Rosa Luxemburg 19000122 Die Handelspolitik

Rosa Luxemburg: Die Handelspolitik

[Erschienen in der „Leipziger Volkszeitung" am 22. Januar 1900. Nach Gesammelte Werke Band 4, 1928, S. 136-139]

Seit einiger Zeit erscheinen auf dem Gebiete dieser gegenwärtig so aktuellen Frage zahlreiche neue Schriften, wie es auch aus Anlass der Zolltarifrevisionen Ende der 70er und Anfang der 90er Jahre der Fall war. Dass die schriftstellerischen Übungen über das Thema der Handelspolitik einen positiven Einfluss auf den Gang der zollpolitischen Verhandlungen Deutschlands haben würden, darüber werden sich wohl nur diejenigen Illusionen hingeben können, die den Gang der Dinge in diesen Fragen aus der früheren Geschichte der deutschen Handelspolitik nicht beobachtet haben.

Tatsächliche Machtverhältnisse der verschiedenen Interessengruppen, wirtschaftliche Parteien und augenblickliche politische Zusammenhänge der Handelspolitik entscheiden jedes Mal über den Ausgang der Zollrevision, und nicht sogenannte Vorbereitungsarbeiten, theoretische oder statistische. Diese spielen vielmehr nur insofern eine Rolle, als sie den von vornherein gegebenen Interessen zur Bekräftigung ihrer Argumentation dienen.

Einen klassischen Beleg hierfür bietet das Schicksal der beiden Produktionsenqueten zur Vorbereitung der Zolltarifrevision in Deutschland im Jahre 1878 und in Italien im Jahre 1885 und 1886. In Deutschland wurde die Erhebung bekanntlich mit der ganzen das Bismarcksche Regiment bezeichnenden brutalen Ungeniertheit ad usum der agrarischen hochschutzzöllnerischen Gelüste, in Italien mit der musterhaften kühlen Unbefangenheit einer wissenschaftlichen Untersuchung geführt. Gleichwohl haben sie in beiden Fällen das gleiche Resultat: den jähen Frontwechsel zur agrarischen Schutzzöllnerei, in Deutschland – indem man sich auf das zweckmäßig zurecht gestümperte Vorbereitungsmaterial stützte, in Italien – indem man sich einfach über die unbequemen Ergebnisse der Enquete hinwegsetzte und sie in den Korb warf.

Der Ausgang der bevorstehenden Revision der deutschen Handelsverträge hängt davon ab, inwiefern die Regierung es für möglich und für nötig halten wird, im Gespann agrarischer Interessen zu gehen, inwiefern der Reichstag vom Volke zu einer kräftigen Opposition gegen den agrarischen Druck angepeitscht wird. In diesem alten Kampf zwischen feudalen Ausbeutungsinteressen und den Lebensinteressen des arbeitenden Volkes spielen allerlei professorale und doktorale Räsonnements über die Handelspolitik ungefähr soviel mit wie das Miauen einer Katze bei einem Erdbeben.

Allein um so interessanter sind diese geistigen Produkte der deutschen Kathederwissenschaft als Symptome der tatsächlichen Machtverhältnisse, als unbewusste Bekenntnisse der Bourgeoisie, aus denen man, nach Entfernung des unvermeidlichen theoretischen Brimboriums, die Richtung und Stimmung gewisser Interessentengruppen, die bald in der Frage eine große Rolle spielen werden, ungefähr erkennen kann.

Ein solches Symptom von hohem Interesse ist die soeben erschienene kleine Schrift des Rostocker Professors Ehrenberg*. Der Verfasser, ehemaliger Sekretär der Handelskammer in Altona und eine Autorität auf dem Gebiete der Handelsgeschichte, muss zweifellos als Vertreter der fortschrittlichen, wirtschaftlich-liberalen Richtung unserer Bourgeoisie betrachtet werden. Seine theoretischen Ausführungen über die handelspolitische Entwicklung, die den ersten Teil der besprochenen Schrift füllen, atmen auch unbestreitbar den Geist einer modernen wirtschaftlichen Weltanschauung –, wenigstens auf den ersten Blick. Die Grundidee, die Ehrenberg zur Basis seiner handelspolitischen Ansichten machen wollte, ist die Entwicklungstendenz von der Volkswirtschaft zur Weltwirtschaft, von mehreren miteinander rivalisierenden Wirtschaftsverbänden zu einem auf natürlicher Arbeitsteilung basierenden einheitlichen Weltwirtschaftsmechanismus.

Diese vollkommen rationelle wissenschaftliche Auffassung steht aber offensichtlich von vornherein im Widerspruch mit einer rein bürgerlichen, in den Schranken der kapitalistischen Produktionsweise sich bewegenden Wirtschaftstheorie. Und so führt auch die höchst moderne Grundidee bei Ehrenberg zu – höchst unmodernen praktischen Schlussfolgerungen.

Als Aufgabe der Handelspolitik deduziert er nämlich aus seinem Ausgangspunkt: die Vereinigung der Interessen der Volkswirtschaft mit den Interessen der Weltwirtschaft, das heißt Pflege und Schutz nationaler Produktivkräfte zugleich mit internationalen Verkehrsinteressen. Als solche nationale schutzbedürftige „Produktivkräfte" erkennt er vor allem die deutsche Landwirtschaft.

Unser Getreidebau und unsere Tierzucht benutzen viel zu wichtige Produktivkräfte, als dass wir sie einer Krisis opfern dürften, die vielleicht lange, aber nicht ewig dauern kann. Um jene Produktivkräfte vor einem Verfalle zu bewahren, wie es in England bereits eingetreten ist, muss das deutsche Volk zeitweilig das Opfer höherer Lebensmittelpreise bringen."** Mit anderen Worten: um die spezifische ostelbische Junkerkultur mit all ihren herrlichen sozialpolitischen Folgeerscheinungen dem Vaterlande zu erhalten –, denn dies ist im Grunde genommen die „nationale Produktivkraft", die von der gegenwärtigen Agrarkrisis in ihrer Existenz bedroht ist –, muss dem arbeitenden Volke „zeitweilig" das Fell über die Ohren gezogen werden.

Übrigens findet Ehrenberg noch ebenso schutzbedürftiger „nationaler Produktivkräfte" die Hülle und Fülle in der Industrie. So große Zweige der Textilindustrie, z. B. die Streichgarnspinnerei und -weberei, der größte Teil der Baumwollindustrie, die Strumpfwirkerei, die Posamentenfabrikation, ansehnliche Teile der Seidenindustrie, ferner die Müllerei, die Zuckerindustrie und „eine Reihe anderer Industriezweige", in denen Ehrenberg immer diese oder jene „nationale Produktivkraft" des Schutzes würdig findet und der zu regelnden Handelspolitik zur Berücksichtigung empfiehlt.

Wo bleibt aber bei alledem „die Weltwirtschaft"? Auch hier weiß Ehrenberg Rat. Um bei der Pflege der aufgezählten „nationalen Produktivkräfte" zugleich die Interessen des internationalen Verkehrs zu berücksichtigen, schlägt er vor, zunächst durch autonome Zolltarifrevision die Zölle in allen aufgezählten Fällen, namentlich bei der agrarischen Produkten, über das wirkliche Bedürfnis zu erhöhen, um auf diese Weise ein Kompensationsobjekt für die abzuschließenden Handelsverträge zu gewinnen. Eine Idee, die ihm ebenso als Mann der Wissenschaft wie als Mann der Praxis alle Ehre macht und die an den Einfall jenes schlauen russischen Generalgouverneurs erinnert, der zur Zeit der Hungersnot den Bauern befahl, das Vieh mit Stroh zu füttern, es aber erst durch das Zusammenlagern mit dem Heu dessen Geruch übernehmen zu lassen.

Die Hoffnung, andere Handelsnationen durch ein so naives Scheinmanöver foppen zu können, scheidet als harmlose Phantasie aus der Betrachtung, bleibt dagegen als das einzige Reale in den handelspolitischen Plänen Ehrenbergs der Vorschlag, die Zölle auf agrarische und eine lange Reihe industrieller Produkte autonom und stark zu erhöhen.

So gelangen wir schließlich zu einem Programm, das Diederich Hahn und Bueck zwar ohne den „wissenschaftlichen" Aufputz, aber um so klarer und deutlicher längst mundgerecht zu machen suchen. Und es ist entschieden nicht ein Vorzug der Ehrenbergschen Schutzzollpläne, dass er nur aus dem Grunde gegen „einen übermäßig hohen festen Zoll auf Lebensmittel" ist, weil dieser „bei der ersten inländischen Missernte unter der allgemeinen Empörung zusammenbrechen würde und damit der ganze Agrarschutz schwer gefährdet wäre" …

Dass ein im ganzen auf modern-liberalem wirtschaftlichen Standpunkt stehender Mann ein solches Programm für die Handelspolitik Deutschlands entwickelt, ist für die heutige Strömung in dem Bürgertum sehr bezeichnend. Daraus, wie direkt aus dem Verhalten der Parteien in der Volksvertretung, ergibt sich immer wieder, dass in dem bevorstehenden Kampf um seine Lebensinteressen das arbeitende Volk sich nur auf eins verlassen kann: auf sich selbst, auf das eigene Machtwort.

* Handelspolitik, fünf Vorträge, gehalten im Verein für Volkswirtschaft und Gewerbe zu Frankfurt am Main, Jena, Gustav Fischer, 1900.

** l. c. Seite 65.

Kommentare