Rosa Luxemburg 19140210 Der gelbe Sklaventanz

Rosa Luxemburg: Der gelbe Sklaventanz

[Erschienen in der „Sozialdemokratischen Korrespondenz", 10. Februar 1914.Nach Gesammelte Werke Band 4, 1928, S. 173-175]

Das Unternehmertum und die bürgerliche Presse berauschen sich an den „beispiellosen Erfolgen" der gelben Organisationen. In der Tat! Welch rascher, plötzlicher Aufschwung in der jüngsten Zeit! Fallen auch die gelben Verbände neben dem mächtigen Bau der freien Gewerkschaften zahlenmäßig kaum ins Gewicht, – wer wird bestreiten, dass sie, für sich genommen, äußerst rasch gewachsen sind. Nur ist dieser „Aufschwung" nichts weniger als beispiellos, und die geschäftigen Agenten des Unternehmertums hatten Grund, nichts mehr mit diskretem Schweigen zu verhüllen, als gerade die Plötzlichkeit jenes Aufschwungs, – wenn sie überhaupt imstande wären, ihren berufsmäßig bloß auf die „Konjunktur" gerichteten, durch ordinäre Kapitalspraktiken des Alltags abgestumpften Blick zu erheben und auf die Vorgeschichte ihrer heutigen Methoden zu richten.

Die Versuche, aus den Opfern der Ausbeutung auch noch willige Werkzeuge zur Verewigung des Ausbeutungssystems selbst zu machen, die Unterdrückten begeisterte Anhänglichkeit für ihre eigene Unterdrückung mimen zu lassen, sind so alt und so mannigfach, wie die Formen der Ausbeutung und der Klassenherrschaft. Die ökonomische Macht ist von ihren Nutznießern seit jeher nicht bloß dazu benutzt worden, zur eigenen Bereicherung die Arbeitenden physisch wie eine Zitrone auszupressen, sondern sie auch moralisch zu zertreten, ihre Menschenwürde zu verhöhnen, ihre soziale Wehrlosigkeit zu missbrauchen, um sie an der Befestigung ihrer eigenen Ketten arbeiten zu lassen, um sie die Ketten mit Lust und Jauchzen klirren zu lassen.

Der alte Nettelbeck, der ein ebenso großer deutscher Patriot wie tüchtiger Sklavenhändler in den Gewässern des Atlantischen Ozeans war, erzählt von einer seiner Fahrten mit der schwarzen Ware im Jahre 1772: „Für die männlichen Sklaven sind ein paar besonders lustige und pfiffige Matrosen ausgewählt, welche die Bestimmung haben, für ihren munteren Zeitvertreib zu sorgen und sie durch allerlei gebrachte Spiele zu unterhalten. Spiel, Possen und Gelärm währen fort bis um drei Uhr nachmittags, wo Anstalten zu einer zweiten Mahlzeit gemacht werden, nur dass jetzt statt der Gerstengraupen große Saubohnen gekocht, zu einem dicken Brei gedrückt und mit Salz, Pfeffer und Palmöl gewürzt sind. Unmittelbar darauf wird die Trommel zum lustigen Tanze gerührt. Alles ist dann wie elektrisiert, das Entzücken spricht aus jedem Blicke, der ganze Körper gerät in Bewegung, und Verzückungen, Sprünge und Posituren kommen zum Vorschein, dass man ein losgelassenes Tollhaus vor sich zu sehen glaubt. Die Weiber und Mädchen sind indes doch die Versessensten auf dieses Vergnügen, und um die Lust zu vermehren, springen selbst der Kapitän, die Steuerleute und die Matrosen mit den leidlichsten von ihnen zu Zeiten herum, – sollte es auch nur der Eigennutz gebieten, damit die schwarze Ware desto frischer und munterer an ihrem Bestimmungsorte anlange."

Nach diesem einfachen Rezept verfahren auch die herrschenden Klassen im heutigen kapitalistischen Staate. Als in England die ersten Gesetze zur Einschränkung der Fabrikarbeit der Kinder angenommen wurden, gingen beim Parlament zahlreiche Petitionen proletarischer Eltern ein, worin diese inständigst baten, ihren Kleinen ja die Wohltat der zwölfstündigen Zuchthausarbeit in den verpesteten Fabrikräumen nicht zu rauben. Könnten doch einige freie Stunden am Tage, welche die Kinder auf der Straße verbringen würden, ihrem „Seelenheil" gefährlich werden. Es war die Peitsche des Kapitals, die hier Eltern zu mörderischen Antreibern ihrer eigenen Kinder machte. Als in den 80er Jahren in den hungernden russischen Dörfern noch die berühmten Eintreibungen der Steuerrückstände jedes Jahr stattfanden, endete die Prozedur gewöhnlich damit, dass auf Befehl der Beamten und unter ihrer Aufsicht die schuldigen Bauern abwechselnd einander an die Bank schnallen und mit Ruten durchpeitschen mussten. Heute spielen die gelben Gewerkschaften die Rolle der jauchzenden Sklaven, die unter Peitschengeknall des Kapitals einen tollen Tanz aufführen, sowie der geistig-leibeigenen russischen Bauern, die auf Befehl ihre eigenen Brüder züchtigen.

Aber damit ist ihre kurze Laufbahn in der Geschichte der heutigen Arbeiterbewegung im Voraus umzirkelt. Der heutige Gewerkschaftskampf, der alle Augenblicke gewaltige Kraftproben mit dem koalierten Kapital zu bestehen hat, der ohne hohen Idealismus und große Gesichtspunkte seinen Weg nicht finden kann, erfordert von seinen Soldaten einen viel höheren geistigen Zensus, als ehedem. Wer nur aus kleinlichem Eigennutz, um der Aussicht willen auf den klingenden Mammon der Unterstützung bei Arbeitslosigkeit oder der Lohnerhöhung in Reih und Glied getreten ist, wird leicht die Fahne verlassen, da in den heutigen schweren Zeiten die unersetzlichen Vorteile und die Siege der Gewerkschaften sich meist nicht in klingender Münze greifen und nicht am nächsten Tage überblicken lassen. Dazu kommt die niederschmetternde Gewalt der Krise, die die schwächsten Existenzen: alte, kranke, unter schweren Familienverhältnissen leidende Arbeiter dem Terror des Kapitals erbarmungslos preisgibt. So fällt alles, was morsch, brüchig und schwach war in den Gewerkschaften, heute von ihnen ab, um aus dem Abfall den gelben Schutzwall des Kapitals zu bilden.

Aber gerade die Plötzlichkeit seines Wachstums ist der sicherste Gradmesser seiner Kurzlebigkeit. Was auf geistiger Erkenntnis, auf innerer Überzeugung, auf freiem Entschluss der Arbeiterklasse beruht, reift langsam, schreitet zäh und bedächtig vorwärts. Jeder Fußbreit an Klassenkampfaufklärung und Organisation des modernen Proletariats ist in geduldigem hartem Ringen erkämpft worden. Das plötzliche Anschwellen der gelben Bewegung ist der beste Beweis, dass ihr Fundament nicht die innere dauerhafte Überzeugung ist, sondern, dass der Peitschenknall des Kapitals allein plötzlich die Bühne in einen „Ball" verwandelt, „Verzückungen, Sprünge und Posituren" hervorgezaubert hat, „dass man ein losgelassenes Tollhaus vor sich zu sehen glaubt".

Aber das geschichtliche Gesetz des Klassenkampfes lässt sich nicht vergewaltigen, noch als Mummenschanz narren. Hinter der grinsenden Fratze des Bajazzo guckt bald das bleiche Gesicht des gequälten Opfers hervor. Die Tanzbelustigungen auf den Sklavenschiffen hinderten nicht, dass gewaltige Sklavenaufstände unaufhörlich aufloderten, so lange das infame System dauerte, und manchen schwarzen „Ball" in Schreckensszenen wandelten. Der gepeitschte russische Bauer der 80er Jahre stand fünfzehn Jahre später im dichtesten Haufen der Revolution, rüttelte derb an den Pfeilern des Absolutismus und steckte seinen Herren den roten Hahn unters Dach. Auf die hurrapatriotischen Wahlen des Jahres 1907, in denen Tausende abhängiger Arbeiter, Angestellter, Kleinbürger durch den politischen Terror gezwungen waren, die Sozialdemokratie zu verraten, folgten mit eherner Logik die Wahlen 1912, wo uns das Vertrauen der Massen wie im leidenschaftlichen Sturm mit Zinseszinsen zurückgab, was es sich vorübergehend durch brutalen Druck gegen uns hat abtrotzen lassen. Ebenso wird sich die getretene Menschenwürde und Selbstachtung der armen Proletarier bald aufbäumen, die heute zum schlimmsten gemissbraucht werden, was einem Menschen zugemutet werden kann: zum Verrat am Befreiungskampf der eigenen Klasse. Mit derselben fatalen Naturnotwendigkeit, mit der in der kapitalistischen Gesellschaft auf die Zeiten der Krise in wenigen Jahren ein neuer Aufschwung des wirtschaftlichen Lebens folgt, muss auch auf die augenblickliche gelbe Flut unerbittlich die Ebbe folgen. Und je höher zurzeit die Erfolge dieser Organisationen vom Unternehmertum aufgepeitscht werden, um so rascher und gründlicher wird sich zeigen, dass die gelbe Bewegung nur eine vorübergehende kurze Schlammwelle ist, die freien, vom revolutionären Klassenkampf belebten, von den Idealen des Sozialismus durchleuchteten Gewerkschaften aber der dauernde Niederschlag, der befruchtende Schlick der Geschichte, in dem die Saaten der Zukunft aufgehen.

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