichem Sinne aus. Nicht so aber in seinen zusammenfassenden Betrachtungen. Hier tritt schon als Basis der Betrachtungen regelmäßig die Giffensche „Schätzung" auf, wonach die Gesamtheit der Löhne sich mehr als verdoppelt hat. Darauf wird das Räsonnement gestützt, dass die Arbeiterklasse in England viel stärker als alle anderen Volksklassen in ihrem Wohlstand gestiegen sei.

Noch ein Schritt, und uns wird als „überzeugend nachgewiesen" die Giffensche Berechnung aufgetischt, wonach die Arbeiter diejenigen seien, die überhaupt den ganzen Zuwachs des Reichtums in England seit Mitte des Jahrhunderts verschlungen und den armen Kapitalisten nicht ein Krümchen davon übrig gelassen haben!

Wie diese unschätzbaren „Schätzungen" Giffens-Nostitz' mit den Tatsachen übereinstimmen, bleibt zu zeigen.

III.

Während Nostitz bei der Darstellung der Lohnsteigerung der englischen Arbeiterschaft, wie gesagt, ein buntes und widerspruchsvolles Material zusammenwirft, lehnt er sich in der sozialen Einschätzung dieses materiellen Aufstiegs gänzlich an Giffen an, den er ganz kritiklos abschreibt.

Nach Giffen belief sich die Zahl der steuerpflichtigen Erbschaftsmassen im Jahre 1838 auf 25.000 im Gesamtbetrag von 55 Millionen Pfund Sterling und im Durchschnittsbetrag von 2160 Pfund Sterling; im Jahre 1882 aber auf 55.000 im Gesamtbetrag von 140 Millionen und im Durchschnittsbetrag von 2500 Pfund Sterling.

Ferner stieg, immer nach Giffen, das steuerpflichtige Einkommen aus Kapital von 188½ Millionen Pfund Sterling im Jahre 1843 auf 407 Millionen Pfund Sterling im Jahre 1881, hingegen das nicht steuerpflichtige Einkommen, d. h. das Einkommen des Arbeiters und des kleinen Bürgerstandes von etwa 235 Millionen Pfund Sterling im Jahre 1843 auf etwa 625 Millionen Pfund im Jahre 1885.

Hiernach", schreibt Giffen und nach ihm Nostitz, „hat sich trotz der ungeheuren Vermehrung des steuerpflichtigen Einkommens der Durchschnittsbetrag der einzelnen Erbschaftsmassen nicht merkbar vermehrt. Die Zahl der Erbschaftsmassen vermehrt sich stärker als doppelt und daher stärker als die Bevölkerung, aber die Vermehrung des Kapitals beträgt auf den Kopf der Kapitalistenklasse nur 15 Prozent." „Hieraus folgt," sagt Giffen zum Schluss seiner Betrachtungen über seine Schätzungen, „dass die arbeitenden Klassen in den letzten 50 Jahren keinen Verlust dadurch gehabt haben, dass sich das Kapital die Früchte ihrer Arbeit stärker angeeignet hat. Im Gegenteil hat das Einkommen aus Kapital höchstens gleichen Schritt mit der Vermehrung des Kapitals selbst gehalten, während diese letztere, auf den Kopf der Bevölkerung gerechnet, wie gesagt, sehr gering ist, so dass man zweifeln kann, ob das Einkommen des einzelnen Kapitalisten aus Kapital sich durchschnittlich überhaupt vermehrt hat …. Es muss daher ungefähr richtig sein, dass beinahe der ganze große materielle Aufschwung der letzten 50 Jahre den Massen zugute gekommen ist. Der Anteil des Kapitals selbst ist ein geringer."

So lautet der Schluss bei Nostitz, dass der ganze seit einem halben Jahrhundert in England angesammelte kapitalistische Riesenreichtum eigentlich von der Arbeiterklasse in ihren Löhnen absorbiert worden ist!

Wir wollen hier nicht die angeführte „Statistik" Giffens einer Kritik unterziehen, obwohl sie auf Schritt und Tritt den Eindruck nicht einer ernsten wissenschaftlichen Arbeit, sondern im höchsten Maße willkürlicher, leichtsinniger Konstruktionen macht. Wenn die Ermittlung der steuerpflichtigen Einkommen, wie Giffen sie liefert, bei der Organisation der englischen Einkommensteuer schon sehr zweifelhaften Wert hat, so erscheinen die Giffenschen Zahlen über nichtsteuerpflichtige Einkommen erst recht als problematische Größen. Aber uns liegt gegebenenfalls vor allen Dingen daran, die Operationen, die Giffen mit seinen statistischen Zahlen vornimmt und auf denen er seine sozialen Schlüsse basiert, ein wenig zu beleuchten.

Um den Anteil der Arbeiterklasse an dem gesellschaftlichen Reichtum Englands zu ermitteln, zieht Giffen in Betracht: das Wachstum der Kapitalistenmasse, des Kapitalisteneinkommens und der Kapitalistenzahl, andererseits das Wachstum der Masse der Arbeitslöhne und der Zahl der Arbeiter.

Das Einkommen der Arbeiterklasse hat sich seit 50 Jahren nach Giffen um 160 Prozent vermehrt (vorher hieß es bei demselben Giffen: um 100 Prozent, und noch einige Zeilen höher: 50 bis 100 Prozent im Durchschnitt!). Anders steht es um das Einkommen der Kapitalistenklasse. Die Kapitalsmasse hat sich freilich „ungeheuer", nämlich um mehr als 150 Prozent, vermehrt, aber erstens ist das Kapitaleinkommen nach Giffen im Ganzen nur um etwa 100 Prozent, zweitens die Zahl der Kapitalisten stärker als um 100 Prozent gewachsen. Auf diese Weise entfällt auf den Durchschnittskapitalisten nur ein Wachstum von etwa 15 Prozent Kapital und fast gar kein Wachstum des Kapitaleinkommens!

Die erste Schlussfolgerung, die durch ihre wunderbare Übereinstimmung mit den allbekannten und handgreiflichen Tatsachen des sozialen Lebens in England ein richtiges Licht auf den Wert der Giffenschen Berechnung wirft, ist, dass in England seit fünfzig Jahren so gut wie gar keine Konzentration des Kapitals stattgefunden haben soll!

Aber noch merkwürdiger ist der Schluss, den Giffen selbst aus seiner Berechnung folgert: da nämlich das Einkommen des Einzelkapitalisten nach ihm fast gar nicht gewachsen, der Lohn des Durchschnittsarbeiters aber (gleichfalls nach ihm) sich verdoppelt hat, so folgt daraus …, dass der ganze Reichtum dem Arbeiter zugute gekommen ist!

Das hier angewandte „statistische" Mittel ist so plump, dass es ohne weiteres in die Augen springt. Giffen ermittelt die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums durch Vergleichung des Wachstums des Einkommens eines Einzelkapitalisten mit dem Wachstum des Arbeitslohnes. Das Einkommen des Einzelkapitalisten ist aber eine rein mathematische Größe, die ebenso von der Masse des Kapitaleinkommens, wie von der Zahl der Kapitalisten abhängt. Nachdem Giffen erst die Kapitalisten wie die Kaninchen sich hat vermehren lassen, wird die Quote des Einzelkapitalisten an Einkommen natürlich als sehr gering gewachsen erscheinen.

Allein, Giffen sieht von der Kleinigkeit ab, dass die Zahl der Kapitalisten und die Quote eines jeden für die Arbeiterklasse in diesem Fall ganz gleichgültig ist. Es ist die Summe des Kapitaleinkommens, wie sie sich auch verteilen mag, die das arbeitslose Einkommen der Kapitalistenklasse darstellt. Ferner kommt nicht bloß das Kapitaleinkommen, sondern auch die Kapitalmasse in Betracht, und zwar auch als solche, ohne Rücksicht auf ihre Verteilung. Ob nämlich die Arbeiter mit einem bestimmten Quantum ihnen abgepresster, unbezahlter Arbeit nur wenige Kapitalkönige oder eine ganze Horde von kleinen Kapitalisten bereichert haben, bleibt für die Verteilung des Reichtums unter Klassen der Gesellschaft völlig belanglos.

Gemäß den Giffenschen Angaben selbst hat aber in den 50 Jahren nicht nur mehr als eine Verdoppelung des Kapitaleinkommens, sondern auch eine „ungeheure" Vermehrung des Kapitals – um mehr als 150 Prozent – stattgefunden, die offenbar nicht anders als durch Akkumulation der unbezahlten Arbeit zustande gekommen ist. Schon diese Korrektur der Giffenschen statistischen Operation zeigt seine Behauptung, „die arbeitenden Klassen hätten in den letzten 50 Jahren keinen Verlust dadurch gehabt, dass sich das Kapital die Früchte ihrer Arbeit stärker angeeignet habe", in rechtem Licht.

Das bloße Maß der Vermehrung des Kapitals sowie des Arbeitseinkommens besagt aber an sich noch nicht viel über den Anteil der Arbeiterklasse an dem nationalen Reichtum. Das Einkommen der Arbeiterklasse kann relativ stark gewachsen sein und trotzdem jetzt einen noch geringeren Teil des Gesamteinkommen der Nation darstellen als früher. Da aber Giffen nicht bloß den heutigen Anteil der Arbeiterklasse an dem Volkseinkommen, sondern ihren Anteil an dem ganzen materiellen Aufschwung des letzten halben Jahrhunderts betrachtet, so ist es angezeigt, das Volksvermögen in seiner Gesamtheit in Betracht zu ziehen.

Das Volksvermögen Englands betrug, um bei den eigenen Angaben Giffens zu bleiben, im Jahre 1878 etwa 8500 Millionen Pfund Sterling oder 251 Pfund auf den Kopf, das Einkommen der Arbeiterklasse um diese Zeit (immer nach Giffen) etwa 550 Millionen Pfund Sterling oder etwa 41 Pfund auf den Kopf. Dies ist nach Giffens Angaben das Verhältnis, von dem er sagt, dass die ganze ungeheure Vermehrung des Reichtums in England in den letzten 50 Jahren fast ausschließlich der Arbeitermasse zugute gekommen sei! …

An diesem einen, allerdings wichtigen Beispiel, sieht man, wie kritiklos und unzuverlässig Nostitz in seinen Schlussfolgerungen und Beleuchtungen des Tatsachenmaterials ist. Wo er nur im Buche allgemeine Linien der Entwicklung zu geben versucht, auch wo er einzelne Fragen zu beleuchten sucht, sind seine Ergebnisse durchweg irreführend und oberflächlich. Von Wert sind bei ihm nur die mannigfaltigen gesammelten Tatsachen. Auch diese sind aber, da von verschiedenstem Wert und ganz kritiklos zusammengewürfelt, nur mit größter Vorsicht zu gebrauchen.

* Das Aufsteigen des Arbeiterstandes in England. Ein Beitrag zur sozialen Geschichte der Gegenwart. Von Hans v. Nostitz, Legationsrat im königlich-sächsischen Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten. Jena. G. Fischer, 1900. 807 und XXIII. Seiten. Preis 18 Mark.

1 1897 Streik der gesamten englischen Maschinenbauer um den Achtstundentag. Sie unterlagen nach monatelangem erbitterten Kampf.

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