Rosa Luxemburg 19020429 Das eigene Kind

Rosa Luxemburg: Das eigene Kind

[Erschienen in der „Leipziger Volkszeitung" am 29. April 1902. Nach Gesammelte Werke Band 4, 1928, S. 157-159]

Wenn einmal die Akten über die Geschichte der kapitalistischen Gesellschaftsordnung geschlossen, alle ihre Verbrechen aber offen vor aller Augen liegen, und des endgültigen Urteils einer späteren Menschheit harren werden, wir glauben, am schwersten wird unter diesen Verbrechen vor dem Antlitz der Urteilsfinderin Geschichte die Misshandlung der proletarischen Kinder wiegen. Die Aussaugung der Lebenssäfte aus diesen wehrlosen Geschöpfen, die Vernichtung der Lebensfreude gleich an der Schwelle des Lebens, die Verzehrung der Saat der Menschheit schon auf den Halmen –, das ist mehr als alles, was die furchtbare Herrschaft des Kapitals an der Gegenwart sündigt, das sind auch noch Eingriffe mit mörderischer Hand in die Zukunft. Ich klage, rief Friedrich Engels in seinem klassischen Jugendwerk vom Jahre 1845, im Hinblick auf das Los der proletarischen Kinder, ich klage die Bourgeoisie geradezu des sozialen Mordes an!

Aber die Bourgeoisie, in England wie in Deutschland, wie überall kümmerte sich um solche öffentliche Anklagen, um solche Peitschenhiebe ins Gesicht sehr wenig. Die kapitalistische Ausbeutung der Kinderarbeit gedeiht und blüht bis auf heute, und am Eingang des zwanzigsten Jahrhunderts ist der Eingang der Bourgeoisie gegen die ersten Gebote der Menschlichkeit und der sozialen Pflicht gegen Kinder des arbeitenden Volkes ebenso hartnäckig, ebenso geschlossen, wie am Eingang des vorigen Jahrhunderts. Nur, dass es jetzt keine Leonhard Horners1 mehr gibt, die auf den eisernen Widerstand des Kapitals mit eisernen Hammerschlägen ungebeugter Energie und Ausdauer in der Durchführung der Schulgesetze antworten.

Und noch eins: jetzt gibt es eine moderne Hausindustrie, das Kapital hat jetzt ein pfiffiges Mittel erfunden, die proletarischen Kinder durch proletarische Eltern selbst ausbeuten zu lassen. Nach jahrzehntelangem Drängen der Sozialdemokratie macht endlich die deutsche Gesetzgebung den Anlauf zu einem ersten Schritt, um die Kinder auch vor der Ausbeutung der Hausindustrie zu schützen. Und wie sieht diese Frucht der höchsten sozialpolitischen Anstrengung der Regierung und der bürgerlichen Parteien aus? Dasselbe Flickwerk, dieselbe Heuchelei, dieselbe hohle Nuss wie die gesamte bisherige deutsche Sozialreform! Die Kritik unserer Fraktion im Reichstag hat es schonungslos aufgedeckt und das jüngste Kind der Posadowskyschen Sozialpolitik gleich bei seiner Geburt mit dem rechten Namen genannt.

Aber ein Charakterzug des Entwurfs über den Kinderschutz verdient ganz besondere Beachtung durch seine typische Bedeutung für alle bürgerliche Sozialpolitik. Das fremde Kind wird bei der gewerblichen Ausbeutung auf Schritt und Tritt stärker geschützt als das eigene Kind des Hausindustriellen und Gewerbetreibenden. So schwächlich, so lahm der Schutz für die ausgebeuteten Kinder überhaupt, der Schutz für die eigenen Kinder ist doch noch schwächer, noch nichtiger, noch heuchlerischer.

Wo fremde Kinder nur vom zwölften Lebensjahre gewerblich beschäftigt werden dürfen, wird die Ausbeutung der eigenen schon mit ihrem zehnten freigegeben. Wo für fremde Kinder die Arbeitszeit gesetzlich festgesetzt, ist sie für eigene unbeschränkt. Für fremde Kinder soll das Gesetz gleich nach seinem Inkrafttreten volle Geltung haben, für eigene wird seine Anwendung in jedem einzelnen Falle binnen fünf Jahren vom Gutdünken des Bundesrats abhängen. Fremden Kindern wird wenigstens ein freier Sonntag gesichert, eigenen nur in einzelnen Fällen.

Das eigene Kind! Die bürgerliche Gesetzgebung sucht nach Ausflüchten, um der freien kapitalistischen Ausbeutung in jedem Gesetz, in jeder beschränkenden Maßregel ein Hintertürchen zu lassen, sie sucht nach Vorwänden, und merkt gar nicht, wie blutigen Hohn sie mit sich selbst treibt, zu welch schreienden Paradoxen sie sich selbst versteigt.

Das eigene Kind! Haben wir nicht tausendmal gehört, dass die Familie –, die heutige, privatwirtschaftliche, zivilstandesamtlich gegründete, auf der Privaterziehung basierende Familie –, der Eckstein der bürgerlichen Ordnung ist? Haben wir es nicht gehört, dass diese Familie, wie das höchste Gut, wie der Thron und Altar, vor der frevelnden Hand der Sozialdemokratie gehütet, gerettet werden muss? Nun, wir wissen auch, dass die bürgerliche Gesellschaft auch hier, wie sonst, wenn sie nach uns hinhaut, nur sich selbst trifft. Nicht wir, sie selbst, ihre eigene Wirtschaft, ihr eigenes Treiben zerstört, untergräbt, zermalmt das heilige Institut der Familie. Nicht wir, sie selbst treibt die Familienmutter hinaus auf den Markt –, den Markt für Arbeitskräfte wie für Frauenleiber –, nicht wir, sie selbst reißt Kinder vom Familienherde und spannt sie an das Rad der Arbeit.

Aber nun der Widersinn des Widersinns, der Aberwitz, der sich selbst auf den Kopf stellt. Die bürgerliche Gesellschaft erschrickt vor ihrem eigenen Werk, sie greift nach Maßregeln, um die Früchte des eigenen Tuns abzuschaffen, die Kinder sollen geschützt und bei diesem Schutz selbst soll die Elterngewalt geachtet, die Elternliebe berücksichtigt werden. Und worin äußert sich das? In der größeren Ausbeutungsfreiheit der Eltern gegenüber eigenen Kindern als gegenüber fremden! Der eigene Familienherd soll dem proletarischen Kinde von Rechts wegen ein tieferer Kreis der kapitalistischen Hölle werden, als der fremde! Die eigenen Eltern sollen von Rechts wegen grausamere Peiniger werden als Fremde! Der eigene Familienschoß soll für das proletarische Kind von Rechts wegen längere Arbeit, größere Schutz- und Wehrlosigkeit vor der Qual des Früherwerbs bedeuten!

Das eigene Kind! Die weisen Vertreter der bürgerlichen Gesellschaft fühlten, merkten gar nicht, welchen Schlag sie ihren höchsten Gütern, der Familie, der Kinderliebe, dem häuslichen Herde, versetzten, indem sie den proletarischen Eltern erklärten: Zum Schutze eurer untergrabenen Elterngewalt, eures verwahrlosten Familienherdes können wir euch nichts anderes sichern, als die Freiheit, eure eigenen Kinder mehr für das heilige Kapital auszubeuten als fremde –, und den proletarischen Kindern: Zum Schutze eurer vernichteten Kindheit, eures zerstörten Familienlebens, eurer erschütterten Kindesliebe können wir euch nichts anderes gewähren, als die Möglichkeit, von euren eigenen Eltern rücksichtsloser an die Arbeit gekettet zu werden, als von Fremden.

Sie treibens, die sozialpolitischen Retter der bürgerlichen Heiligtümer, wie einer, der im Sumpfe steckt und sich aus ihm mit Verzweiflung herausarbeiten will: mit jeder Bewegung versinkt er nur noch tiefer und tiefer. Alles, was sie ausdenken, um die Zersetzungsarbeit ihrer furchtbaren Wirtschaft zu verlangsamen, zu verdecken, es trägt das Mal der kapitalistischen Zersetzung selbst an der Stirn.

1 Mutiger englischer Fabrikinspektor, dessen Berichte Marx Im „Kapital" mehrfach zitiert.

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